Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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IV.

Die Försterei Eichenkamp lag mitten im Wald, am Rande einer Lichtung. Ein kleines, mit Schindeln gedecktes Jagdhaus. Seitwärts dahinter niederes Fachwerk, wo der Jäger wohnte, wo auch seine Kühe und Hühner untergebracht waren, rechts und links riesenhafte Eichen, von denen das Revier seinen Namen hatte; und wenn im Herbst die Eicheln fielen und die borstigen Schweine im Wald umherliefen, hatte das etwas wild Malerisches, wie in alten illustrierten Bibeln die Bilder vom verlorenen Sohn. Hinter dem Hause stieg das Gelände sanft aufwärts, dort gingen die Eichen in Föhren über, und oben ging der Blick frei hinaus über Moore und Wiesen, und der Abend malte Feuersbrünste über das ruhende Land. Dort stand von alters her eine Bank, und man konnte sich vorstellen, wie Menschen, die aus dieser Gegend stammten und in die Fremde mußten, herauf gekommen waren und hier gesessen hatten, um mit einem letzten Blick in die Weite das ganze zehrende Heimweh in sich einzuziehen, das sie dann jahrelang begleiten würde. 61

Das kleine Jagdhaus war alt. Sein geschweiftes Schindeldach bildete vorn einen Vorbau, der auf grauen Holzsäulen ruhte, dann aber kam man gleich und ohne Übergang in den einzigen, großen Wohnraum, und das war voller Reiz; denn wohl war er ganz primitiv mit seinem Gebälk und gehobelten Dielen; aber da stand Sylvies Bechstein, an der Erde lagen Felle und verblaßte Perserteppiche, und der Diwan und die einfachen Korbsessel schillerten von warmdunklen Seidenkissen. Schönes Messing leuchtete auf, wenn der Feuerschein es traf, und auf niedrigen Bücherborden an den Wänden entlang standen und lagen Bücher und Zeitschriften. Es war wie die seltsame Selbstverständlichkeit mancher Träume, wenn man abends aus dem Walde kam und schon in der Ferne Licht durch die Läden schimmern sah. Eigentlich hätte in dieser Wildnis eine kinderreiche Waldhüterfamilie hausen sollen, oder die Frau des Menschenfressers, die den kleinen Däumerling und seine Brüder bei sich versteckte; aber dann tat sich die Tür auf, da war Wärme und Duft von Blumen und Kaminfeuer, Marie Gabriele in ihrem weichen Abendkleid kauerte auf dem Fell davor und las, oder las auch nicht, Katz und Hund einträchtiglich neben ihr gelagert, und am Klavier begann Sylvie eben die große Chopinsche Fantasie, schwermütig rauschend. Auf den Tischen waren Waldblumen in schönen Gläsern und an der Erde große Töpfe voll Buchenlaub; das Holz am Kamin roch gut und harzig und der milde Rauch russischer Zigaretten verschmolz damit. Wenn Sylvie mit Spielen 62 innehielt, hörte man das Seufzen der großen Bäume. Dann wurde am Kamin, auf niederem Tischchen, zu Nacht gegessen – man aß von blauem, irdenem Geschirr, dazu glitzerte Glas und Silber und der Samowar brummte – er hieß Gogol und wurde als Familienmitglied behandelt. Ja, Mammina würde gesagt haben »Marquise de Carabas«; aber war's nicht vielmehr, als sei Aschenbrödels Frau Patin ins Jägerhaus gekommen und habe alles verzaubert? Und gewiß hätte sie im Notfall auch Kürbisse in Hofkutschen und grüne Eidechsen in Heiducken verwandeln können.

»Ich kann nie begreifen,« sagte Sylvie, »wie sich reiche Leute das Leben so schwer machen durch Besitz. Wenn ich das Hundertfache hätte, nie würde ich mir ein Haus mit entsetzlichen Prunkräumen und einer Masse gleichgültiger Dienstboten anschaffen – bezahlte Feinde, nannte sie Papa –, um darin jedes Jahr ein paar Wochen dieses kurzen Lebens abzusitzen. Oh, solche abgeschlossenen Zimmerfluchten, Kronleuchter in Musselinsäcken und verhungerte Wespen auf den Fenstersimsen – das ist der Moloch! Nein, Gabri, ein Häusel wie dieses, ohne alle Umstände, und dann . . . de la marge; denn die Hauptsache ist, zu wissen, daß man auch anders kann. Schlimmer als der Tod ist die Kette. Und sei auch du gewiß, daß du ganz frei bist, daß du gehen kannst wann du willst, ob dir's hier nun zu einsam wird oder du deinem Hauptvergnügen, den Gewissensbissen, anheimfällst.«

Gabriele hörte sie an, es wurde ihr kühl ums Herz; ach, wie viel schöner wär's, wenn Sylvie sagen würde: Kleines, 63 nie, nie darfst du wieder fortgehen! Aber die andere war von der Aufrichtigkeit und Weisheit ihrer Rede überzeugt. Sie wußte, daß sie auf junge enthusiastische Frauengemüter eine Macht ausübte, ganz absichtslos zumeist, wenn sie sich's auch manchmal nicht verbeißen konnte, wie jene Zauberer Rembrandt und Velasquez es so wohl verstanden, durch kleine Lichttupfen und Dämmertiefen, ihrem Bilde, wie es sich in gläubigen Augen spiegelte, einen letzten, verwirrenden Reiz zugeben. Sie hatte diese halb mütterlichen Flirtations fast immer zu einem guten Ende geführt; denn der kleine despotische Zug in ihrem Charakter äußerte sich auch in kluger Fürsorge für ihre Schützlinge. Und so lagen sie in ihren Erinnerungsfächern, wie bei einem Schmetterlingssammler, vielerlei, Leuchtende und Zarte, denen sie zu Erfolg und Ruhm, oder zu Beruf und zielbewußtem Leben, manchmal auch zu Brautstand und Häuslichkeit verholfen hatte; letzteres wohl meist mit dem Gefühl endgültigen Abschließens. Von solchen mit zerrissenen Flügeln waren nur wenige dabei, und sie gedachte ihrer so ungern, daß sie sie fast vergessen hatte. Fehlschläge hatten immer etwas Beschämendes, und die lächelnde insouciance, mit der sie mißglückten Experimenten begegnete, war doch nur künstlich. Um nun ihr Gewissen für künftige Fälle unbeschwert zu halten, betonte sie immer wieder die Freiheit, die jedem zustand, zu gehen oder zu bleiben. Wenn aber ein Geschöpf gleich einer namenlosen Geige, deren Süßigkeit und Fülle erst unter der Meisterhand ihren Ursprung verrät, sich 64 unter diese Hand drängt, »spiele, laß mich erklingen«, so ist das eine Sache, an der man sich schuldlos fühlen darf. Was ihr ein alter Freund einst ins Gastbuch schrieb: »Ici, c'est Libertyhall, tout le monde fait ce que Sylvie veut,« ja, darüber hatte sie wohl errötend gelacht; aber, dachte sie dann, wenn die Menschen es nicht anders haben wollen, ist es ihre eigene Wahl; ich hasse den Zwang; wenn aber andere ihn lieben . . . so geht mich's nichts an.

Dem Wohnraum schlossen sich die kleinen Schlafräume an. Eigentlich nur Verschläge. In jedem ein niederes Lager, mit einem gelben oder weinrotem Damast bedeckt; das sah schön und eigenartig aus zu den Wänden aus braun gebeiztem Holz. Bei Marie Gabriele hing eine Bellinische Madonna, die mit ihren großen, leidvollen Augen, einer zärtlichen Hirschkuh ähnlich, der gute Geist des Waldes schien; bei Sylvie das Bild einer sizilianischen Tempelruine und, eingerahmt, eine eigenhändige Notenschrift Beethovens. Manchmal sah Gabri, wie Sylvie rasch dorthin blickte mit plötzlich verdunkelten Augen: Oh, sie war zu spät geboren, dem hätte sie gedient! Jedenfalls bildete sie sich's ein; wer weiß aber, ob »Beethoven intime« nicht eine zu harte Prüfung gewesen wäre.

Ihre Tür bedeckte fast ganz eine große Karte von Italien. Darin gehe ich spazieren, sagte sie. Sie konnte mit sehnsüchtigen Augen davor stehen; ihr Herz hatte wohl nie so heiß um Menschen gebrannt als um Dinge. Dann suchte sie Photographien hervor und zeigte dem jungen Mädchen die kleinen Wunderorte, fern den vielbegangenen 65 Straßen, und erzählte, was sie dort gesehen, was sie dort gelesen: Von dem großen, einsamen Genius, der in den Marmorbrüchen seine schlafenden Götter erkannte, die dann, wenn sie unter seinem Meißel erstanden, die Gewalt und das Gleiten, das Aufbäumen und die Todesstille bewahrten jener steinernen Riesenmütter, in deren Leib sie gelegen. Sie zeigte ihr das Grabmal der jungen Edelfrau, die nicht Glück noch Stern gehabt, aber holdseligste Schönheit, und wie eine gebrochene Narzisse abseits die Jahrhunderte durchschläft und lächelt, als sei ihr Schlaf nur eine kleine List. Da waren auch Bilder alter, fürstlicher Landhäuser, die gleich verlassenen Königsgeliebten, traurig und verwahrlost, eine Süßigkeit ausströmen, die sie in den Tagen ihrer Pracht nicht besaßen . . . Ach, wie gering daneben erschienen Marie Gabriele die halb verwischten Bilder, die sie von jenem Lande bewahrte; denn als halbes Kind war sie dort gewesen, und im Traum ging sie noch manches Mal enge Wege zwischen Mauern, über denen Schwertlilien und Olivenwipfel ragten. Aber sie hatte doch nur weniges gesehen und so schwieg sie, halb beschämt, halb eifersüchtig auf die Erinnerungen, die bisher ihr Schatz gewesen.

Sie lasen neue Bücher; da war so vieles, was den Geist erregte, Fragen, deren Lösung ins Weite griff und ganze Völker bewegte, und andere, die sich einbohrten ins eigene Innere, die einen verfolgen konnten mit ihrer Hartnäckigkeit. Ja, wenn man da anfing, zu denken und zu spinnen, war's, als bekäme man eine Brille aufgesetzt und sähe 66 auf einmal Fugen und Ritzen, wo vordem eine glatte Wand war.

Sylvie ging furchtlos die neuesten Wege des Denkens, durch mühsame Windungen, immer der Klarheit nach; denn alles Ungefähr, alles Verschwommene empfand sie als Feind. Aber ihr Geschmack wandte sich zurück, zum Vergangenen, zum Auserlesenen. »Wir Menschen sind aus Widersprüchen gemacht,« sagte sie, »man muß sich selber zuschauen und gewähren lassen, sonst verliert man den Verstand. Wir wollen dabei sein, wenn neue Lehren aufflammen, wenn Throne gestürzt werden, auf denen sich's die Gedanken allzulange bequem sein ließen; aber die Bilderstürmer trauern um ein zertrümmertes Altärchen, und über die gefällten Eichen unserer heidnischen Väter weinen wir vor Zorn. Was hilft alles Denken! Schließlich sind wir doch nur wie Fische in Glasbehältern; immer meinen wir, wir können hindurch, aber da ist eine Wand, da stoßen wir an und werden sie niemals durchbrechen.«

Für den Abend hatte sich Gabri ein besonderes Bücherfach auserwählt. Dort standen alte und neue Russen, und das war wieder ein anderes Wunderland. Die las sie, vor dem Feuer gekauert, während Sylvie Chopin und Schumann spielte: Turgenjew und den viel späteren Tschechow, mit ihrer leisen, fast spielenden Art, Herzzerreißendes zu sagen, ihrer stillen, oft so bitteren Komik; und all die anderen, geborene Erzähler, die ohne Umstände, ohne jede Pose, ihr Thema anpacken und hineindringen, als sei das die einfachste Sache der Welt; deren erschütternde Natürlichkeit 67 ihr Riesenkönnen in sich verschluckt, und, ihnen allen gemeinsam, das Mitschwingen, das geheimnisvolle Einssein mit allem was da lebt, ob es nun ein alter, versoffener Vagabund ist, von dem sie erzählen, oder eine Menschenseele, wund und weinend in hilflosem Mitgefühl, ein verirrtes Tier oder ein Streifen Sumpfland, über dem die Schnepfen ziehen.

Als es dann wärmer wurde, war es abends schön, vor dem Hause zu sitzen, in die Frühlingsdämmerung zu sehen und die Waldgeräusche zu hören, Dinge, die zur Ruhe gingen, und andere, die erwachten. Dann ging ein Knarren durch die alten Stämme, allerhand huschte und schlüpfte und der Tau sank. So hatten sie auch heut gesessen, und der Mond war gekommen und hatte die Wiese silbern gemacht.

Sylvie stand zuerst auf, sie zog ihren weiten Mantel dichter um sich; es war kühl geworden. Im Vorübergehen steckte sie ihre schöne, große Hand unter Gabris zurückgelehnten Kopf. Die lag wie gebannt; die Augen voll Glück und Sternenlicht. »Bleib nicht zu lang, der Tau fällt, daß du mir deine lieben Füßchen nicht verkühlst,« sagte Sylvie; das war alles. Oh, wie oft hatte Mammina dasselbe gesagt, aber nun klang es anders, sank ihr ins Herz, wie schwere, goldene Tropfen: Daß du mir deine Füßchen nicht verkühlst . . . Gerade weil solches selten war zwischen ihnen! Und sie wußte nicht, daß die andere, die etwas zurück, im Dunkeln gesessen, schon eine ganze Weile ihr hellbeleuchtetes Antlitz betrachtet hatte, während sich etwas in ihr 68 zu regen begann, der alte Wunsch, auch hier wieder, mit Umsicht und gutem Willen und einem leise prickelnden Machtgefühl, ein Menschenschicksal zu leiten.

Marie Gabriele stand auf, nahm die Kissen und folgte ihr ins Haus zurück. Dort nahm sie ihren gewohnten Platz am Kamin ein, wo sie wie im Traum Tannenzapfen in die Glut zu werfen begann. Die andere ging langsam hin und her, mit ihrem schleifenden und doch reizvollen Gang. Sie ordnete ihre Noten und summte, lächelnd und mit leicht gehobenen Brauen, die Anfangstakte der Chopinschen E-dur-Etüde, die sie vorhin auf Gabris Bitte gespielt hatte; das zärtlich versonnene Motiv erhielt, so durch die Zähne gesummt, einen eigenen, ironischen Ausdruck. Gabri hob den Kopf, lauschte; da war etwas, das sie spürte, aber nicht verstand. Dann griff sie nach dem Buch auf dem Teppich, wo sie's vorhin hatte liegen lassen, ein Buch, das sie seit ein paar Tagen überallhin begleitete, so daß die Russen nun wieder still auf ihrem Borte standen. Regen- und Grasspuren zeigten, daß sie's auf allen Wegen mitnahm. Es waren Strophen darin, die läuteten leise mit durch ihre Stunden, so vollgedrängt von der Erregung dieses deutschen Frühlings, daß sie vorahnend fühlte, wie sie dereinst, wenn sie ihr wieder in die Hand fielen, durchs Herz zucken würden. Aber immer wieder blätterte sie darin. Hier war der »Abend im Walde«:

– Des Vogels Aug' verschleiert sich,
Er sinkt in Schlaf auf seinem Baum – 69

und dann dieses mit dem überirdischen Schluß:

»Ich weiß mich frei von aller Mordbegier,
Ich jage mich, mein Bruder, nicht in dir;
Du glaubst mir nicht? Ich bin dir nur ein Mann,
Ein Mensch . . . ach Reh, was geht der Mensch mich an?«

Und es überlief sie bei dieser großen Herzenseinsamkeit.

 


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