Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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VII.

Anna Meckle kämmte schon eine ganze Weile Sylvies schönes Haar. Von jenem matten Blond, das an den Schläfen mehr silbern als golden scheint und beim Altern fast unmerklich in Grau übergeht, lag es in breiten Wellen über ihren Schultern. Sylvie rollte ein paar silberne Fäden über den Finger. »Ich bin eine alte Frau,« sagte sie. »Sie müssen mir Häubchen machen, Anna.« – »Des wär e Sind un e Schand,« sagte Anna, die aus dem Badischen stammte. Und sie »stellte« Sylvies Haar, wie es in der Friseursprache heißt. Es war nicht besonders lang, aber es bäumte sich kraftvoll über der Stirn, und wenn sich, wie es oft geschah, im Nacken eine Strähne löste, so hing sie in eigenwilligem Geringel nieder wie auf alten, englischen Porträts. Es war ein Kinderspiel, Sylvie zu frisieren. Wenn sie angegriffen war oder Kopfweh hatte, kam Anna leise und selbstverständlich, löste den Knoten, und wenn dann der Kamm langsam, immer wieder, durch die knisternden Haare glitt, wurde es besser. 105

»Die gnädig Freile mecht' i net frisire,« fuhr Anna fort, »sie hat so arg lange, schwere Zöpf, da bleibt's besser bei seinere Frisur, in emme Nescht, wie e Schwarzwaldmädle.«

Anna war eine nicht mehr junge, schöngewachsene Person, etwas pockennarbig, mit düsteren Augen, von dichten Wimpern schwarzumsäumt: Halbtraueraugen, nannte sie Sylvie. Sie hatte eine rauhe Stimme, wie ein mutierender Junge, und ihre größte Freude war, beim Mähen zu helfen; sie führte die Sense wie ein Mann. Aber mit der alten, mürben Tischwäsche ging sie behutsam um, wie mit Rekonvaleszenten. Wenn auch aus bäuerlichem Stande, hatte sie sich in den Jahren, daß sie bei Sylvie war, sehr verfeinert; dazu hatte sie eine heimliche, humoristische Ader, die ihren Beobachtungen die Würze gab. So viele Schützlinge hatte sie kommen und gehen sehen, und ihr treues Gemüt hatte auch Eifersucht gekannt. Aber sie besaß dafür den Teil von Sylvie, den sonst wohl keiner kannte, höchstens Felix ein wenig; jene Stunden, wenn sie plötzlich zusammenfiel und die Unterlippe vorstreckte und der ratlose Ausdruck in ihre Augen kam, halb wie ein ganz kleines Mädchen, das sein Püppchen zerbrochen hat, halb wie ein alter, perplexer Herr, der seine Gummischuhe stehen ließ und sich plötzlich genötigt sieht, eine Pfütze zu durchqueren. Ja, in gewissen schmerzlichen und vielleicht demütigenden Momenten ihres Lebens war es Annas starke und doch feinfingrige Hand gewesen, nach der sie zuerst gegriffen hatte. Darüber 106 verloren beide keine Worte, sie wußten, was sie aneinander hatten, und so war's gut. Die Dienerin begriff die Unausbleiblichkeit mancher launischen Ausbrüche und die Herrin übersah viele Mängel an Geschick und Findigkeit.

Als ihr Haar wieder aufgesteckt war, schlüpfte Sylvie in einen dunkelseidenen Kimono, stäubte Sandelholzpuder über Hals und Arme und ging in den Wohnraum zurück. Der Flügel stand offen, sie setzte sich und begann zu spielen. Das cis-moll-Impromptu von Chopin kam ihr in die Finger; sie hatte es vor Wochen viel geübt. Aber es war dem Flattern und Vibrieren in ihrem Innern zu ähnlich. Dabei kam sie nicht zur Ruhe. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken. Es war ganz dämmrig. Wie lang die beiden ausblieben! Und es grub sich eine Falte zwischen ihre Brauen, wie sie saß und sann.

Die meisten Menschen vermeiden seelische Bücherrevisionen; sie machen ihre Schulden auf kurze Sicht, tragen sie ab und machen neue und gestehen sich's nicht ein, wie oft sie Peter betrügen, um Paul zu bezahlen. Aber sie hatte immer gewußt, was sie tat und wo die Rechnung nicht aufging, und hatte sich nie eingeredet, ihr Fall sei eine Ausnahme und gehöre vor einen besonderen Gerichtshof. »Nun ja, so ist's,« sagte sie sich, »und ich werde die Zeche bezahlen.« Aber bisher waren die Konflikte deutlich umgrenzt gewesen, hier Pflicht und dort Neigung, und manchmal siegte dies und manchmal jenes. Zum erstenmal fühlte sie sich überrascht von einem Gewirr von Gewohnheit und Neigung, von der 107 schmeichelnden Vorstellung, ein junges, reizvolles, ihr mit allen Nerven ergebenes Geschöpf glücklich zu machen, und die Angst, das, was ihrem Leben in diesen letzten Jahren das langentbehrte Gefühl des Steten, des Heimischen, des Selbstverständlichen gegeben hatte, herausreißen zu müssen und zurückzubleiben mit kalter, unbehaglicher Lücke, wo sonst ein Herz geklopft hatte. Sie spürte die wachsende Hingabe in Gabrieles Wesen, dazu war kein Seherblick nötig; kann sich doch die Birke nicht verstellen, wenn der Sommerwind sie biegt. Aber auch sein wachsendes Wohlgefallen hatte sie erkannt. Erst nur verwandtschaftliches Interesse, das Bedauern, daß gerade er des Schicksals Liebling gewesen, während es mit Gabri und deren Mutter so hart verfuhr, und dann die künstlerische Freude an diesem Gemisch von Lebenslust und Trägheit, das in den Wald hier paßte wie das Schreiten und Ruhen eines edlen Wildes. Aber sie – Sylvie – hatte ja die beiden zusammengeführt und einander zugewiesen . . . war's Wahnsinn, war's ein böser Geist, der sie dazu getrieben? Oder ein weiser, ein guter? Sollte sie festhalten an dem Vorsatz, den sie, wie von einem Wahn besessen, gefaßt hatte? Gab es überhaupt noch ein Zurück? War nicht das einzig mögliche, immer stolzer, immer stiller sich einzuhüllen in Schweigsamkeit? Oh, wie sie sie spürte, die Gewohnheit in allem, was er tat, sogar in der Sorglichkeit, mit der er sie in ihren Mantel hüllte, diese fast frauenhafte Sorglichkeit, die aber schließlich mechanisch geworden war; wie die eines gut dressierten 108 Kammerdieners, dachte sie bitter; und erkannte auch seine Angst, in seinen geistigen Darreichungen ja nichts von dem zu unterlassen, was er sie berechtigt hatte zu erwarten. Und jene Wege in der Nacht, nach der kleinen Anhöhe, wo die Bank über der monddunstigen Ebene stand, ihre Bank . . . Nein, nicht zurückdenken, wie es früher gewesen war! Oh, mit bleiernen Füßen war sie nun dorthin gegangen, hatte an seiner Brust gelehnt und sein Herz klopfen gehört, wie einst; und da war ein Schlag, matt und doch rastlos, den verstand sie . . . und spürte, wie alles sich wandelte.

Zum dritten oder war's zum vierten Male, hatte er sie dort mit fast verzweifelter Heftigkeit gebeten, alle Heimlichkeit von sich zu tun, mit ihm zu ziehen, mit ihm zu reisen, wie sie es auch sonst getan, aber mit offenem Visier, als seine Frau. Und zum dritten – oder war's zum vierten Male – hatte sie nein gesagt. Und war früher der Grund dafür Stolz gewesen oder Hochmut, der es nicht über sich gewann, ihm Dank zu schulden – denn große Lebenskünstler können doch Stümper im Lieben sein –, so war es nun, daß sie sein Erwachen fürchtete, den Augenblick, wenn in ihm der Ruf ertönen würde, unaufhaltsam: »Versäumt, versäumt, was da jung und unverletzt und dir so ganz ergeben an deinem Wege stand und wartete . . .«

Aber vor ihr lag Ödigkeit, grau, ohne Ende, wenn sie an die Tage dachte, die nun kommen würden, wenn Felix nicht mehr, selbstverständlich wie Ein- und Ausatmen, 109 kommen und gehen und wiederkommen würde. Auch jetzt waren sie monatelang getrennt, aber dann kamen seine Briefe, diese leichte, weiche Art, die er hatte, ihr mit gutmütigem Spott alle Lasten abzunehmen, noch ehe sie sich eigentlich aufgetürmt hatten. Seine Berichte, etwas schlampig – grad wie seine schlampige Art zu Pferd zu sitzen, aber wenn er wollte, ritt er all die besten Reitschüler in Grund und Boden –, aber immer das Charakteristische erfassend, Länder und Orte, durch die er kam – oh, und wie viele hatten sie zusammen besucht –, mit einem Worte kennzeichnend; kleine Auszüge aus Büchern, die er las, oft nur ein Satz, aber er verstand es, aus einem dicken Band den einen wesentlichen Tropfen herauszudestillieren und ihr mitzuteilen. Auch gemeinsame Freunde hatten sie, oder besser gesagt, freundschaftliche Bekannte; und sein unbeirrbarer Geschmack hatte sie, heimlich gestand sie sich's, leise von gewissen Personen losgelöst, die er ihrer nicht wert fand, und sie hatte es ihm gedankt, wenn auch nicht mit Worten. In ihrer tiefen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber hatte sie's schweigend längst eingeräumt, daß er die zarteren Fühler von ihnen beiden hatte; in ihr war wohl doch ein letzter Rest jener Harthäutigkeit, beinah Roheit geblieben, die sie, ein halbes Kind, und später ein durch Verantwortlichkeit und Widrigkeiten aller Art ihres zartesten Duftes beraubtes Mädchen, wie eine Schutzhülle getragen, in jenen bunten und doch so öden Wanderjahren mit ihrem alten, kranken, nicht sehr geachteten Vater, dessen Blut – trotz alledem – auch 110 das ihre war, dessen Wesen sie begreifen konnte, wenn auch ohne Bewunderung, und dessen Andenken ihr manchmal noch schmerzhaft durchs Herz schnitt wie die Erinnerung an irgendeinen armen, verirrten Hund, den man auf einem Bahnhof herumlaufen sah, ohne doch aussteigen und ihm helfen zu können . . . Ach, Felice! hätte sie ihn damals gekannt! Und sie dachte, plötzlich beschämt, und kaum konnte sie ein Aufschluchzen meistern, was er ihr in all den Jahren, in der guten, aber auch so fürchterlichen Zeit gewesen war. Oh, sie wußte, er würde versuchen, es zu bleiben, würde versuchen, immer weiter ihre Lasten zu tragen. Aber das war nun zu Ende. Da war eine andere. Und die war jung. Und sie – sie mußte abseits stehen . . .

Da hatte sie einmal etwas gelesen, und gleich beim Lesen hatte es sie durchschauert, wie es einen, dem Volksglauben nach, durchschauert, wenn man den Erdenfleck betritt, wo man einst begraben wird. Über Genua war's, und wie der Doge, wenn seine Regierungszeit abgelaufen war, sich zum letztenmal in aller Würde auf seinen goldenen Thronsessel setzte; dann trat der Sekretär des Senats an ihn heran und sprach mit tiefer Verneigung: »Come vostra Serenità ha rornito suo tempo, vostra Eccellenza se ne vada a casa . . .« Dann stand der alte Doge auf, legte still den Purpur ab und ging bescheiden heim in seinen öden, oft ärmlichen Palast. Daran dachte sie nun immer wieder, und es war fast Genuß, sich dieses Eisen ins Fleisch zu drücken. Aber weil sie keine einfache Natur war und 111 bei all ihren Entschlüssen verzweigte Ursachen mitredeten, erhob dazwischen ihre fast tyrannische Lust am Wohltun ihr kleines Schlangenhaupt, das, was Felix ihre beneficenza despotica nannte, und bildete ihrer Wunde das Schutzmittel und gab ihrem Entsagen den heimlich erquickenden Stachel . . . Hier war ein Mädchen, anmutig und mittellos, durch seinen Reiz und seine Wehrlosigkeit so recht ein auserlesenes Opfer all der geheimnisvollen Weberschiffchen, die sich zusammen Schicksal nennen. Als Kind aus seiner Väter Haus vertrieben. Und da war der Mann, der ihr die Heimat genommen und der sie ihr wieder schenken konnte und sie schon aus dem Grunde lieben würde, weil es naheliegt, die zu lieben, an denen wir etwas gutmachen; liebenswürdig und feinfühlend und wie solche Männer, die durch das Leben etwas skeptisch geworden und durch verwöhnte Frauenhände gegangen sind, in allen Fragen des Alltags leichtlebig und verständnisvoll, gerade Frauen gegenüber, die sie als ein bißchen gefährliche, jedenfalls zerbrechliche Mechanismen erkannt und zu behandeln gelernt haben. Nie nervös machend, niemals gründlich, oder, wenn sie's waren, es taktvoll verbergend; leicht, leicht wie ein Orenburger Tuch, das doch so tausendmal besser erwärmt als eine schwere, gewissenhafte Joppe. Denn sie sind Kenner und verstehen all das Auf und Ab von Nerven und Güte, die Opferwilligkeit und zugleich die Habsucht des Herzens, all diese Inkonsequenzen, die nebeneinander hergehen und streiten und einander doch niemals aufheben; und sie behandeln 112 die Ahnungslosen, die ihrer Obhut anvertraut sind, wie Kinder, aber auf so unmerkliche Weise, daß es jenen nie bewußt wird und es zu keinen Dissonanzen zu kommen braucht. Felix war einer dieser seltenen Vögel: der geborene gute Ehemann. Aber erst durch das Hin und Her seines Lebens, ja, und durch sie, Sylvie, hatte er die Meisterschaft in diesem Virtuosentum erlangt; und deshalb mußten seine sechsundvierzig Jahre als Unvermeidlichkeit – wie Edelrost für guten Wein – hingenommen werden. Oh, die kleine Gabri konnte dankbar sein, und sie war es auch schon jetzt. Sylvie merkte wohl, daß die grauen Haare an seinen Schläfen dem Mädchen wie ein Ehrenzeichen galten, das sie anbeten würde, wie sie ehrenvolle Narben angebetet hätte. Sie würde glücklich sein, durch ihn wie durch sich selbst. Wie schwierig dagegen junge Männer mit ihren Kanten, ihren Launen, ihrer Unerzogenheit. Die Villa in Dalmatien tauchte vor ihr auf, langgestreckt, mit ihrem flachen Dach, den riesigen Aloestauden über dem Meer. Oh, wie hatte jener arme Junge sie gequält! Absichtslos – und darum desto unentrinnbarer. Nicht weil sie so viel älter war als er. Gott, damals, vor zehn Jahren, war sie auf der Höhe ihrer Anziehungskraft, die gerade, weil sie nicht immer gleich war, die Menschen verwirrte und fesselte. Und ihr Körper war noch makellos, wie der einer Diana, aber mit all dem Reiz im Gewähren und Versagen einer lebenskundigen Frau. Nein, es war dies jugendlich Absolute, dies Kindlich-Raubtierhafte, gerade das, was sie so unwiderstehlich angezogen hatte, was nun 113 seine Rache nahm; dieser unbewußte und daher unbegrenzte Egoismus, durch die Künstlereitelkeit noch hundertfach verschärft, dieser im täglichen Leben und geistigen Dingen gegenüber ganz nuancenlose Standpunkt, weil die Nuancen alle für seine Kunst verbraucht wurden und nur ein nacktes, zuckendes Nervenbündel übrigblieb, das sich – war es Selbstschutz? – unter ganz primitive Begriffe verkroch – so daß schließlich . . . Ja, das bittere Wort Langweile mußte ausgesprochen werden. Oh, da waren Stunden gewesen, wo sie hinausrannte und auf der weiten, kahlen Steinterrasse unter dem Sternenhimmel hin und her ging, alle Dissonanzen im Herzen und zornige Tränen im Blick, während er drinnen, finster, mit dem Ausdruck eines bösartigen Gebirgsponys, seine Wut in Kadenzen und Läufen an seiner Geige ausließ, so wild und göttlich, daß sie aufhorchend innehielt und gebändigt wieder hineinging, widerstandslos an ihren gewohnten Platz . . . Und dann – brach die Krankheit erneut aus, und da kam das Mitleid. Oh, ewiger Dank dem Mitleid, das ganz leise und unmerklich die Rolle der erschöpften Liebe übernommen und das Stück mit Anstand zu Ende gespielt hatte.

Sie fuhr mit der Hand über die Augen: Nicht mehr dran denken, das war vorbei, lange vorbei. Ja, die kleine Gabri sollte wieder einziehen in ihrer Ahnen geliebtes Stammhaus. Es war ja wunderbar, wie sie in Rüdigen gleichwie verschmolzen schien mit allem, mit dem Sprachklang der Leute, diesen etwas dunklen Stimmen, die hier die Menschen hatten, mit den Sonnenstäubchen auf der 114 Treppe, mit den freundlichen, schönäugigen Ahnenbildern, bis zu jenem letzten der Zimmerflucht, der mit wehmütiger Ironie seine leeren Taschen umdrehte. Dem Felix glich. Dort gehörte sie hin, selbstverständlich, als wär' sie niemals fort gewesen, dorthin, wo die Bienen in den Alleen summten und sie ihre kleinen Töchter fragen würde: Möchtet ihr Lindakazia heißen oder lieber Akazialinda? Und sie, Sylvie, was würde nun aus ihr? Oh, sie war ein Zeltbewohner, kein Hausbesitzer von Natur; sie hatte Freundinnen im Ausland, die alte, gütige Fürstin in Wien oder Sonja in Florenz; irgendwie würde sie sich eine Heimat schaffen. Kunst und Politik und kluger Männer Reden und ihre Musik, das blieb ihr ja, auch zum Wohltun hatte sie gottlob die Mittel, und es gab dazu überall Gelegenheit. Sie schob in Gedanken die Figuren, die ihr übrigblieben, hin und her . . . Schließlich, was konnte sie mehr verlangen? Come vostra Serenità ha fornito suo tempo, vostra Eccellenza se ne vada a casa . . . Nun kam das Ausklingen in einer milden Natur, die wenigstens physische Anstrengung ersparte. Ah, sie war müde, sie wollte nichts anderes mehr.

So redete sie mit sich, so ordnete sie ihre Gedanken in Kampfstellung; und sie, die gegen sich selbst stets erbarmungslos war, wenn sie auch anderen gegenüber kleine Verdrehungen für erlaubt hielt, heute versuchte sie, vielleicht zum ersten Male, sich Dunst vorzumachen, die leise, nüchterne Stimme zu ersticken, die da sprach: Deine Streiter sind aus Pappe und ihre Lanzen sind aus Stroh; 115 du liebst ihn noch immer, und wenn auch zwei Drittel deiner Liebe Gewohnheit sind – Gewohnheit hat die längsten Wurzeln . . .

Schweizer kam mit den Lampen. Es war hier so traulich ohne elektrisches Licht. »Zünden Sie auch die Kerzen an, bitte, Schweizer,« sagte sie. Sie wollte keine Dämmerung mehr. Er stellte die brennenden Kerzen auf den Flügel und sie dankte dem alten Mann in der besonders freundlichen Art, die sie gegen Untergebene hatte. Sie blätterte in ihren Noten und legte sie wieder hin. Nein, sie konnte heut ihre Gedanken zur Aufmerksamkeit nicht zwingen. Aufrauschen sollte es, was sie quälte, in fremdes Heldentum wollte sie sich flüchten, um ihre eigene Seele stark zu machen. Und totenblaß, die Augen geradeaus gerichtet, griff sie die ersten Takte von Chopins großer Polonäse. O Schmerz, Ritterlichkeit, du Sporenklingen im Untergang! Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als die Stelle kam, wo die linke Hand in dunklen, niedergleitenden Oktaven, die langsam, langsam stärker werden, wie Trappeln ungeduldiger Pferde in der Nacht, die Oberstimme begleitet, die ihr Leid gezügelt, als etwas Unabänderliches erzählt . . . bis wieder das erste Thema, unbezwinglich, diese Lebenslust trotz alledem, aufbraust wie das Jugendlachen der Todgeweihten, dem letzten Morgenlicht entgegen!

Als sie geendigt hatte, lehnte sie sich zurück, erschöpft, und fuhr sich über die Stirn. Oh, solche Augenblicke, sie reißen hin, sie durchbrausen die Adern, das ist wohl wie 116 berauschendes Getränk, das stürmende Truppen vorwärtstreibt. Aber wie lange dauert ihre Kraft? Sie war kalt geworden und fröstelte; warf einen Mantel über und öffnete die Tür. Ihre Nasenflügel weiteten sich dem Geruch von frisch geschnittenem Gras. Seitwärts, weiter zurück, war die Jägerfrau beschäftigt, die Wäsche von den Leinen abzunehmen; ihr kleines Kind saß auf dem Pfad und patschte mit den Händchen im Sand. Wie friedlich das war in dem letzten schwindenden Licht! So beschwichtigend in seiner einfachen Alltäglichkeit. Diese Frau würde noch viele Jahre lang jede Woche ihre Wäsche hier auf die Bleiche bringen, und wenn sie's dann mit alten, geschwollenen Gichthänden nicht mehr vermöchte, würde die Schwiegertochter es an ihrer Statt tun, und wieder würde ein kleines Kind am Weg sitzen und Patschepatsche machen. Die Eichen würden dreißig Jahre älter sein, was bei so alten Bäumen keinen Unterschied mehr macht, und die Erde würde weiter ihre großen, unabänderlichen Kreise fahren, und auf ihrer Oberfläche oder eingebettet in ihrem Innern würden die unfreiwilligen Passagiere, die sich Menschen nennen, an der Rundfahrt teilnehmen. Warum nur, warum!

Sie ging wieder hinein. Schweizer hatte die Läden geschlossen und ging. Am Kamin lag das Buch, in dem Gabri immer wieder die eine oder andere Seite las; Morgensterns Melancholie. Man sah's ihm an, daß es ein treuer Begleiter war. Sylvie nahm es auf und blätterte darin. Da waren mehrere leicht angestrichene Stellen, 117 und ihr Blick fiel auf ein paar Strophen, die so angestrichen waren:

»Jetzt bist du da, dann bist du dort,
Jetzt bist du nah, dann bist du fort;
Kannst du's fassen? Und über eine Zeit
Gehen wir beide in Ewigkeit
Dahin – dorthin. Und was blieb?
Komm, schließ die Augen und hab' mich lieb.«

Sie lächelte. Wie doch junge Menschen sich in solche Traurigkeit hineinwühlen mögen, so wie einer den Kopf in einen Fliederbusch steckt, daß es zusammenschlägt über ihm. Wenn man älter wird, liest man's nicht so gern, was in der eigenen Seele nagt und klopft.

Auf einem Tischchen neben ihr lag ein flaches, längliches Flakon aus grünem Nephrit. Sie legte seine kühle Glätte an ihre Wange. Felice! Felice! Vor zwei Jahren hatte er's ihr geschenkt, als sie in den toskanischen Hügeln wanderten. Zur Zeit der Weinlese, der Fülle, des Glücks.

Dann ging sie zurück an den Flügel.

 


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