Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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XI.

Die Blätter waren gefallen, die Wipfel durchsichtig, aber der Himmel war klar und es saß sich wohlig in der Sonne. Marie Gabriele wanderte mit dem kleinen Findling durch die raschelnden Wege. Peterchen war längst in seine Schule zurückgekehrt, zuerst hatte er ihr gefehlt, jetzt war es besser, ganz stumm durch immer neue Lieblichkeit zu gehen, den Dunst zu atmen, die Strahlen zu fühlen, die kostbar gewordenen, und unter dem allen den schlummernden, den nächsten Frühling. Denn hier war Spätherbst und erste Frühlingszeit einander fast gleich. Entstehen und Vergehen – es war alles gütig. Von Erde bist du genommen, o wie gut, daß man dereinst zu Erde wird; und die kleinen Toten des Waldes, die ohne Sarg, ohne Leichentuch im braunen Laub vermodern, dünkten sie beneidenswert.

Der Weg stieg sacht in die Höhe. An einer Biegung stand ein großes, vermoostes Kruzifix, davor eine Bank mit hoher Brüstung, auf der die Frauen ihre Holzlasten abstellen konnten. Unten lagen Wiesen und gegenüber andere Höhen, vom Blätterfall gelichtet; weithin breiteten sie sich, die Dörfer der Ebene ihnen zu Füßen oder angeschmiegt an ihre Knie, von zugänglichen Leuten bewohnt, die ohne harte Arbeit, aber durch intelligente Kultur von ihrem Feld, ihrem Stückchen Weinberg lebten.

Sie trat an den Wegrand. Der Abhang unter ihr war rot von Brombeergerank, die Sonne schlüpfte über die 181 leuchtenden Blätter, es summte etwas vorbei. Spätherbst, fast Winter, und doch welche Lindigkeit! Eine Zeitlang hatte sie sich ganz zerschlagen herumgeschleppt, die Bank, die Allee gemieden, wo sie mit Sylvie gesessen. Und es war wunderbar, welch ein Trost der kleine Junge und beinahe mehr noch der kleine Hund ihr gewesen. Vielleicht weil sie von ihrem Kummer nichts wußten, nichts verstanden, weil das Kind mit anderen Dingen beschäftigt war und das Tier nicht reden konnte; nur diese Welle der Zuneigung, die ihr entgegenkam, sie umspülte, ganz unverdient . . . So hielt sie ihr Herz fest, so klammerte sie sich an die kleinen, täglichen Pflichten, die Tage gingen dahin und nur manchmal kam's über sie, als müsse sie in Tränen ausbrechen bei dem Geruch der Herbstveilchen an verlassenen Gärten entlang, oder wenn die Sonnenwärme plötzlich ihre Hände streichelte.

Und gerade in diese Tage hinein kam die Nachricht von Wenckens raschem, einsamem Tode. Seine Stiefschwester, ein älteres Fräulein, das in einer märkischen Provinzstadt lebte und vor der Gabri eine an Aversion grenzende Scheu empfand, schickte die Anzeige mit ein paar begleitenden Worten. Ganz allein, in einem recht bescheidenen Gasthaus in Paris, wo er sich auf der Rückreise von England aufhalten wollte, um auch die Gotik von Notre Dame und Sainte Chapelle zu studieren, war er in wenig Tagen einer bösartigen Grippe erlegen. Und eine Woche später schickte Fräulein von Wencken, obgleich selber von streithaft lutherischer Gesinnung, einen abgenützten, schwarzen 182 Rosenkranz. Dieser sei ihr von Sœur Marie-Victoire nach eingeholter Erlaubnis der Würdigen Mutter, zugestellt worden; das Kreuz daran habe le mourant mehrmals, ehe er die Besinnung verlor, geküßt und dabei den Namen »Gabrielle« ausgesprochen; so bäte Sœur Marie-Victoire, den Rosenkranz der Dame zu übergeben, die diesen Namen trüge; es sei dies gewiß im Sinne des pauvre monsieur. Das alte, wie aus Holz geschnitzte, preußische Fräulein hatte den Auftrag der unbekannten französischen Nonne ausgeführt. Es lag auch ein auf Spitzenpapier zierlich gedrucktes Gebet bei, »pour le repos des âmes de nos chers défunts«. Fräulein von Wencken las diese, ihrem Glauben widerstreitende Fürbitte mit streng geschlossenen Lippen. Aber nachdem sie Rosenkranz und Gebet in eine Schachtel verpackt hatte, ging sie in ihren Garten, wo an einer sonnigen Stelle die letzten Herbstveilchen standen. Diese legte sie oben auf. Dabei floß ihr eine kleine, bittere Altweiberträne in den Mundwinkel. Dann trug sie das Ganze zur Post.

Marie Gabriele aber machte die erste Eintragung in das Geheimkonto: Liebe, die wir nicht erwiesen. Diese letzte Sendung hatte sie ganz umgeworfen. In Wenckens Tod lag für sie ein Stachel verborgen, und ein trauriges Grübeln ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Denn wenn sie ihn auch, wenn er gesund ins Zimmer getreten wäre, nicht viel anders empfangen hätte, als sie vor einem halben Jahr von ihm geschieden; jetzt, da er tot war, gewann er Gewalt, und alles Gute, das er an Arved getan, 183 alle Nachsicht, die er geübt, alle Dienste, die er ihr erwiesen, waren nun seine Waffen. O Zauberwort: Niemals wieder! Das nur die Dinge verklärt, die nicht mehr sind . . .

Der goldene Herbst war Spätherbst geworden, sie wollte so gern müde werden, denn es war schrecklich, die Nächte wach zu liegen. Nun atmete und sah und roch sie diese hier so reizvolle Jahreszeit, diese allerletzten, milden Tage, grad eh' es Winter wird. Armer Wencken! Nein, er war ihrem Leben nicht nötig gewesen, und wenn er heute irgendwo lebte, würde sie gewiß nur selten an ihn denken. Aber wie bitter war ihr nun diese Lieblichkeit der Erde, während er . . . dort im fremden Land . . . nichts mehr davon hatte. Und hatte doch auch noch junge Glieder gehabt, und wäre gern in den braunen Wäldern gegangen, oder über die Höhen, und hätte mit seinen scharfen hellen Augen hinausgesehen in den glitzernden Dunst . . . Und sie erkannte, daß das Schlimmste nicht ist, in Sehnsucht nach Einem zu vergehen, nein, daß es bitterer ist, um einen zu trauern, weil uns sein ungelebtes Leben weh tut. Noch war die Zeit nicht um, die alles abstumpfen würde; sie konnte noch immer nicht schlafen, und ein fortwährendes leises Fiebern hielt sie wach.

Frau von Alweyden, die sich das nicht nehmen ließ, saß an ihrem Bett, streichelte ihre Hand und erzählte alte Geschichten. Es war mitten in der Nacht.

»Sing vom Hündchen, Mama,« sagte Marie Gabriele und richtete sich auf. Sie hatte so große, strahlende Augen. 184

»Vom Hündchen?« sagte die Mutter. Sie schüttelte ihr die Kissen auf, eine Angst überkam sie, mein Gott, redete das arme Kind irre? »Willst du Mutzle, soll ich ihn holen?« fragte sie. Aber Gabriele schüttelte den Kopf: »Nein, sing vom Hündchen,« wiederholte sie eigensinnig, fast ärgerlich, weil die Mutter sie nicht verstand. Und plötzlich erinnerte sich Frau von Alweyden: Damals, als die beiden noch klein waren und irgendeine Kinderkrankheit zusammen absolvierten, hatte sie auch so die halben Nächte an ihren Betten gesessen und ihnen vorgesungen, und da war ein Lied, darüber weinten sie, aber sie verlangten es immer wieder, mit der seltsamen Vorliebe von Kindern für grausige oder wenigstens traurige Begebenheiten. Und nun sang sie es wieder, nach so vielen Jahren, leise, wie aus der Ferne her:

»Hündchen hat den Mann gebissen,
Hat des Bettlers Rock zerrissen,
Schlaf in guter Ruh,
Schlaf, mein Schatz bist du . . .«

Und sie sang wieder und wieder. Bis der Schlaf kam.

Der Schlaf kam und die Zeit ging. Die gute, barmherzige Zeit, die mit jedem Tag die Umrisse der Erinnerung verwischt, einen Nebel bildet, wo eine Kluft war, und die Wundränder sacht zusammenzieht. Sylvie, Felix, an sie dachte sie oft; oh, es war ein milderes Denken als wenn die Erinnerung an Wencken sie immer noch plötzlich überfiel. Arme Sylvie! Nun war sie dort in dem von ihr 185 so geliebten Lande! O möchten die Rosen an der Südmauer den ganzen Winter blühen, möchten nie mehr harte Winde das gepeinigte Antlitz berühren, möchten die Kunst und ihr eigener, lebendiger Geist sie hinaustragen über Schmerz und Bedrückung. Und er in seiner leisen, instinktiven Fürsorge das Begonnene zu Ende führen. Denn solches Liebeswerk durfte nichts Halbes bleiben, sonst war das Ende Friedlosigkeit. Ja, lieber Gott, und Wencken? Wenn er noch von ihr wußte, oh, er müßte ihr verzeihen, denn dann wußte er ja auch, wie sehr sie litt um ihn, wie sehr sie sich quälte . . .

Sie hatte mit geschlossenen Augen dagesessen, nun sah sie sich mit tiefem Atemholen um. O wenn es doch von ihr genommen würde, das dumpf Dröhnende. Sie streckte die Arme vor sich hin in die Luft und sah ihre Hände an, als seien es alte, zurückgekehrte Freunde. Sie hatten niemand etwas nehmen wollen, nur geben wollten sie, aber dem Einen hatten sie weh getan und der Andere hatte ihre Gabe nicht gewollt.

Gedrückt, verlegen, ja eigentlich fremd hatte er dort am Weg gestanden. Die Augen müde, die Lider schwer, die Züge etwas verschwommen. Wo war ihr grauer Fahnenträger? Ja, und das ruhelose Sehnen in ihrem Herzen, das sein Bild so manches Mal unerwartet, zuckend in ihr auferweckt hatte, wo war das hin? Und in einem ihrer Ehrlichkeitsblitze erkannte sie, daß sie es nicht vermißte. Noch einmal dehnte sie die Arme in die Luft und fühlte fast erschrocken: die Sprungfedern waren heil. Ob 186 sie auch mit Frösteln inne ward, daß wenn in der Überwindung Befreiung liegt, so auch Verlust.

Der kleine Hund, der am Abhang nach Igeln gespürt hatte, kam zurück, das Schnäuzchen voll Moos, das Fell voller Kletten.

»Komm,« sagte sie und kauerte sich in das warme, raschelnde Laub. Das Hündchen kuschelte sich wohlig an sie und stieß kleine Töne der Wonne aus.

»Mutzle,« sagte sie, »das war gut, daß wir uns fanden, das war ein Glückstag, trotz alledem!« Und sie legte die Wange an sein sonnenwarmes Fell.

Wie still war's hier oben. Eine Luftwelle kam aus dem Tal, mit dem Hauch feuchter Wiesen beladen. Und sie meinte, fast könnte es Frühling sein, die Brombeeren könnten blühen, die Tannen und Lärchen grüne Fingerchen ausstrecken. Bald, bald müßte auch der Kuckuck wieder rufen, geheimnisvoll, aus den Baumwipfeln jenseits des Tals.

 

Ende

 


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