Anatole France
Thais
Anatole France

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Viertes Kapitel.

An dem Tage, da Paphnucius nach Alexandrien gekommen war, ruhte sich Thaïs wie gewöhnlich nach den Spielen in der Nymphengrotte aus. Sie suchte im Spiegel nach den ersten Zeichen des Verfalls ihrer Schönheit und dachte mit Schrecken, daß eine Zeit kommen werde, wo sie weiße Haare und Runzeln haben werde. Umsonst suchte sie sich zu beruhigen, indem sie sich sagte, daß es zur Auffrischung der Hautfarbe genüge, gewisse Kräuter unter dem Hersagen von Zaubersprüchen zu verbrennen. Eine unbarmherzige Stimme rief ihr zu: »Du wirst altern, Thaïs, du wirst altern!« Angstschweiß benetzte ihr die Stirne. Dann blickte sie noch einmal mit unendlicher Zärtlichkeit in den Spiegel und fand sich immer noch schön und liebenswert. Ihrem Bilde zulächelnd flüsterte sie: »Es gibt in Alexandrien kein Weib, das sich an Geschmeidigkeit der Hüften, Anmut der Bewegungen und Pracht der Arme mit mir messen könnte, und die Arme, o mein Spiegel, sind die wahren Liebesketten!«

Während sie so mit sich selbst sprach, erblickte sie plötzlich einen Unbekannten, der abgezehrt, mit glühenden Augen, schlecht gepflegtem Bart, aber in reichgesticktem Gewande vor ihr stand. Sie ließ den Spiegel fallen und stieß einen Schrei aus.

Paphnucius blieb unbeweglich stehen, und da er sah, wie groß ihre Schönheit in der Nähe war, sprach er innerlich folgendes Gebet:

»Mache, o Gott, daß das Gesicht dieses Weibes 94 deinen Knecht erbaue, statt ihm ein Ärgernis zu bereiten!«

Dann zwang er sich zu reden und sprach: »Thaïs, ich bewohne ein fernes Land, und der Ruf deiner Schönheit hat mich bis zu dir geführt. Man erzählt, daß du die geschickteste Schauspielerin und die unwiderstehlichste der Frauen seist. Was man von deinen Reichtümern und deinen Liebschaften sagt, klingt märchenhaft und erinnert an die Rhodopis der alten Zeit, deren wunderbare Geschichte alle Nilschiffer auswendig wissen. Darum hat mich der heiße Wunsch erfaßt, dich kennen zu lernen, und ich sehe, daß die Wirklichkeit meine Erwartungen übertrifft. Du bist tausendmal geschickter und schöner, als man sagt. Nun, da ich dich sehe, sage ich mir: ›Es ist nicht möglich, ihr zu nahen, ohne wie ein Trunkener zu taumeln.‹«

Diese Worte waren unwahr; aber von heiligem Eifer erfüllt, sprach sie der Mönch mit wahrer Begeisterung aus. Thaïs betrachtete nunmehr ohne Mißfallen das merkwürdige Wesen, das ihr Furcht eingeflößt hatte. Paphnucius setzte sie durch sein rauhes Äußere und durch das düstere Feuer, das in seinen Augen loderte, in Erstaunen. Sie war neugierig, den Stand und die Lebensweise eines Mannes kennen zu lernen, der so verschieden war von allen ihren bisherigen Bekanntschaften. Sie antwortete daher mit sanftem Spott:

»Du scheinst leicht zur Bewunderung geneigt zu sein, o Fremdling. Nimm dich in acht, daß dich meine 95 Blicke nicht bis auf die Knochen versengen! Hüte dich, mich zu lieben!«

Er antwortete:

»Ich liebe dich, o Thaïs, ich liebe dich mehr als mein Leben und mehr als mich selbst. Für dich habe ich meine geliebte Einsiedelei verlassen. Für dich haben meine dem Schweigen geweihten Lippen unreine Worte gesprochen. Für dich habe ich gesehen, was ich nicht hätte sehen, gehört, was ich nicht hätte hören sollen. Für dich hat sich meine Seele beunruhigt. Für dich hat sich mein Herz aufgetan und sind Gedanken daraus entsprossen, welche lebendigen Quellen gleichen, an denen die Tauben trinken. Für dich bin ich Tag und Nacht durch die von Larven und Vampyren bevölkerte Sandwüste gewandert. Für dich habe ich meinen nackten Fuß auf Vipern und Skorpionen gesetzt! Ja, ich liebe dich! Ich liebe dich nicht wie jene Männer, die, nur von Fleischeslust entbrannt, als reißende Wölfe oder wütende Stiere zu dir kommen. Ihnen bist du teuer, wie die Gazelle dem Löwen. Ihre blutdürstige Liebe verzehrt dich bis auf die Seele, o Weib! Ich dagegen liebe dich im Geist und in der Wahrheit, ich liebe dich in Gott und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Was ich für dich im Busen hege, das ist die wahre Begeisterung und göttliche Liebe. Ich verspreche dir etwas Besseres als blumengeschmückte Trunkenheit und die Träume einer kurzen Nacht. Ich verspreche dir heilige Liebesmahle und himmlische Hochzeitsfeste. Die Glückseligkeit, die ich dir bringe, wird nie enden; sie ist unerhört; sie ist unaussprechlich, sie ist derart, daß die Glücklichen dieser 96 Welt, wenn sie bloß einen Schatten von ihr erblicken könnten, sofort vor Erstaunen stürben.«

Thaïs antwortete mit schalkhaftem Lächeln:

»Mein Freund, laß mich doch eine so seltene Liebe sehen. Beeile dich! Allzu lange Reden wären eine Beleidigung meiner Schönheit, laß uns keinen Augenblick verlieren! Ich brenne vor Ungeduld, die Glückseligkeit kennen zu lernen, die du mir ankündigst. Wenn ich jedoch die Wahrheit sagen soll, so fürchte ich, daß sie mir immer unbekannt bleiben wird, und daß alles, was du mir versprichst, mit den Worten verschwinden wird. Es ist leichter, ein großes Glück zu versprechen, als es zu verleihen. Jeder besitzt sein besonderes Talent. Das deinige besteht wohl in der Beredsamkeit. Du sprichst von einer unbekannten Liebe. Da man sich aber schon seit undenklicher Zeit liebt und küßt, so wäre es wunderbar, wenn es noch Geheimnisse in der Liebe gäbe. Über diesen Gegenstand wissen die Liebenden besser Bescheid als die Magier.«

»Thaïs, spotte nicht! Ich bringe dir eine unbekannte Liebe.«

»Mein Freund, du kommst zu spät. Ich kenne alle Liebeskünste.«

»Die Liebe, die ich dir bringe, ist voll des Ruhmes, während die Liebeskünste, die du kennst, nur Schande bringen.«

Thaïs betrachtete ihn mit finsterem Blicke. Eine harte Falte durchfurchte ihre kleine Stirne:

»Du bist sehr kühn, Fremdling, daß du deine Wirtin beleidigst. Sieh mich an und sage, ob ich einem 97 schmachbeladenen Geschöpfe gleiche! Nein! ich lebe nicht in der Schande und ebensowenig alle andern Frauen, die wie ich leben, mögen sie auch weniger schön und reich sein als ich. Ich habe auf allen meinen Pfaden Liebesglück ausgestreut, und darum bin ich gefeiert in der ganzen Welt. Ich besitze mehr Macht als die Herren der Erde. Ich habe sie zu meinen Füßen gesehen. Sieh meine kleinen Füße an: Tausende von Menschen würden mit ihrem Blute das Glück bezahlen, sie zu küssen. Ich bin freilich nicht sehr groß und nehme auf der Erde nicht viel Raum ein. Wer mich von der Höhe des Serapeums herab auf der Straße gehen sieht, für den gleiche ich einem Reiskorn; aber dieses Reiskorn hat unter den Menschen Trauer, Verzweiflung, Haß und Verbrechen verursacht, genug, um den ganzen Tartarus zu füllen. Bist du nicht wahnsinnig, mir von Schande zu reden, da alles um mich her meinen Ruhm singt?«

»Was Ruhm ist in der Menschen Augen, ist Schmach vor Gott. O Weib, wir sind in so verschiedenen Gegenden genährt worden, daß es nicht wunderbar ist, wenn wir weder die gleiche Sprache noch die gleichen Gedanken haben. Aber trotzdem ist der Himmel mein Zeuge, daß ich mich mit dir einigen will und daß es meine feste Absicht ist, dich nicht eher zu verlassen, als bis unsere Gefühle die gleichen geworden sind. Wer wird mir flammende Reden eingeben, damit du vor meinem Atem schmilzest wie Wachs, o Weib, und damit die Finger meiner Wünsche dich nach ihrem Belieben nmformen können? Welche Kraft wird dich mir überliefern, teuerste der Seelen, damit der Geist 98 der mich belebt, dich zum zweiten Male erschaffe und dir eine neue Schönheit verleihe, auf daß du unter Freudentränen ausrufst: ›Erst heute bin ich wirklich geboren worden!‹ Wer wird aus meinem Herzen eine Siloah-Quelle hervorbrechen lassen, in deren Bade du deine ursprüngliche Reinheit wiedererlangen kannst? Wer wird mich in einen Jordan verwandeln, dessen Wasser, über dich ausgegossen, dir das ewige Leben geben wird?«

Thaïs zürnte nicht mehr.

›Dieser Mann‹, so dachte sie bei sich, ›spricht von ewigem Leben und alles, was er sagt, scheint auf einem Talisman geschrieben zu stehn. Er ist ganz gewiß ein Magier und besitzt geheime Mittel gegen das Alter und gegen den Tod.‹

Sie beschloß daher, ihm gnädig zu sein. Zu diesem Zwecke zog sie sich, Furcht heuchelnd, in das Innere der Grotte zurück, setzte sich auf den Rand des Ruhebettes, zog ihr Obergewand kunstvoll über die Brust und wartete mit gesenkten Blicken unbeweglich und stumm. Ihre langen Wimpern warfen einen zarten Schatten auf ihre Wangen. Ihre ganze Haltung drückte Schamhaftigkeit aus. Ihre nackten Füße schaukelten langsam. Sie glich einem Kinde, das, am Rande eines Baches sitzend, träumt.

Aber Paphnucius blickte sie an, ohne sich zu rühren. Seine zitternden Kniee wollten ihn nicht mehr tragen, die Zunge war ihm plötzlich im Munde getrocknet und ein entsetzlicher Sturm wütete in seinem Hirne. Plötzlich trübte sich ihm der Blick, und er sah nur noch 99 einen dichten Nebel vor sich. Er erkannte, daß sich die Hand Jesu auf seine Augen gelegt habe, um diese Frau vor ihm zu verbergen. Ermutigt durch einen solchen Beistand und neugestärkt, sagte er mit einem Ernst, welcher eines Ältesten der Wüste würdig gewesen wäre:

»Glaubst du denn, daß du, wenn du dich mir hingibst, vor Gott verborgen bleibst?«

Sie schüttelte den Kopf und sagte:

»Gott! Wer zwingt ihn denn, immer ein Auge auf die Nymphengrotte zu haben? Er kann sich ja abwenden, wenn wir ihm Anstoß erregen! Da er uns geschaffen hat, kann er übrigens weder betrübt noch überrascht sein, wenn er uns so sieht, wie er uns gemacht hat, und erkennt, daß wir gemäß der Natur handeln, die er uns gegeben hat. Man spricht viel zu viel in seinem Namen und schiebt ihm oft Gedanken unter, die er nie gehabt hat. Kennst du denn, o Fremdling, seinen wahren Willen so gut? Wer bist du, daß du in seinem Namen sprichst?«

Bei dieser Frage öffnete der Mönch sein geliehenes Prachtkleid, zeigte sein härenes Gewand und sagte:

»Ich bin Paphnucius, Abt von Antinoë, und komme aus der heiligen Wüste. Die Hand, die Abraham aus Chaldäa und Loth aus Sodom wegführte, hat mich von der Welt getrennt. Ich war für die Menschen nicht mehr am Leben. Aber dein Bild ist mir in meinem Jerusalem der Sandwüste erschienen, und ich habe erkannt, daß du voll Fäulnis bist und daß der Tod in dir wohnt. Und nun stehe ich vor dir, o Weib, wie vor einem Grabe und rufe dir zu: ›Thaïs, erhebe dich!‹«

100 Bei den Worten »Paphnucius«, »Abt«, »Sandwüste« war sie vor Entsetzen blaß geworden. Sie warf sich nun mit wirren Haaren und gefalteten Händen weinend und seufzend dem heiligen Manne zu Füßen und rief:

»Tue mir nichts zuleide! Warum bist du gekommen? Was willst du von mir? Tue mir nichts zu leide! Ich weiß, daß die Heiligen der Wüste die Frauen verabscheuen, die, wie ich, gemacht sind, um zu gefallen. Ich fürchte, du hassest mich und willst mir schaden. Oh, ich zweifle nicht an deiner Macht. Aber wisse, Paphnucius, daß du mich weder zu hassen noch zu verachten brauchst. Ich habe nie, wie so viele Männer, mit denen ich verkehre, deine freiwillige Armut verspottet. Rechne mir daher auch du meinen Reichtum nicht zum Verbrechen an. Ich bin schön und geschickt bei den Spielen. Ich habe meinen Beruf ebensowenig selbst gewählt wie meine Naturanlagen. Ich war einmal zu dem geschaffen, was ich tue. Ich bin dazu geboren, die Menschen zu bezaubern. Und du selbst sagtest noch eben, daß du mich liebest. Wende deine Wissenschaft nicht gegen mich an! Sprich keine Zauberformeln aus, welche meine Schönheit zerstören oder mich in eine Salzsäule verwandeln würden! Mach mir nicht mehr bange! ich bin vorhin schon nur zu sehr erschrocken. Laß mich nicht sterben! Ich fürchte den Tod so sehr.«

Er gab ihr ein Zeichen, daß sie sich erheben solle, und sagte:

»Beruhige dich, Kind! Ich werde nicht Schande und Verachtung auf dich häufen. Ich komme im 101 Namen dessen, der sich auf den Rand des Brunnens setzte, um aus dem Kruge zu trinken, den ihm die Samariterin bot, und der, als er im Hause Simons aß, die Salben der Maria von Magdala empfing. Ich habe oft die reiche Gnade, die Gott über mich ausgegossen, schlecht angewendet. Nicht der Zorn, sondern das Mitleid hat mich gleichsam bei der Hand genommen, um mich hierher zu führen. Ich habe dich, ohne zu lügen, mit Worten der Liebe anreden dürfen, denn mein Herz führt mich zu dir. Ich brenne vor barmherziger Liebe, und wenn deine Augen, die an das rohe Schauspiel des Irdischen gewöhnt sind, das wahre, verborgene Wesen der Dinge erblicken könnten, würde ich dir wie ein Zweig jenes brennenden Busches erscheinen, welchen der Herr einst auf dem Berge dem Moses gezeigt hat, um ihm die wahre Liebe zu erklären, die uns entflammt, ohne uns zu versengen, und die, statt Kohlen und leere Asche zurückzulassen, alles, was sie durchdringt, auf Ewigkeit mit Wohlgerüchen und Balsam erfüllt.«

»Mönch, ich glaube dir und fürchte mich nicht mehr vor deinen Zauberkünsten. Ich habe oft von den Einsiedlern der Thebaïs reden hören. Was man mir vom Leben des Antonius und des Paulus erzählt hat, ist wunderbar. Dein Name war mir nicht unbekannt. Man hat mir gesagt, daß du schon in jungen Jahren den ältesten Büßern an Tugend gleichest. Sobald ich dich erblickte, habe ich, ohne zu wissen, wer du seist, gefühlt, daß du kein gewöhnlicher Mensch bist. Sage mir, kannst du das für mich tun, was weder die Isispriester, noch die des Hermes, noch die der Juno 102 Cälestis, noch die Wahrsager Chaldäas, noch die babylonischen Magier vermocht haben? Mönch, kannst du, da du mich liebst, verhindern, daß ich sterben muß?«

»O Weib, der wird leben, der da leben will. Fliehe die schimpflichen Lüste, worin du für immer sterben würdest! Entreiß den bösen Geistern, die ihn furchtbar brennen würden, diesen Leib, den Gott mit seinem Speichel geknetet und mit seinem Odem belebt hat. Erschöpft vor Müdigkeit, komm und erquicke dich an den gesegneten Quellen der Einsamkeit! Komm und trinke an den in der Wüste verborgenen Quellen, die bis zum Himmel aufspringen! Geängstigte Seele, komm und besitze endlich, was du ersehnst! Freudedurstiges Herz, komm und genieße die wahren Freuden: die Armut, den Verzicht, das Selbstvergessen, das volle Aufgehen des ganzen Wesens im Schoße Gottes. Heute noch Feindin Christi und morgen seine Braut, komme zu ihm! Komm, die du suchtest, und du wirst sagen: »Ich habe die Liebe gefunden!«

Aber Thaïs schien an andere Dinge zu denken.

»Mönch,« fragte sie, »wenn ich auf meine Freuden verzichte und Buße tue, werde ich dann wirklich im Himmel mit unversehrtem Körper und in meiner ganzen Schönheit auferstehen?«

»Thaïs, ich bringe dir das ewige Leben. Glaube mir, denn es ist Wahrheit, was ich verkünde.«

»Und wer bürgt mir dafür, daß es Wahrheit sei?«

»David und die Propheten, die Schrift und die Wunder, deren Zeuge du sein wirst.«

103 »Mönch, ich möchte dir glauben, denn ich gestehe dir, daß ich das Glück in dieser Welt nicht gefunden habe. Mein Los war schöner als das einer Königin, und doch hat mir das Leben viel Leid und viel Bitternis gebracht, und heute bin ich seiner unendlich müde. Alle Frauen beneiden mein Geschick, ich aber beneide manchmal dasjenige der zahnlosen Alten, die, als ich noch klein war, unter einem der Stadttore Honigkuchen feilhielt. Ich habe schon oft gedacht, daß die Armen allein gut, glücklich und gesegnet seien und daß es eine große Seligkeit sein müsse, in Niedrigkeit und Demut zu leben. Mönch, du hast die Tiefen meiner Seele erregt, und was auf ihrem Grunde schlummerte, ist an die Oberfläche gestiegen. Wem soll man glauben? Was wird aus uns? Was ist das Leben?«

Während sie also sprach, änderte sich das Aussehen des Paphnucius. Himmelslust überstrahlte sein Gesicht.

»Höre mich an,« sagte er, »ich bin nicht allein in deine Wohnung getreten. Ein anderer begleitete mich, ein anderer, der hier zu meiner Seite steht. Ihn kannst du nicht sehen, weil deine Augen noch nicht würdig sind, ihn zu betrachten, aber bald wirst du ihn in seinem wonnigen Glanze erblicken und ausrufen: ›Er allein ist liebenswert!‹ Hätte er nicht vorhin seine sanfte Hand auf meine Augen gelegt, o Thaïs, so wäre ich vielleicht mit dir in Sünde verfallen, denn allein bin ich schwach und unsicher. Er aber hat uns beide gerettet. Er ist ebenso gut als mächtig, und sein Name ist Heiland. Er wurde der Welt durch David und die Sibylle verheißen, er wurde in der Wiege von den 104 Hirten und den Königen aus dem Morgenland angebetet, von den Pharisäern gekreuzigt, von den heiligen Frauen begraben, durch die Apostel der Welt offenbart, durch die Märtyrer bezeugt. Und heute, da er erfahren hat, daß du dich vor dem Tode fürchtest, o Weib, kommt er in dein Haus, um dir den Tod zu ersparen! Nicht wahr, mein Jesus, du erscheinst mir zu dieser Stunde, wie du den Männern aus Galiläa in jenen wunderbaren Tagen erschienest, da die Sterne, die mit dir vom Himmel kamen, der Erde so nahe waren, daß die unschuldigen Kindlein sie mit den Händen fassen konnten, wenn sie auf den Zinnen Bethlehems in den Armen ihrer Mütter spielten? Nicht wahr, mein Jesus, wir sind in deiner Gesellschaft, und du zeigst uns die Wirklichkeit deines kostbaren Körpers? Ist's nicht wahr, daß wir dein Gesicht sehen und daß die Träne, die über deine Wange fließt, eine wahre Träne ist? Gewiß, der Engel der ewigen Gerechtigkeit wird sie auffangen, und sie wird das Lösegeld für Thaïs' Seele sein. Nicht wahr, du bist da, mein Jesus? Mein Jesus, deine Lippen öffnen sich. Du willst sprechen. Sprich! ich höre. Und du, Thaïs, glückliche Thaïs! höre, was der Heiland selbst dir sagen will. Er spricht aus mir, nicht ich selbst. Er sagt: ›Ich habe dich lange gesucht, o mein verirrtes Lamm! Endlich finde ich dich! Fliehe nicht! Laß dich in meine Arme nehmen, und ich werde dich auf meinen Schultern bis zum himmlischen Stalle tragen. Komm, meine Thaïs, komm, meine Auserwählte, komm, weine mit mir!‹«

Mit verzückten Blicken fiel Paphnucius auf die 105 Kniee, und nun sah auch Thaïs auf dem Gesichte des frommen Mannes den Abglanz des lebendigen Jesus.

»O entschwundene Tage meiner Kindheit!« rief sie schluchzend aus. »O mein lieber Vater Achmes! guter, heiliger Theodor, warum bin ich nicht in deinem weißen Mantel gestorben, als du mich im ersten Tageslicht noch feucht vom Wasser der Taufe nach Hause trugest!«

Paphnucius eilte auf sie zu, indem er ausrief:

»Du bist getauft! . . . O Himmelsweisheit! O Vorsehung! O gütiger Gott! Nun erkenne ich die Macht, die mich zu dir zog. Nun weiß ich, was dich in meinen Augen so schön und so teuer erscheinen ließ. Die Kraft des Taufwassers zwang mich, den Schatten Gottes, worin ich lebte, zu verlassen, um dich in der vergifteten Luft der Erdenwelt aufzusuchen. Ein Tropfen jenes Wassers, welches deinen Körper reinigte, ist ohne Zweifel auf meine Stirne gefallen. Komm, meine Schwester, und empfange von deinem Bruder den Friedenskuß!«

Und der Mönch berührte mit den Lippen die Stirne der Buhlerin.

Dann schwieg er, um Gott reden zu lassen, und man hörte in der Nymphengrotte nur noch das Schluchzen der Thaïs und den Gesang der rauschenden Gewässer.

Sie weinte, ohne ihre Tränen zu trocknen, als zwei Negersklavinnen eintraten, welche mit Gewändern, Kränzen und Salben beladen waren.

Das brachte Thaïs auf andere Gedanken.

106 »Es war sehr unbedacht, zu weinen,« sagte sie, indem sie zu lächeln versuchte. »Die Tränen röten die Augen und zerstören die Hautfarbe. Ich werde heute abend bei einem meiner Freunde speisen, und ich will schön sein, denn es werden dort Frauen zugegen sein, die jede Erschlaffung meiner Züge erspähen. Diese Sklavinnen kommen mich anzukleiden. Ziehe dich zurück, mein Vater, und laß sie gewähren! Sie sind geschickt und wohlerfahren; ich habe sie auch teuer genug bezahlt. Sieh dir diese an, welche schwere Goldringe trägt und so weiße Zähne zeigt! Ich habe sie der Frau des Prokonsuls abgelistet.«

Paphnucius hatte zuerst die Absicht, sich mit aller Macht dem Besuch dieses Gastmahls zu widersetzen. Da er aber entschlossen war, mit Klugheit vorzugehn, fragte er, welche Leute Thaïs dort antreffen werde.

Sie antwortete, daß sie außer dem Gastgeber, dem alten Flottenpräfekten Cotta, Nikias und verschiedene andere streitlustige Philosophen, den Dichter Kallikrates, den Oberpriester des Serapis, einige reiche junge Leute, die sich vornehmlich mit Pferdedressur beschäftigen, und endlich einige Frauen antreffen werde, von denen man nichts sagen könne und die bloß den Vorteil der Jugend besäßen. Einer plötzlichen, übernatürlichen Eingebung gehorchend rief der Mönch aus:

»Geh hin zu ihnen, Thaïs! Gehe! Aber ich verlasse dich nicht. Ich werde mit dir zu diesem Gastmahle gehen und schweigend an deiner Seite bleiben.«

107 Sie brach in Gelächter aus. Und während die Sklavinnen sich um sie bemühten, rief sie:

»Was werden sie sagen, wenn sie sehen, daß ich einen Mönch der Thebaïs zum Geliebten habe?«



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