Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.

In der Konditorei Wunsiedel summten die Fliegen. Jetzt, im Oktobergold tanzten sie ihren letzten Tanz. Herr Wunsiedel tat was er konnte mit Fliegenpapier und anderen Fallstricken, aber er wurde ihrer nicht Herr. An 167 einem der gedeckten Tischchen saß Marie Gabriele mit einem kleinen Jungen: Peterchen, dem Großneffen der Frau Hauptmann von Stubenrauch, in deren rosenumsponnenem Haus, fern dem Kurgetriebe, Ihre Exzellenz vor einigen Tagen für die Dauer der wohlfeileren Nachsaison eingezogen war. »Stubenrauch,« hatte sie gesagt, »wie wird das werden, wenn erst geheizt wird!« Denn sie suchte noch immer sich an den kleinen Kuriositäten des täglichen Lebens zu erheitern. Was ihr auch oft gelang. Sonst war ihr Leben ja wie das Flämmchen in der Alabasterlampe geworden. Fein und erlesen lag sie auf der Chaiselongue und schlummerte viel. Klirr – klirr – die kleine Spieluhr will nicht mehr, dachte sie und legte die Hand aufs Herz. Und heimlich blickte sie zur Tochter hinüber und dachte weiter: wer weiß, vielleicht ist's zu ihrem Besten, denn nun muß sie mich pflegen, und ist mir nötig, und das ist am Ende das beste Morphium!

Ja, die Dinge, die einen Menschen mit dem normalen Leben verbinden, auch wenn er halb verstümmelt ist, dies Essen und Trinken und Kleiderwechseln, und daß man zu bestimmten Stunden um heißes Wasser klingelt und am Abend seine Uhr aufzieht, sie waren's doch schließlich, die die Maschine in Gang hielten. Auch die Kranken in den Krankenhäusern, sie, die kaum mehr einen eigenen Namen haben, sondern nur als »der Blinddarm auf Nummer 12« oder »die Angina auf 29« im Menschenkatalog geführt werden, sie klammern sich daran. Denn der Barbier, der mit seinen harmlosen Rasiermessern hantiert, 168 oder die Schwester, wenn sie einem das Haar flicht und frische Blumen auf den Krankentisch stellt, sie reichen mit diesen kleinen Handlungen hinaus in die Welt der Gesunden und Normalen, wenn auch eine Stunde später vielleicht schon der Wundarzt kommt und alles in Nacht versinkt . . . In diesen Dingen war doch etwas von dem, um dessentwillen man das Leben verteidigt, und wenn dies äußere Uhrwerk weiter ging, konnte derweil das innere sich erholen; und was zuerst Lethargie war, wurde vielleicht doch einmal Friede . . .

Das Verhältnis Ihrer Exzellenz zu ihrer Vermieterin befand sich noch im Stadium sanfter Abwehr. Frau Hauptmann von Stubenrauch, eine dünne, ältliche Blondine, die aussah wie ein einstmals hübscher Mousselinstoff, der mit zu viel Soda gewaschen wurde, hatte durchaus nicht die Absicht, sich aufzudrängen; aber sie gehörte zum Geschlecht der Perlhühner; ihre weinerliche Stimme erregte erst Mitleid und dann Raserei. Auf ihrem Hinterhaupt war ein gewundener Fremdkörper befestigt, der sich durch dunklere Schattierung als solcher verriet. Frau von Alweyden nannte ihn »den falschen Waldemar« und träumte davon, ihn durch einen besser passenden zu ersetzen: »Aber das ist eine spinöse Sache, Gabri, denn eher wird ein Mensch einräumen, daß er seine Großmutter ermordet hat, als daß er falsche Haare trägt.«

Frau Hauptmann von Stubenrauch war ja nun meist in der Küche beschäftigt; Ihre Exzellenz ruhte viel, so war es ganz natürlich, daß Marie Gabriele sich mit Peterchen 169 anfreundete, der hier ziemlich trübselige Herbstferien zubrachte, denn ein junger Balte, den er vergötterte, was kein Wunder war, da er außer dem märchenhaften Namen Woldemar von Himmelstjerna auch einen Käfig mit Tanzmäusen sein eigen nannte, war vor acht Tagen abgereist, und das Leben schien seitdem nicht mehr lebenswert. Aber da kam Marie Gabriele, und es war Liebe auf den ersten Blick!

Nun saßen sie und aßen Gefrorenes, und es war zweifarbig, und eben hatte Marie Gabriele die Worte gesprochen, die eine bei Erwachsenen seltene Einsicht verrieten: »So, die erste Portion kannst du schlingen, nachher bekommst du noch eine zum langsam essen.« Es war wie ein Märchen, dachte Peterchen, hier zu sitzen und soviel Spritzkuchen und Hohlhippen nehmen zu dürfen als er nur immer mochte, und Herrn Wunsiedel hantieren zu sehen, der im schneeweißen Konditordreß, wie ein Eisbär, Schüsseln voll schwarzlackierter Mohrenköpfe aus einer geheimnisvollen Schiebetür im Hintergrund in Empfang nahm.

Den Heimweg von der Konditorei machten sie mit einem Umweg durch ein Buchenwäldchen, das, schon gelichtet, den Himmel in seinen Gräben spiegelte. Es ging sich leicht auf den braunen, laubbedeckten Wegen. Peterchen hatte Marie Gabriele angefaßt, und die Wärme dieser kleinen, zerkratzten Knabenhand zog ihr durch den Arm ins Herz. Es war alles anders gekommen als sie sich's eine kurze Zeit geträumt hatte. Wunderlich still. Wie 170 die Stille, die man beim Erwachen empfindet, wenn in der Nacht der erste Schnee gefallen ist. Nur selten, ganz zufällig, hatte sie von ihm gehört. Immer dasselbe. Er war . . . dort. Und alle schienen es nun richtig zu finden, daß er dort war; denn das Mitleid, das den Menschen leichter wird als die Nachsicht gegen eigenmächtiges Glück, hatte die bösen Zungen zur Ruhe gebracht, ja, sie meinten, er sei ein liebenswürdiger Samariter – o Felix, dachte sie, wenn er das wüßte, wie würde ihm dieser Ausdruck auf die Nerven gehen – Mammina brauchte mehr und mehr ihre Pflege, da war sie am Abend müde und fand wenig Zeit zum Grübeln; so lernte ihr Herz das Abc des Vergessens. Nur früh, ganz früh, wenn im Grau die Amselstimme erwachte, kam dies Frieren, dies Hungern des Herzens über sie. Und sie meinte, den weißen Klee zu riechen, den wilden Kerbel, dort auf den Rasenplätzen, einsam . . . in der Sonne. Und dann mußte sie in ihr Kissen beißen, um ein Aufschluchzen zu ersticken, das sie zerriß. Nebenan schlief Mama, die nie fragte und sie oft so schrecklich lieb ansah, die aber durchaus, durchaus nicht weinen sollte.

Peterchens Stimme weckte sie aus ihrem Sinnen. »Sieh mal da,« sagte er. Es zappelte etwas im Graben. Mit zwei Sprüngen war sie dort, schon lag sie auf den Knien und hatte etwas gefaßt und ans Land gebracht; noch ein Griff und sie hob es hoch; ein kleiner, wimmernder Hund, schon halb ertrunken. Peterchen war Feuer und Flamme, sie rieben ihn mit Laub und Moos und wickelten 171 ihn in seine Matrosenbluse. »Nun müssen wir aber machen, daß wir nach Hause kommen,« sagte Marie Gabriele; »wir sehen ja reizend aus für die Promenade,« und sie sah an sich nieder und lachte. Sie hatte das Hündchen auf dem Arm, ein schwarzes Wachtelhündchen, mit verfilzten Ohren und braunen Fleckchen über den Augen. Es zitterte vor Kälte.

Sie mußten die Allee kreuzen, wo jetzt die abendliche Wallfahrt der Gäste zu den verschiedenen Brunnentempeln begann.

»Wirst du's auch gewiß behalten?« fragte Peterchen.

»Das will ich meinen, das geben wir nie wieder heraus.«

Sie blickten beide verzückt auf den Findling.

»Es ist gerade wie mit Moses,« sagte Peterchen. Er war selig. Was waren Tanzmäuse dagegen!

Hinter ihnen war ein leises Rädergeräusch, sie traten zur Seite, ein Fahrstuhl wurde vorbeigeschoben. O Gott! Sylvie! Alles Blut strömte ihr zum Herzen, mit beiden Armen drückte sie das Hündchen an die Brust. Sylvie machte eine Bewegung mit der Hand. Der Fahrstuhl hielt. Sie wandte ihr Gesicht der anderen zu. Das rechte Auge und seine Umgebung rot wie ein Feuermal, der Mund etwas verzerrt, die Wange von Narben entstellt, die sich am Hals in Schleierhüllen verloren. Arme Scheherezade! Sie saß mit gequältem Lächeln, einen Pelzmantel umgeworfen, von seidenen Kissen gestützt; ein schlanker junger Diener schob den Stuhl. Welch ein Wiedersehen, 172 unvorbereitet, in dieser Allee, wo Menschen kamen und gingen!

»Marie Gabriele,« sagte die Stimme, deren verschleierter Glockensprung ihr wie ehemals durch und durch ging, »ja, hast du dir wieder eine Rettungsmedaille verdient? Komm bis zur nächsten Bank. Ein paar Worte nur.«

Sie gingen ein paar Schritte. Die großen Rüstern ließen ihre goldgerippten Blätter fallen. Vor ihnen die Wiesen waren mit Tausenden von Herbstzeitlosen übersät. Der Diener schob den Stuhl an die Bank und stellte sich selbst außer Hörweite.

Gabriele setzte sich. Sie hätte nicht länger stehen können. Sie streichelte das Hündchen in ihrem Schoß. Dann wandte sie sich zu Peterchen, der mit dem Sturmvogelinstinkt nervöser Kinder etwas nahen fühlte, das er nicht verstand. »Trag es nach Haus, Peterli, reib es gut ab.« Sie legte ihm das Hündchen in die Arme. »Ich komme gleich.« Es wurde ihr schwer, das Kind wegzuschicken, es war ihr ein Halt, wo alles um sie her zitterte und schwamm. Aber nun kam das Schrecklichste von allem: eine Aussprache. Dabei konnte sie ihn nicht brauchen.

Sylvie sah sie einen Augenblick an, ohne zu sprechen. Sie fuhr sich mit dem Taschentuch über die Lippen. Dann sah sie vor sich nieder.

»Ja, Gabri, das sind nun über zwei Jahre her, daß wir uns trennten. Hast du mich gleich erkannt? Ich sehe gut aus, nicht wahr? Die Vinzenzschwester, die mich pflegte, hatte etwas Ähnliches an ihrem Rosenkranz, auf 173 einer Seite ein Menschengesicht, auf der anderen ein Totenkopf. Ja, Staat kann ich nicht mehr machen.« Sie lachte. Der anderen war's, als würde ihr das Herz durch eine Wringmaschine gepreßt. Sie hob die Hände, sie wollte reden, aber sie konnte nicht.

»Ich sah dich gestern schon mit deinem kleinen Freund,« sagte Sylvie; »aber du hast mich nicht gesehen. Ich konnte mich nicht entschließen, dir zu schreiben, daß ich hier sei. Nun hat's der Zufall entschieden. Aber du bist mager geworden, Gabri. Les yeux te mangent la figure. Plagst du dich auch noch so viel mit Pflichten und Gewissensbissen? Denn das ging ja immer Hand in Hand. Ja, Gabri, ich ließ dich im Stich damals. Und du solltest doch mein Meisterstück werden. Aber solche beaux gestes wie ich sie vorhatte, darf man nur machen, wenn keine Zeit mehr ist, sie zu bereuen. So wie sterbende Komödiantinnen ihren Schmuck der Kirche schenken. Aber geschämt hab' ich mich doch; ich kann es einmal nicht leiden, wenn mir etwas mißrät.«

»Sylvie,« sagte Gabriele, und sie meinte es ehrlich, »das ist alles vergessen. Man tut ja selber was man kann, um Leiden zu vergessen. Gegrübelt hab' ich nie darüber. Sag mir nur, daß dir's besser geht, ob du wieder gehen kannst, ein bißchen doch, nicht wahr? O Sylvie, es jammert mich so. Einmal hab' ich dir Blumen geschickt, nur schreiben, nein, schreiben konnte ich nicht . . .«

Sylvie stützte das Kinn auf die Hand. Marie Gabriele sah nur ihre linke Seite; schön und traurig. 174

»Wenn man mit Gewalt etwas an sich gerissen hat, oder festgehalten hat,« sagte sie, halb abgewandt, in die Abendluft hinein, »und manches Harte darum erlitten hat und anderen zugefügt, so kommt einmal der Tag, wo man sich frägt, war es den Kampf und die Mühe auch wert? Du siehst vielleicht in einen weiten Abendhimmel, oder es ist Musik, die Stelle in der Siebenten, weißt du, wenn die Hörner einsetzen, und dann siehst du dich selbst an und dein Krämchen, oder nenn' es den Schatz deiner Schatzkammer, und es ist eigentlich nicht viel dran gewesen.«

Marie Gabriele konnte vor Tränen nicht sehen, sie strich nur immer wieder über das Tuch, das Sylvies Füße bedeckte. Schönes, verstümmeltes Menschenbild, anderes konnte sie nicht denken.

»Du brauchst nichts zu sagen, Gabri, ich weiß es, daß du keine harten Gedanken gehabt hast. Ich habe immer mit weichen Menschen zu tun gehabt. Das war mein Unglück. Schon als ich jung war. Das Leben hat mich ja nicht sanft angefaßt, aber der arme Papa – er war ein leichtsinniger Strick und seine Spielmanie wie Besessenheit, aber doch unendlich gutmütig und tat sonst alles, was ich wollte. Und dann der unglückliche Rey! Er war ein Tier; und nicht erst zuletzt. Aber war's seine Schuld? Und wenn auch: die Strafen der Natur sind immer zu hart; da gibt es keine circonstantes atténuantes . . . Und wenn ich ihn dann besuchte in seinen vergitterten Zimmern, freute er sich wie so ein armer, angebundener 175 Hund und wurde wütend, wenn mir der Wärter nicht gleich einen Sessel hinstellte. Nun, und von Háthory wirst du auch wissen; in unserer herrlichen Residenz war's ja ein beliebtes Thema. Ja, Háthory war zeitweise eine Geduldsprobe; aber er war ein Künstler und ein Kranker . . . da hat man eben Geduld. Es dauerte auch nicht lange, ein Jahr oder anderthalb, die ganze Episode, die mir von den Sittenrichtern daheim so bitter verdacht wird, und die vielleicht das einzig Gute war, was ich je getan habe. Mein Gott, man soll sich nicht für zu wertvoll halten!« Es kam eine Verzerrung in ihr Gesicht, dort, wo früher sonst das Grübchen huschte; nun wandte sie's wieder der andern zu, mit all seinen Narben, seinem Schmerz:

»Ja, und schließlich kam Felix. Der hat mich am schlimmsten verwöhnt. Weißt du, wenn ich alle Sonnabend Prügel bekommen hätte, das wär' besser gewesen. Ja, manchmal war mir seine Liebe lästig, wie ein seidenes Gewebe, das zu dicht auf der Haut liegt. Aber ohne ihn fror ich. Und später dann kamst du.« Ihre Stimme war erstickt, sie vergrub die Augen einen Augenblick in den Teerosen, die in ihrem Schoß lagen – das kühlte . . .

»Gabri, damals war's wohl die allerschönste Zeit, als unsere Freundschaft noch ganz jung war, ganz neu. Wie eine Entdeckungsreise war's. Und wie ich glaubte, alles, was da neu in dir wuchs, sei mein. Dann sah dich Felix und hatte seine Freude an dir, am Anfang war's wohl nur der Künstler in ihm . . . wie eine feine, ägyptische 176 Bronze, sagte er einmal von dir . . . Aber dort, bei ihm, sahst du deine Kinderheimat wieder. Und ich merkte es deutlich, wie das Heimweh in dir auflebte. Da hab' ich mir gesagt: Nun Sylvie, mach Schluß, mach dein Meisterstück! Wär' ich katholisch, so wär's um Himmelslohn geschehen. Aber wie es beinah' gelungen war, da habe ich versagt. Vielleicht das alte Lied von der alternden Frau. Vielleicht noch anderes, was du nicht verstehst. Gott weiß. Aber an dem Abend, wie ich da am Klavier saß und wartete, da hab' ich hinausgelauscht und gewittert, in die Nacht hinaus, wie Jagdhunde wittern; und wie du mir dann Gute Nacht gesagt hast, hab' ich seinen Kuß auf deinem Mund gespürt. Da hab' ich dich gehaßt, Gabri, oh, es steckt wohl in jedem ein böses Tier, wer kann wissen, wann es aufwacht! Und ihn . . . Ja ihn um deinetwillen auch, denn du warst mir sehr kostbar und ich habe doppelt gelitten. Mehr als du weißt. Als du fortgegangen warst, haben wir nicht viel geredet. Szenen liegen unsereinem nicht. Man kann dann nicht verhindern, daß man zur Waschfrau wird, und das ist immer das Ekelhafte an solchen Sachen. Aber er ist ja feinfühlig wie ein Jagdhund, und da war – auch ohne viel Worte – der Abschied . . . oh, ein schartiges Messer . . .«

Marie Gabriele hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Wie furchtbar, o Sylvie, o wenn sie doch aufhören möchte, warum, warum wühlte sie so! Es rauschte vor ihren Ohren, ein entsetzenvolles Erbarmen nahm ihr den Atem fort. 177

Die andere faßte nach ihrer Hand, sah wieder vor sich hin, das zerrende Lächeln, wo früher das Grübchen war, kam und ging. »Am Morgen bist du abgereist, es war ja wie eine Flucht – als ich in dein Zimmer kam, da hing dein kleiner grauer Kittel an der Tür – alles so ordentlich, oh . . .« sie schluckte. »Felix kam auch nicht wieder, er schrieb – was sollte ich ihm antworten . . . dann hörte ich, er sei zu Hans Heydebreck – ja vielleicht habt ihr euch vorher getroffen? Damals nicht, sagst du? Also gut, damals nicht. Ich bin in Eichenkamp geblieben, wo alles von dir redete, und manchmal war mir, als hätte ich dich mehr geliebt als irgendwen auf Erden. Da bin ich stundenlang auf und ab gegangen, und einmal sagte es ja in mir, ich wollte dich rufen, aber dann wieder nein – nein – nein! Und dann kam die Katastrophe mit der Teemaschine, und da haben gewiß die Menschen gesagt, es sei ein Gottesgericht, denn so etwas sagen die Menschen gern. Ach, Aladdins Wunderlampe war sie mir, denn so erfüllte sich der Wunsch, den ich nicht umbringen konnte in meinem Herzen.«

Marie Gabriele weinte, weinte . . . »Ja, weinen kann ich nicht. Die Tränen sind mir nie leicht geflossen. Und mit dem Lachen geht's auch nicht mehr; es zerrt so. Nun geh heim zu deinem kleinen Freund, er hat hübsche, anliegende Ohren, so sympathisch, in Deutschland gibt es sonst so viel Henkelpötte. Du solltest selber einen kleinen Jungen haben, es paßt zu dir. Ach Gott, du wirst gewiß noch glücklich werden, glaub mir, glaub mir. Ja, und grüß' 178 mir deine reizende Mama. Sie konnte so entzückende Enormitäten sagen, mit der unschuldigsten Stimme der Welt; aber mich hat sie nie gemocht, Mütter haben so erleuchtete Momente, sie hat's gespürt, daß ich dir kein Glück bringen würde. Ja, das ist nun nicht mehr einzuholen. Lebwohl, Gabri, wir reisen morgen. Ich habe ein Landhaus gemietet, bei Lucca, Felix hat es aufgestöbert, mitten in Korn und Ölbäumen, und um Weihnachten blühen noch die Rosen an der Mauer. Ich möchte einmal wieder richtig warm werden, seit dem Unfall ist mir immer kalt.«

Sie legte die Hand auf Gabris Arm: »Soll ich Felix von dir grüßen?« Es kam etwas unsicher. »Nein? Du weißt, er ist hier. Gestern gekommen. Er begleitet mich nach Lucca und richtet alles ein. Er ist so gut. Und hat es nicht leicht mit mir. Ich mach ihn nicht glücklich und er mich eigentlich auch nicht; aber wir können nicht ohne einander sein. Vielleicht ist es nicht klug; man sollte sich ein gutes Mahl nicht dadurch verderben, daß man zum Schluß schlechten Kaffee trinkt. Ja – aber es ist nun einmal so. Nun mach' dir das Herz nicht schwer, Gabri, du hast darin eine besondere Virtuosität; aber siehst du, ich fühle die Dinge gar nicht so tief wie du denkst. Sonst müßt' ich ja längst tot sein. Es ist mir doch vieles geblieben. Denk doch: ein Haus in einem unendlich schönen und liebenswürdigen Land, Freunde, die mir schreiben, die auch zu mir kämen, wenn ich sie drum bäte, Bücher und Musik, so zehn Minuten alle Tage darf ich spielen, und viel, viel 179 Zeit. So was man in jungen Jahren das Zweitbeste nennt. Aber es ist gar nicht das Zweitbeste. Nein, bedaure mich nicht. Denk an so viele Frauen: Geldsorgen, ein widerwärtiger Mann, eine unschöne Umgebung, das alles hab' ich nicht. Und du kennst mich ja, und daß ich ein Unglück immer noch eher ertrage als eine häßliche Tapete. Ja, nun mußt du wohl gehen, Gabri, aber du bist mir zu mager, das muß anders werden. So, küsse mich, aber nur links, rechts bin ich zu häßlich. Nur noch im Profil möglich – da – warte – nimm die Rosen . . .«

Marie Gabriele stolperte die Allee hinunter, sie konnte kaum sehen, die Tränen schossen ihr immer wieder in die Augen, immer wieder drückte sie ihr kleines, nasses Tuch an die brennenden Lider. Ein Mann kam ihr entgegen, fast schwarz, denn der Abendhimmel stand hinter ihm. Er stutzte, er nahm den Hut ab und trat barhäuptig zur Seite. Erst war er rot geworden, dann blaß. Da sah sie ihn an mit ihren verweinten Augen. Er war gealtert in der kurzen Zeit; gelblich, ein wenig gedunsen. Eigentlich fremd. Das Herz ging ihr langsam, beinahe matt; nicht das leiseste Erröten trat auf ihre Wangen. Mit einem fast übermenschlichen Lächeln und während es kalt von ihrem Herzen in ihre Fußspitzen rann, sagte sie zweimal, trostlos, leise: »Arme Sylvie, arme Sylvie . . .« Dann war sie vorüber. 180

 


 << zurück weiter >>