Anatole France
Thais
Anatole France

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Drittes Kapitel.

In Alexandrien empfing Thaïs neben vielen andern auch den Philosophen Nikias, der ihrer begehrte, obschon er dem Grundsatze des wunschlosen Lebens huldigte. Trotz seines Reichtums war er sanft und verständig. Er bezauberte sie jedoch weder durch seinen Geist noch durch die Anmut seiner Gefühle. Sie liebte 85 ihn nicht und ärgerte sich sogar gelegentlich über seine elegante Ironie. Er verletzte sie durch seinen beständigen Zweifel. Er glaubte eben an nichts, und sie glaubte an alles. Sie glaubte an die göttliche Vorsehung, an die Allmacht der bösen Geister, an das Los, an die Beschwörungen, an die ewige Gerechtigkeit. Sie glaubte an Jesum Christum und an die gute Göttin der Syrer; sie glaubte ferner, daß die Hündinnen bellen, wenn die finstere Hekate über einen Kreuzweg fährt, und daß eine Frau Liebe einflößt, wenn sie einen Liebestrank in einen von einem blutigen Lammfell umhüllten Becher gießt. Sie dürstete nach Unbekanntem; sie rief namenlose Wesen an und lebte in beständiger Erwartung. Sie fürchtete die Zukunft und wollte sie kennen lernen. Sie umgab sich mit Isispriestern, chaldäischen Magiern, Geheimmittelverkäufern und schwarzen Zauberern, die sie immer betrogen, deren sie jedoch nie müde wurde. Sie fürchtete sich vor dem Tode und sah ihn überall. Wenn sie sich der Wollust überließ, schien es ihr plötzlich, als ob ein eisiger Finger ihre nackte Schulter berührte, und gänzlich erbleichend schrie sie in den sie umfassenden Armen vor Schrecken auf.

Nikias sagte zu ihr:

»Mag es nun unser Geschick sein, in weißem Haar und mit eingefallenen Wangen in die ewige Nacht hinabzusteigen, oder mag der Tag, der jetzt am weiten Himmel lacht, schon unser letzter sein, was ist daran gelegen, o meine Thaïs! Laß uns das Leben genießen! Wir werden viel gelebt haben, wenn wir viel empfunden haben werden. Es gibt keinen andern Verstand, als den 86 der Sinne. Lieben heißt begreifen. Was wir nicht wissen, das ist nicht vorhanden. Warum sollen wir uns um ein Nichts quälen?«

Sie antwortete ihm zornig:

»Ich verachte die, welche, wie du, nichts hoffen und nichts fürchten. Ich will wissen! Ich will wissen!«

Um das Geheimnis des Lebens zu erfahren, fing sie an, die Bücher der Philosophen zu lesen, aber sie verstand sie nicht. Je weiter die Jahre ihrer Kindheit zurückwichen, um so lieber erinnerte sie sich an sie. Es machte ihr Vergnügen, des Abends die Plätze, Gassen und Gäßchen zu durchirren, wo sie im Elend aufgewachsen war. Sie bedauerte, ihre Eltern verloren zu haben, und vor allem, sie nicht haben lieben zu können. Wenn sie Christenpriestern begegnete, dachte sie an ihre Taufe und fühlte sich beunruhigt. Als sie eines Nachts, in einen langen Mantel gehüllt und ihr blondes Haar unter einer dunkeln Kappe versteckt, nach ihrer Gewohnheit die Vorstädte durchstreifte, fand sie sich plötzlich, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen, vor der ärmlichen Kirche Johannes des Täufers. Sie hörte im Innern singen und sah ein helles Licht sich durch die Ritzen der Türe stehlen. Es war das nichts Wunderbares, denn seit zwanzig Jahren feierten die Christen unter dem hohen Schutze des Besiegers des Maxentius ihren Gottesdienst öffentlich. Aber diese Gesänge bedeuteten einen feurigen Aufruf an die Seelen. Als ob sie zu den Mysterien eingeladen sei, stieß die Schauspielerin die angelehnte Türe auf und betrat das Haus. Sie fand darin eine zahlreiche 87 Versammlung von Frauen, Kindern und Greisen, welche vor einem an der Mauer liegenden Grabmale knieten. Dieses Grabmal war bloß ein steinerner Trog, an dem Trauben und Rebenblätter plump ausgehauen waren. Trotzdem hatte es große Ehren empfangen: es war mit grünen Palmen und Kränzen roter Rosen bedeckt. Ringsum durchbrachen zahllose Lichter das Dunkel, worin der Rauch des wohlriechenden arabischen Harzes aussah wie die wallenden Schleier von Engeln. Und längs den Mauern glaubte man Gestalten himmlischer Geister zu sehen. Weiß gekleidete Priester neigten sich zu Füßen des Sarkophags. Die Hymnen, welche sie mit dem Volke sangen, handelten von den Wonnen des Leidens und vermischten in begeisterter Trauer soviel Freudigkeit mit soviel Schmerz, daß Thaïs beim Anhören die Wollust des Lebens und den Schrecken des Todes gleichzeitig in ihre erneuerten Sinne einströmen fühlte.

Nachdem der Gesang beendigt war, erhoben sich die Gläubigen, um der Reihe nach das Grabmal zu küssen. Es waren einfache, an harte Arbeit gewöhnte Männer, wie man an ihren Händen sah. Sie traten schweren Schrittes, mit starrem Blicke, herabhängenden Lippen und mit unschuldiger Miene vor. Einer kniete nach dem andern vor dem Sarkophag hin und drückte seine Lippen darauf. Die Frauen nahmen die kleinen Kinder in die Arme und ließen sie ihre Wange sanft an den Stein anschmiegen.

Überrascht und ergriffen fragte Thaïs einen Tempeldiener, warum sie das täten.

88 »Weißt du nicht, Weib,« antwortete ihr der Tempeldiener, »daß wir heute den Gedenktag des heiligen Theodor des Nubiers begehen, der unter Kaiser Diocletian für den Glauben litt? Er lebte in Keuschheit und starb als Märtyrer. Darum tragen wir in weißen Gewändern rote Rosen auf sein berühmtes Grabmal.«

Als Thaïs diese Worte vernahm, fiel sie auf die Kniee und brach in Tränen aus. Die halb erloschene Erinnerung an Achmes lebte in ihrer Seele wieder auf. Auf diese dunkle, zugleich sanfte und schmerzliche Erinnerung warfen der Schein der Kerzen, der Duft der Rosen, die Weihrauchwolken, die Harmonie der Gesänge und die Frömmigkeit der Seelen den Abglanz des Ruhmes. Thaïs sagte sich in ihrer Ergriffenheit:

»Er war gut, und nun gilt er als groß und schön! Wie hat er sich über die andern Menschen emporgehoben? Was mag wohl jenes unbekannte Etwas sein, welches mehr wert ist als Reichtum und Sinnenlust?«

Sie erhob sich langsam, richtete ihre Veilchenaugen, in denen im Kerzenlicht Tränen schimmerten, auf das Grab des Heiligen, der sie geliebt hatte, und küßte endlich mit gesenktem Haupte, demütig und langsam, als die letzte den Stein des Sklaven mit ihren Lippen, welche soviel heiße Begier eingeflößt hatten.

Als sie nach Hause kam, fand sie Nikias vor, welcher sie mit gesalbtem Haare und in ungegürtetem Leibrock erwartete, indem er eine Abhandlung über Sittenlehre las. Er trat ihr mit offenen Armen entgegen.

»Böse Thaïs,« sagte er lächelnd, »weißt du, was 89 ich, während du so lange ausbliebst, in dieser vom ernsthaftesten aller Stoiker diktierten Schriftrolle sah? Tugendhafte Lehren und stolze Grundsätze? Nein! Auf dem strengen Papyrus sah ich tausend und aber tausend kleine Thaïs tanzen. Jede hatte die Höhe eines Fingers, und dennoch war ihre Anmut unendlich, und alle waren die einzige Thaïs. Einige schleppten Mäntel von Purpur und Gold, andere schwebten, wie eine weiße Wolke, unter durchsichtigen Schleiern in der Luft, wieder andere standen unbeweglich in göttlicher Nacktheit da, um die Sinne um so mehr zu entflammen, und drückten keinerlei Gedanken aus. Zwei von ihnen endlich hielten sich bei der Hand und glichen einander so sehr, daß es unmöglich war, eine von der anderen zu unterscheiden. Sie lächelten beide. Die eine sagte: ich bin die Liebe, die andere: ich bin der Tod.«

Indem er also sprach, preßte er Thaïs in seine Arme und knüpfte, da er ihren finstern, auf den Boden gehefteten Blick nicht sah, Gedanken an Gedanken, unbekümmert darum, daß sie verloren waren:

»Ja, als ich die Zeile unter den Augen hatte, wo geschrieben steht: ›Nichts soll dich davon abhalten, deine Seele zu bilden,‹ las ich: ›Die Küsse der Thaïs sind heißer als Feuer und süßer als Honig.‹ Siehst du, böses Kind, wie heute durch deine Schuld ein Philosoph die Bücher anderer Philosophen versteht? Wir alle freilich entdecken immer nur unsere eigenen Gedanken in den Gedanken anderer und lesen die Bücher ungefähr so, wie ich dieses hier gelesen habe . . .«

Sie hörte ihm nicht zu, denn ihr Geist war noch 90 beim Grabmal des Nubiers. Da er sie seufzen hörte, sagte er, sie auf den Nacken küssend:

»Sei nicht traurig, mein Kind. Man ist nur dann glücklich auf der Welt, wenn man die Welt vergißt. Wir kennen die geheimen Mittel dafür. Komm, laß uns das Leben betrügen: es wird es uns schon vergelten. Komm, wir wollen uns lieben!«

Aber sie stieß ihn zurück.

»Uns lieben!« rief sie bitter aus. »Du, du hast noch nie jemanden geliebt! Und ich liebe dich nicht! Nein, ich liebe dich nicht! Ich hasse dich! Geh fort! Ich hasse dich! Ich verabscheue und verachte alle Glücklichen und alle Reichen. Geh fort! Geh fort! . . . Wahre Güte gibt es nur bei den Unglücklichen. Als ich ein Kind war, kannte ich einen schwarzen Sklaven, der am Kreuze gestorben ist. Er war gut, voll Liebe und besaß das Geheimnis des Lebens. Du wärest nicht würdig, ihm die Füße zu waschen. Geh fort! Ich will dich nicht mehr sehen.«

Sie warf sich, als er gegangen, der ganzen Länge nach auf den Teppich und brachte die Nacht in Tränen zu, indem sie den Entschluß faßte, von nun an, wie der heilige Theodor, in Armut und Einfachheit zu leben.

Aber schon am folgenden Tage stürzte sie sich wieder in die Vergnügungen, denen sie geweiht war. Da sie wußte, daß ihre noch unversehrte Schönheit nicht mehr lange dauern werde, beeilte sie sich, möglichst viel Freude und Ruhm aus ihr zu ziehen. Auf der Bühne, wo sie sich größere Mühe gab als je, rief sie die Phantasie der Bildhauer, Maler und Dichter wach. 91 Gelehrte und Philosophen, welche in den Körperformen, Haltungen und Bewegungen und in dem Gange der Schauspielerin ein Abbild der die Welten lenkenden göttlichen Harmonie sahen, stellten eine so vollendete Anmut in die Reihe der Tugenden und sagten: »Auch Thaïs ist ein Geometer!« Die Unwissenden, die Armen, die Niedrigen, die Schüchternen, vor denen sie zu erscheinen geruhte, segneten sie dafür, wie für ein himmlisches Almosen. Aber dennoch blieb sie traurig inmitten der Lobsprüche und fürchtete sich mehr als je vor dem Tode. Nichts vermochte ihre Unruhe zu zerstreuen, nicht einmal ihr Haus und ihre Gärten, welche berühmt waren und über welche man in der Stadt Sprichwörter machte.

Sie hatte nämlich Bäume pflanzen lassen, die man mit großen Kosten aus Indien und Persien herbeigeschafft hatte. Ein heller Bach bewässerte sie, und halb zerfallene Säulengänge und wilde Felsblöcke, die ein geschickter Architekt künstlich hergestellt hatte, spiegelten sich in einem See, der von Standbildern umgeben war.

In der Mitte des Gartens erhob sich die Nymphengrotte, die ihren Namen drei großen weiblichen Figuren aus farbigem Wachs verdankte, die man gleich am Eingange sah. Diese Frauenfiguren entledigten sich ihrer Gewänder, um ein Bad zu nehmen. Sie sahen sich unruhig um, als ob sie fürchteten, gesehen zu werden, und schienen wie lebend. Das Licht drang in diese Höhle nur durch eine dünne Wasserfläche, welche es dämpfte und ihm die Farben des Regenbogens gab. An den Wänden hingen, wie in den heiligen Grotten, 92 überall Kränze, Gewinde und Tafeln mit Weihinschriften, worin die Schönheit der Thaïs gefeiert wurde. Es fanden sich dort auch bunt bemalte tragische und komische Masken und Gemälde, welche Theaterszenen, groteske Figuren oder Wundertiere darstellten. In der Mitte stand auf einer Säule ein kleiner elfenbeinerner Eros von herrlicher alter Arbeit. Es war ein Geschenk des Nikias. Eine Ziege aus schwarzem Marmor war in einer Nische sichtbar. Ihre Augen aus Achat funkelten. Sechs Zicklein aus Alabaster drängten sich um ihr Euter. Sie aber hob ihre gespaltenen Hufe und ihren spitzen Kopf und schien Lust zu haben, auf die Felsen zu klettern. Der Boden war mit Teppichen aus Byzanz, mit Kissen, welche die gelben Menschen von Cathay gestickt hatten, und mit Fellen lybischer Löwen belegt. Goldene Weihrauchbecken glommen im stillen. Hie und da erhoben sich blühende Perseazweige aus großen Onyx-Vasen. Ganz im Hintergrund in purpurfarbigem Schatten glänzten goldene Nägel auf der Schale einer indischen Riesenschildkröte, welche, umgewendet, der Schauspielerin als Ruhebett diente. Dort erwartete Thaïs täglich beim Murmeln der Gewässer, unter den Wohlgerüchen und den Blumen, lässig hingestreckt, die Stunde der Abendmahlzeit, indem sie mit ihren Freunden plauderte oder allein auf neue Theaterkünste sann oder an die Flucht der Jahre dachte. 93



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