Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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I.

Frau von Alweyden war vom Nachmittagsschlummer erwacht, und das Wappen der Rüdiger-Fontonville hatte sich von dem perlgestickten Sofakissen, das sie seiner Kühle wegen bevorzugte, im Negativ auf ihrer Wange abgedruckt. »Mama,« sagte Marie Gabriele, die eben den Kaffee einschenkte, »du hast ein Malteserkreuz im Gesicht.« Die Mutter war, wie die meisten Pessimisten, auf Komik hellhörig; dieser Sinn fürs Lächerliche hatte ihr trotz mancherlei Leiden und sorgenvoller Stunden etwas Jungmädchenhaftes bewahrt. Sie trat an den Spiegel und lachte: »Ja, ich sehe wie abgestempelt aus, fehlt nur noch das Motto: ›Craignez honte!‹« Marie Gabriele stellte eine Schale mit Teerosen zwischen die Tassen. »Ich kann deinen Wappenspruch nicht leiden,« sagte sie. »Warum soll man sich immerfort vor Schande fürchten! Es liegt uns doch eigentlich fern. Das ist ja wie Kinder, die in kein dunkles Zimmer 8 wollen, weil sie denken, es liegt ein Bär unter dem Sofa.« – »Ja, da gibt es viele Schattierungen,« sagte die Mutter. »Weißt du noch, was sich die Droschkenkutscher in Florenz für abscheuliche Sachen zuriefen – ich war ja wie versteinert, als unsere gute Signorina es übersetzte, und dabei glaub' ich, daß sie noch das Ärgste unterschlagen hat . . . Nachher tranken diese selben Leute höchst vergnügt ihren Chianti miteinander. Und dann denke dir einen von deinen Vettern; für den tausendsten Teil hätte der schon seine zehn Duelle auf dem Hals gehabt; womit ich nicht sagen will, daß ich das intelligenter finde. Nun aber wollen wir Kaffee trinken; so gleich nach dem Schlafen kann ich schlecht diskutieren. Und dann kommt ja auch die Rey; da nimm dann vom russischen Tee, und in der Dose sind noch Biskuits.« – »Nein, Mama, das sind Versteinerungen und, was noch schlimmer ist, sie sind wieder weich geworden, und man sollte auf die Dose schreiben: ›Wenn wir Mumien erwachen.‹ Aber Minna hat Brioche gebacken.« Brioche! sann Ihre Exzellenz. Sie kannte das Rezept: Man nehme zehn Eier, so begann es in der sorglos-selbstverständlichen Art alter, ererbter Kochbücher, die auf Landgütern entstanden sind. Brioche . . . Ja, und dann diese Rivierarosen; sie ahnte, aber sie forschte nicht; Gabris goldenes Armkettchen war seit einiger Zeit verschwunden. Ganz im geheimen war Ihre Exzellenz eifersüchtig auf Sylvia de Rey, zum Teil wohl, weil diese, ganz unabhängig und im Alter zwischen Mutter und Tochter stehend, sich so gar nicht bemuttern ließ; denn sie war den Vierzigen nahe, vielleicht sogar 9 darüber hinaus, und näherte sich dem Lebensabschnitt, wo Frauen sich gern im Hut photographieren lassen und morgens beim Erwachen nicht so selbstverständlich reizend aussehen wie zwanzig Jahre früher. Mit blondem, von der Stirn sich aufbäumendem Haar – dithyrambisches Haar hatte es jemand genannt –, mit kleinen blassen Sommersprossen über den Backenknochen, grad unter den Augen, wo die Haut anfing, wie zartverknittertes Seidenpapier zu wirken, die freie Stirn fast zu groß für eine Frau, mit langen, feinen Nüstern, hatte sie etwas von einer reizenden, etwas ramponierten Muse; in Momenten der Abspannung erinnerte sie aber in fast rührender Weise an ein müdes, trauriges Pferd. Doch das Grübchen, das in ihrer Wange geisterte, führte sein Eigendasein; das war für die Eingeweihten, dachte Frau von Alweyden und lächelte vor sich hin.

Marie Gabriele war ja nun wie verhext, und wenn die Mutter ehrlich mit sich gewesen wäre – aber wer ist's in solchen Fällen? –, hätte sie erkannt, daß ihre Ergebung in diese Tatsache nicht ganz echt war, sondern auf der Erkenntnis beruhte, daß derartige Fieberzustände, wenn sie erst ihren Höhepunkt erreicht haben, von selbst wieder ins Normale zurücksinken. Denn, wie das Gesangbuch es so erstaunlich vernünftig ausdrückt: jedes Ding hat seine Zeit. Und Ihre Exzellenz war im Gesangbuch außerordentlich bewandert.

Fieberzustand war's nun eigentlich nicht; jedenfalls ein sehr beherrschter. Es paßte das überhaupt nicht zu Gabris 10 etwas verträumter Art. Nur noch sorglicher, eigener war sie um die Mutter bemüht. Dieser waren freilich gewisse Raffinements der Höflichkeit, die sich die Tochter neuerdings angeeignet hatte, recht unbequem. Auch merkte sie Sylvies Inspiration dabei, und das machte sie ihr nicht lieber. Wie zum Beispiel, daß, wenn immer Frau von Alweyden das Zimmer verließ, Gabri von ihrem Sitze aufsprang, um ihr voraneilend die Tür zu öffnen. Gräfin de Rey hatte diesen Akt der Courtoisie an einem todkranken Engländer gerühmt, der bis zuletzt seiner Frau gegenüber Kavalier geblieben war. Nun flog auch Gabri auf, wie der Vogel vom Telegraphendraht. Wenn es doch keine Türklinken gäbe, dachte Ihre Exzellenz, denn es machte sie nervös. Aber als lebenskluge Frau ließ sie sich nichts merken.

Die Kaffeetassen waren kaum weggeräumt, da klingelte es, und die Gräfin trat ein, den Fuß ein wenig schleppend und wie immer zunächst etwas geistesabwesend. Ihr weiter, weicher Mantel, ihr Täschchen und ein dicker Veilchenstrauß lösten sich selbsttätig von ihr los, als hätte sie's ihnen befohlen. Nun stand sie, schlank und doch fließend, und küßte mit ritterlicher Gebärde Frau von Alweydens Hand und war umduftet von Veilchen und Sandelholz und dem Aroma erlesener Zigaretten. Man setzte sich. Mit dem kleinen, gewundenen Turban hatte sie, trotz ihrer Blondheit, etwas von Scheherazade, weich zusammengekauert auf dem Diwan, die Hände im Schoß. Scheherazade – ja, aber porträtiert von Gainsborough. 11

Das Gespräch wurde lebhaft, denn öde Stellen gab es nicht, wo sie dabei war. Der Wagnersche Zyklus, vom neuen Kapellmeister einstudiert, war das Thema. Heute aber sollte er Fidelio dirigieren, und man war gespannt auf seine Wiedergabe des Klassischen. Sylvia de Rey war eine leidenschaftliche Hörerin und galt aus diesem Grund bei Musikern für eine Kennerin, was sie in der Tat war.

»Sie müssen Gabri heut abend freigeben, liebste Exzellenz,« sagte sie. »Die Feramor tritt zum letzten Male auf, und gerade als Leonore ist sie einzig.«

»Wir haben aber heute Leseabend mit Wencken; und er reist schon so bald,« sagte Frau von Alweyden.

»Oh, er geht gewiß auch ins Theater, Mama.« Marie Gabriele sprach rasch, etwas verlegen; sie fühlte die Augen der Freundin auf sich ruhen.

»Soll ich dich also abholen,« sagte die Gräfin, ihr war es von Anfang an beschlossene Sache gewesen: »ich fahre um Sieben vorbei.«

»Ja, ich werde bereit sein.«


In der kleinen Proszeniumsloge, dicht an der Bühne, war es dunkel. Marie saß da geborgen, Sylvie de Rey etwas erhöht hinter ihr. »Die Jugend muß vorn sitzen,« sagte sie, die mit Beflissenheit von ihrem Alter redete. Sandelholz wehte über Maries Haar, wenn die Gräfin sich bewegte. Oh, der Kopf war ihr schwer, gern hätte sie ihn zurückgelehnt, der anderen in den Schoß, und geweint, 12 geweint, bei diesem himmlischen Säuseln der Ouvertüre, eben jetzt, wo die Geigen einsetzten mit dem leisen, wilden Motiv, das immer wieder auftaucht in neuen Tonarten, neuer Höhenlage, wie eine bange Seele zwischen Wogen auftaucht, suchend, suchend, windgetrieben . . . Aber Sylvie haßte Gefühlsausbrüche. So saß sie wie gelähmt.

Wencken stand im Parkett; ganz rechts an einer Säule. Er hatte sich nach der Loge hin verbeugt, als er noch während der Ouvertüre hereinkam. Sylvie zog die Brauen in die Höhe. Das war wieder so eine Botokudenmanier, dachte sie ärgerlich. Er war mit jener ungeschickten Behutsamkeit aufgetreten, wobei die Stiefel erst recht knarren; gerade während eines Pianissimo. So etwas wirkte lächerlich. Um so besser, dachte sie.

Die Feramor sang ihre große Arie. Seltsam, dachte Marie Gabriele, sobald der Solist hervortrat, und war's auch der genialste, für sie war der eigentliche Zauber dahin. Wie anders ergriff sie ein Orchester. Wortlos, gewaltig, wie ein rauschender Wald. Aber als dann das Quartett begann, das unvergängliche, erst eine Stimme, dann die anderen, Takt um Takt sich entfaltend, wie sich ein Blumenkelch auseinandertut – da zerschmolz ihr das Herz in unaufhaltsamer Wonne: »Mir ist so wunderbar . . .« nur die ersten Worte konnte sie unterscheiden.

Im Zwischenakt erschien Wencken in der Loge. Wie immer, wenn er im Abendanzug war, wirkte er unbehaglich. Von Musik verstand er nichts, aber er meinte deutlich zu fühlen, wie Beethoven das Innere des Zuhörers 13 veredelte. Denn jeder Komponist hat sein besonderes Merkwort. In diese Kerbe hieb auch er und meinte es aufrichtig; ebenso mußte das »Hohelied der Treue« herhalten.

Marie Gabriele, die an plötzlichen Erkenntnisblitzen litt, fragte sich mit Unbehagen: Was hilft ihm nun sein Edelmut und sein Wissen und seine Treue? Wär's mir nicht eben lieber, er wär' das alles nicht, aber er ließe in Gottes Namen Beethoven in Ruh und seine Krawatte rutschte ihm nicht über den Kragen? In der Artillerieuniform war diese letztere Katastrophe unmöglich gewesen. Aber mit der Erinnerung an damals kam auch schon Reue über ihre Oberflächlichkeit. Beschämt wandte sie sich wieder der Handlung zu. Florestans Grab wurde gegraben. In der technisch anfechtbaren Weise, wie solche Dinge auf der Bühne vor sich gehen. Ein mittelgroßer Stein kollerte über die Bretter; Rocco lehnte erschöpft auf seinem Spaten; die Feramor hielt die Laterne. Sie war wundervoll in ihrer weidenhaften Schlankheit; mit zerzaustem Kopf und bräunlicher Hautfarbe glich sie einem schönen Savoyardenjungen. Nun reichte sie dem Gefangenen Wein und Brot; nun sprach sie gedämpft die wenigen Worte. Als würde eine edle Geige mit der Sordine gespielt . . .

Florestan, wie so häufig, war nicht auf der Höhe. Aber so, im Halbdunkel, konnte er angehen. Der böse Gouverneur, schwarz und silbern, wie sich's für einen Bösewicht gehört, trat auf; er zückte den Dolch, seine Rache zu 14 vollenden. Aber die Feramor machte einen Satz wie eine Wildkatze, sie warf sich dazwischen, oh, sie hatte eine Pistole! . . . So standen sie, Schicksal gegen Schicksal, und der die Waffe länger, unbeweglicher dem anderen entgegenhielt, würde Sieger bleiben. Hin und her wogte das begleitende Orchester, eine angstvolle See; nun schwieg es. Immer noch starrten die beiden sich an, versteinert. Da, wie die Sehnen der Hand in höchster Verzweiflung sich spannen, ertönt der Trompetenruf, einmal, zweimal, der rettende, richtende, und der Dolch klirrt zur Erde . . . Und nun: »O Du namenlose Freude!«

Es war zu Ende. Fidelio dankte, erschöpft, ein wenig unbeholfen, mit großen, brennenden Augen. Sylvie war ganz vorn an die Logenbrüstung getreten, sie klatschte und winkte, sie war der Bühne ganz nah . . . Da ging ein erkennendes Lächeln über das eigenwillige Gesicht der Sängerin. Sie war ja eine ihrer Schützlinge, ihrer Entdeckungen gewesen; Gräfin de Rey hatte ihr die Wege gebahnt. Ja, wenn sie etwas in die Hand nahm, war es wohl ziemlich sicher ein Erfolg.

»Du ißt doch bei mir zu Nacht?« sagte sie, wie sie ihre Mäntel umnahmen. »Luzie wird sicher noch kommen, nachher singt sie uns etwas, das ist dann immer am allerschönsten.«

Gabris Augen wurden dunkel. Ach, warum konnte dieser Fidelio nicht ruhig zu Bett gehen; er mußte doch gewiß todmüde sein, nach dieser angreifenden Rolle . . . Luzie! der Name klang recht gesucht. 15

»Felix Rüdiger kommt auch,« fuhr Sylvia fort. »Er trifft heut abend ein, ich hatte vorhin ein Telegramm. Dein Vetter, nicht? oder Onkel?«

»Mamas Vetter; ich weiß nicht, wie man das nennt.« – »Ja, so richtig onkelhaft ist er noch nicht, aber auf dem besten Wege,« sagte Sylvie. »Du mußt ihn doch endlich richtig kennen lernen, meinen Freund und Nachbar und Besitzer eures Stammguts.«

»Ach, Sylvie, das wäre eher ein Grund dagegen.«

»Unsinn, das mußt du überwinden. Du bist zu wertvoll, um solche Kulissen zu brauchen. Gewöhne dir meine Nomadennatur an, man soll sich nicht an Mauersteine klammern.«

»Kulissen . . . ich weiß nicht, Sylvie, es war doch Mamas alte Heimat, und dann wieder nach Papas Tod lebten wir dort, und ich hab's in der Erinnerung als etwas sehr Schönes. Unbeschreiblich viel Rosen und ein kleiner See, ganz verschilft, ich träume noch davon. Es war sehr hart damals, fort zu müssen. Aber verzeih, ich muß heute abend nach Haus, ich hab's versprochen.«

»Ja so, der vortreffliche Wencken. Er ging ja auch nach dem ersten Akt. Also gut, ich werde dich absetzen. Schade. Nun, hoffentlich ist die Vorlesung beendigt. Ich habe diesen grünen Heinrich nie zu Ende lesen können. Das geht mir alles zu sehr im Ratsherrenschritt. Nur immer behaglich. Natürlich Wenckens auteur préféré

»Ach, der arme Wencken, von Behaglichkeit war in seinem Leben wenig, und auch jetzt nicht.« 16

»Ja, die, meint er, sollst du ihm bescheren. Ich hab' einmal in ein deutsches Kochbuch geblickt. Da stand: Samstags Kartoffelgemüse; dem Hausherrn eine Taube. Das wär' wohl so das Ambiente. Kind, ich warne dich. Du bist im Grunde eine wählerische kleine Person, und was du Einfachheit nennst, ist im Gegenteil äußerstes Raffinement. Du begehrst so gut wie nichts, aber was dir nicht gefällt, eliminierst du; ganz unbewußt, gewiß, aber gerade das ist der allergrößte Luxus auf Erden. Ja, ich weiß, im einfachsten, kahlsten Zimmer in einem kleinen Alpenhotel fühlst du dich am wohlsten, aber siehst du, so ein getünchtes Zimmerchen in einem Berghospiz ist etwas sehr Erlesenes, mein Freund. Erst wenn du mir beweisen kannst, daß du dich in einer Wohnung mit Kamelsackmöbeln und einer widerlichen Tapete und Kaulbachs Heidenröslein über dem Pianino wohlfühlen kannst, will ich an die Echtheit deiner Askese glauben. Aber beweise es mir lieber nicht. Denn meine Angst ist ja gerade, daß dir dein Herz dumme Streiche spielen könnte, oder was du dein Herz nennst; eigentlich ist's ja nur Mangel an Enthaltsamkeit dem eigenen Mitleid gegenüber; denn im Mitleid plätschert sich's so schön.«

»Ich weiß nicht, warum du mich immer mit Wencken quälst. Er ist Mamas Freund, er ist für Arved sehr gut gewesen, und wir schulden ihm viel Dank. So ist er auch mein Freund geworden. Das ist doch ganz einfach.«

»Ja, einfach ist vieles. Einfach ist es auch, Vergißmeinnicht zu pflücken und dabei im Sumpf steckenzubleiben. 17 Wenn man nicht als Frosch geboren ist, ist das Milieu dann doch mangelhaft.«

Marie Gabriele aber sah in ihrer alten Sealjacke wie eine kleine Fischotter aus, und Fischottern lieben das fließende Wasser. Bei Sylvie war immer fließendes Wasser. Sie wußte so viel, hatte alle neuen Bücher, korrespondierte mit den merkwürdigsten Menschen und griff helfend in so manches Schicksal ein. Nicht, daß sie sich darum bemühte. Es war, als zöge sie die Menschen an, daß sie zu ihr kamen mit ihren Problemen, ihren Wünschen und Ambitionen. Und immer verhalf sie ihnen zum Ziel. Vielleicht verschwieg sie die mißglückten Experimente; Marie Gabriele hatte bisher von keinem gehört. Mama nannte Sylvie den »wohltätigen Despoten« oder auch, wenn sie Gabri ein bißchen frotzeln wollte, »die Marquise von Carabas«, und damit meinte sie natürlich, daß ihre kleine, diensteifrige Gabri der gestiefelte Kater sei. Mamas Aussprüche waren schrecklich, denn es war leider immer etwas Wahres daran. Man konnte sich Sylvie vorstellen, wie sie durch die Provinzen fuhr, Bittschriften entgegennehmend, hier ein Hospital, dort einen Kinderhort gründend, nicht zu gedenken all der Ehen, die sie freundlich-peremtorisch stiften würde (bei Nikolaus dem Ersten wurde dazu getrommelt, sagte Mammina),und hinter ihr her, wie ein cortège d'honneur, an allen Landstraßen blühende Obstbäume und bestellte Äcker, mit neueingebürgerten Feldfrüchten, die märchenhafte Ernten versprachen, und die sie, wie der große Friedrich die Kartoffel, den 18 rückständigen Bauern aufgedrungen hatte. Ja, und man konnte sich ausmalen, wie sie an bestimmten Festtagen in dem von ihr gegründeten Mädcheninstitut, keine säuerliche Maintenon, sondern eine bezwingende Charmeuse, sich mit zuckendem Grübchen die Tänze und Aufführungen der jungen Damen ansehen würde, die mit Girlanden und Gazeschleiern an ihr vorbeizogen, halb ohnmächtig vor Glück, wenn während der tiefen, bei Monsieur Beauval einstudierten révérence ihr Lächeln, ihr Blick ihnen begegnete. Ach, und nun war sie, Marie Gabriele, die bisher so scheu wie irgendein Schmaltier bei seiner Mutter dahingelebt hatte, Sylvies neueste Entdeckung. Sie merkte es wohl, daß diese Freundschaft nicht so sehr ihr galt, als dem, was Sylvia aus ihr machen wollte. So war ja wohl die Liebe des Künstlers für sein Werk. So mochte der Bildhauer vor dem Marmorblock stehen: Erwache! Aber ihre Hingabe war in dem ersten, berauschenden Stadium, wo sogar die Vivisektion seiner selbst zu einem aufregenden Genusse wird. Auch wissen junge Menschen nur vom Hörensagen, daß Gefühle dem Wandel unterworfen sind, und daß, was uns heute freut, uns nicht notwendigerweise übermorgen freuen wird; jedenfalls halten sie die eigenen für Ausnahmen. So schloß sie die Augen und empfing Sylvies Auszeichnung wie eine erste Kommunion. Diese hatte in der jungen Freundin einen, wenn auch noch schlaftrunkenen, so doch erweckbaren Geist gespürt. Aber wie man den ungeübten Bergsteiger nicht gleich auf das Matterhorn mitnimmt, sondern ihn durch maßvolle 19 Strapazen sich erst stählen und trainieren läßt, wie dem neubekehrten Vegetarier ein tägliches Ei zugestanden wird, ehe er zu der reinen Nuß- und Salatdiät übergeht, so zeigte Sylvie einstweilen ihre mildesten Seiten. Nur ab und zu versetzte sie ihrer neuesten Eroberung solche kleinen ironischen Sturzbäder.

Sie näherten sich der Alweydenschen Wohnung. Ein vorüberschwebender Laternenschein fiel auf Sylvies feines, müdes Antlitz. Gabri legte ihr schüchtern die Hand in den Schoß, die innere Fläche nach oben, als warte sie auf eine Gabe. »Sylvie,« sagte sie, »du mußt nicht klug mit mir reden, das macht mich wirr. Es war so wunderschön heut abend, und wie kann ich dir je danken für alles was . . .«

Die Andere legte ihre Hand auf die bittende Hand, leicht, nur einen Augenblick lang: »Du bist ein Schäfchen,« sagte sie, und gerade hielt der Wagen. »Aber wenn du nicht so pflichttreu wärest, gefielst du mir nicht so gut. So wie du bist, bist du eine kleine Rarität.«

»Ja,« sagte Marie Gabriele und schauerte zusammen, »aber spieß mich nicht auf in deine Schmetterlingssammlung. Erst wenn ich tot bin. Sonst tut's zu weh.«


Beim summenden Teekessel saß Ihre Exzellenz und häkelte. Diese Häkeleien hatten schon öfters katastrophale Wirkungen gehabt, indem sie überall hängen blieben, eine Eigenschaft, die sie mit den Orenburger Tüchern teilten, in die sich Frau von Alweyden einzuwickeln liebte und die 20 sich besonders gern an den Türklinken verfingen, wo sie mit Duldermiene stehen blieb, bis die Tochter oder die vortreffliche Minna sie erlöste. Auch heute rückte Gabri als erstes den Teekessel aus dem Bereich der mütterlichen Handarbeit. Wencken hatte schon seinen gewohnten Platz eingenommen; er sprang auf, als Gabriele eintrat, und in seine Augen kam der treue Hundeblick, der sie abwechselnd rührte und irritierte. Der grüne Heinrich lag zugeklappt auf dem Tisch. Also hatten sie ihn beendet. Sie mußte innerlich lachen. Sylvie hatte einen wahren Haß auf das Buch, sie selbst war davon nicht unbeeinflußt geblieben, und auch Mammina hörte mehr mit Hartnäckigkeit als mit Interesse zu. Warum hatten sie's eigentlich zusammen gelesen?

»Wundervoll war die Feramor,« sagte sie und schälte sich rasch in ihrer jungmädchenhaften Spitzenbluse aus der Pelzjacke – wie warm es hier war, wie stark die Hyazinthen dufteten! Wencken senkte den Blick, er merkte, wie sie seine Bewunderung abschüttelte, und wenn er sie ansah, konnte er doch nicht hindern, daß sie's empfand. So schlank und doch weich, mit der warmen, goldigen Tönung der Haut an Schläfen und Genick, wo das braune Haar im Ansatz flaumig und honigfarben war, mit den Augen, die manchmal heller, manchmal dunkler schienen, aber immer so unergründlich klar wie tiefe Teiche im Wald, mit dem etwas großen, zärtlichen Mund: heut war sie wieder überraschend wie eine Bescherung. Aber dabei legte sich ihm eine Klammer ums Herz und drückte es 21 zusammen. Er trug ihre Jacke hinaus, die an den Ärmeln und vorn, wo die Haken saßen, schon recht abgeschabt war. Er lächelte wehmütig. Oh, jene Nachmittage auf der Schlittschuhwiese, wenn alles aufglühte in der Winterabendsonne und die kahlen Weidenbüsche auf den Dämmen, wie mit der Feder hingezeichnet, gegen den roten Himmel standen; und dann der Heimweg durch den verschneiten Schloßgarten, so totenstill, wo die Amseln über die Wege liefen mit feiner Dreizackspur und aus den Baumkronen Mistelzweige niederfielen mit ihren Alabasterbeeren . . . immer war das gute, treue Jäckchen dabei. Fast andächtig hängte er es draußen an seinen Platz.

Am Teetisch machte Frau von Alweyden es auf ihre Weise der Tochter behaglich. Sie waren einander ähnlich, beide schlank und rasch in den Bewegungen, dann wieder von weicher Trägheit übermannt, wie Katzen und Steinmarder es sein können. Aber die Mutter war kleiner und zierlicher als die Tochter, und wenn sie eingemummelt auf dem breiten Diwan lag, glich sie einer Schmetterlingspuppe. Von eigenartiger, feingliedriger Schönheit, aus töchterreicher Familie, war sie dem sehr viel älteren Manne an den steifen und heimlich doch bewegten Hof gefolgt. Es war weniger Liebe gewesen, als der Wunsch, etwas zu erleben, was sie dazu bewog; auch fiel der Umstand ins Gewicht, daß gerade damals die angebetete junge Prinzessin, mit der sie schwärmerische Freundschaft verband, eine Ehe eingegangen war, die sie in fremde Ferne führte, 22 wofür der allmählich versickernde Briefwechsel keinen Ersatz gab. Herr von Alweyden hatte die Armee längst verlassen und verwaltete die Forsten und Jagden seines fürstlichen Herrn. Schon im Frühling zog seine Frau, die während der ersten Jahre oft leidend war, mit ihrer kleinen Tochter auf das eine oder andere Jagdschlößchen, die dem Hofjägermeister zur Verfügung standen, und sie hatte dort manches erlebt und eingesammelt, was ihr kaum bewußt geworden und sie doch wie ein leises Säuseln bis ins Alter begleiten sollte. Sie lernte das Locken der Käuzchen in ihren Liebesnächten, den Ruf der Ricke, wenn sie ihr Kitzchen warnt, verstehen, sie erkannte die großen, scheuen Raubvögel am Flug, unterschied die Wildspuren und lernte die Namen all der Pilze und Moose. Alte Frauen mit künstlich geflochtenen Haarnestern sammelten Tannenspitzen und Kräuter zum Verkauf an die Apotheken und Bäder: von ihnen hörte sie Märchen und Lieder und viel volkstümliche Weisheit. Und hier auch, in diesen weltabgewandten Tagen, hatte sie ihre malerische Begabung entdeckt. Beobachtend wie ein Japaner, geduldig wie ein Mönch in seiner Klause, hatte sie den zarten Brustflaum der Buchfinken, die wunderbare Emaillearbeit auf dem Rücken der Kreuzspinne, den Samt der Hummeln, in seidenen Disteln wühlend, erst zur Kurzweil ihres Kindes, dann zur eigenen Freude, treu und emsig abgemalt und ganz unbewußt etwas hineingelegt, das in den Vorbildern nicht vorhanden war: ihre große, ratlose Einsamkeit. Denn ihre Ehe mit Herrn von Alweyden war 23 wie ein wunderlich kühles Maskenspiel. Voll Höflichkeit und Rücksichtnahme auf seiner Seite, voll scheuer, wenn auch nicht unfreundlicher Reserve auf der ihren. Wäre das erste Kind ein Sohn gewesen, so wäre es wohl dabei geblieben.

Die Gattin des Hofmarschalls, der, ebenso wie Herr von Alweyden, Fideikommißanwärter war, hatte erst nach fünf kleinen, flachsblonden Töchtern, die alle mit derselben merkwürdigen Deformation der Ohrläppchen zur Welt gekommen waren, den unentbehrlichen Sohn produziert. Sie war eine kleine, magere Blondine, die früher hübsch gewesen, aber durch zu rasch aufeinanderfolgende Geburten ausgemergelt, etwas Raubvogelartiges bekommen hatte und später eine feindliche Rolle in Frau von Alweydens Leben spielen sollte. Diese machte sich über den noch ungewissen Grundbesitz eines noch ungeborenen Sohnes keinerlei Sorgen. Wenn die alte Frau von Rüdiger Fragen nach dem ausbleibenden Dauphin an sie stellte, ähnlich denen, die man in Maria Theresias mütterlichen Ermahnungen an Marie Antoinette nachlesen kann, führte sie mit ausweichendem Lächeln den Vers an, den sie seinerzeit bei Pastor Ruhbaum gelernt hatte:

»Was sind der Erde Güter?
Eine Hand voll von Sand,
Kummer der Gemüter . . .«,

denn es war doch zu merkwürdig, wie alle diese frommen Christen nach Grundbesitz gieperten. Indessen hatte sie 24 auf Wunsch der Mutter, der kleinen, nach der angebeteten Prinzessin »Marie« benannten Tochter auch den Namen Gabriele beigelegt, denn das, sagte Frau von Rüdiger, sei der Name der Verkündigung und erfahrungsmäßig von glücklicher Vorbedeutung. Im übrigen badete sie Kreuznach und Fichtennadel, das eine zum Anregen, das andere zum Beruhigen: und so erschien denn nach mehrjähriger Pause, und ohne besondere Beschwerden, der süße kleine Arved, ihr zweites und letztes Kind. An einem Sommerabend, als der Jasmin durch die Fenster hereinduftete. Sie hatte sich, trotz mißbilligender Warnungen der Wochenpflegerin, einen großen Busch davon ans Bett stellen lassen, und dieser Duft sollte später für sie zu fast unerträglicher Erinnerung werden. Denn als sie so in den weißgestickten Negligés und Spitzenhäubchen jener Epoche in die Wiege ihres Söhnchens hineinstrahlte, konnte sie ja nicht wissen, daß sie zwanzig Jahre später an seinem Sterbelager stehen und mit fast blindgeweinten Augen sagen würde: es ist besser so!

Mit der gekräftigten Gesundheit kam auch neuer Lebensdurst, und ein lebhafteres Dasein wurde möglich. Die in Waldeinsamkeit verbrachte Zeit wurde immer kürzer bemessen. Das Stadtleben begann früher und hörte später auf, und im Sommer ging der Hof und mit ihm alle Freunde und Bekannten an die See. Auch sie mit beiden Kindern. Herr von Alweyden fuhr allein auf seine Inspektionsreisen. Winters aber, wenn sie wieder im 25 Stadthaus eingezogen waren, saß er wie ein fröstelnder Grande auf alten Bildern an seinem Kamin, eine Pelzdecke über den hageren Beinen, studierte Familienpapiere und alte Baupläne, oder las schrullige englische Autoren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, für die er eine Vorliebe hatte. Tristram Shandy lag immer in seiner Nähe, ab und zu griff er danach, las ein paar Seiten, wobei er einen kurzen amüsierten Laut von sich gab, »Ho«, fast wie ein Seelöwe. Diesem und ähnlichen Werken verdankte er vielleicht die ausgeprägten Krähenfüße an seinen Augenwinkeln, denn im übrigen fand er – ob aus Temperament oder anderen Ursachen – das Leben nicht zum Lachen angetan. Dort, in der Nähe des Kamins, machte Gabriele am Abend Schularbeiten, mit kleinen Schauern der Andacht zwischen den Schulterblättern, wenn Papa im Vorbeigehen geistesabwesend über ihren kleinen, braunen Kopf strich. »Fischotterchen« sagte er manchmal . . . Dann aber konnte die Tür aufgehen, und Mama, duftend und in Spitzenwolken angetan, zeigte sich, ehe sie ins Märchenland der Bälle und Opernlogen entschwand. Sie gab dem Manne, der dazu ein seltsam gequältes Gesicht machte, einen zierlichen Kuß auf die Stirn; aber die Kinder küßte sie mit Inbrunst, ja, es war, als klammerte sie sich an sie an. Aber jungen Kindern bereitet Leidenschaftlichkeit nur Unbehagen, und wenn sie dies merkte, beherrschte sie sich gleich wieder; denn sie war eine ungewöhnlich zärtliche und aufmerksame Mutter, wenn auch gar nicht im allgemeinen Sinne 26 kinderlieb, und besonders seit Arveds Geburt hatte sich diese Eigenschaft bei ihr entwickelt. Ja, sie wurde mit ihrer Mutterliebe oft geneckt. »Ach,« sagte sie dann, »es ist wahr, ich bin sogar neidisch auf die Katze, die den ganzen Tag bei ihren Jungen im Korb liegen darf.« Und als der kleine Arved eines Abends besonderes Wohlgefallen an ihrem Perlenschmuck zeigte, nahm sie ihn ab und legte ihn auf sein Bettchen, als sei dies die selbstverständlichste Sache von der Welt. Mit ihren strahlend schönen Schultern, ihrem stolzen und doch reizenden Halsansatz machte sie aber an jenem Abend, schmucklos wie sie war, das allergrößte Furore.

Nur selten, bei großen Hoffesten, raffte sich Herr von Alweyden auf und begleitete seine Frau. Schmal und rheumatisch und ziemlich hölzern, aber sehr Grandseigneur in seiner leisen, dünnblütigen Art. Die Kinder lasen die geheimnisvollen Worte auf seinem Ordensstern und durften ihm drei abgezählte Tropfen Eau de Portugal aufs Taschentuch tröpfeln, während er, kühl-ironisch aber gottergeben, auf die immer unpünktliche Mama wartete. Am nächsten Tag gab es dann »Hofbonbons«; von allen Prinzen und Prinzessinnen war »die Mustermama« bedacht worden: kunstreiche Elaborate aus Silberpapier und Tüll und Goldflittern, die in ihrem Innern eine dem Äußeren nicht ebenbürtige Tafel Gerstenzucker bargen, wie auch ein Rosapapier mit irgendeinem Vers oder Ausspruch, weltklug wenn's französisch war, und wenn's deutsch war, sentimental. 27

Sobald es Frühling wurde, fuhr Seine Exzellenz wieder auf Inspektionstournee in die unermeßlichen Forsten. Nur noch die allernötigste Zeit verbrachte er in dem Stadthause mit den gekrönten Wappen über dem Portal. Er konnte dort schwer atmen, denn er litt an Asthma, und wenn auch Geheimrat Wohlgemuth es für rein nervös erklärte, so war es deshalb doch nicht minder qualvoll. Aber sobald die hohen Baumkronen über ihm rauschten, wurde ihm leichter. Ein junger, gertenschlanker Förster, der ihm ergeben war, bediente und begleitete ihn. In seinen Armen hauchte der Oberhofjägermeister, vom Herzschlag getroffen, unter grünen Wipfeln sein Leben aus. Das letzte, was er empfand, war die feuchte Zunge seiner alten Jagdhündin, die ihm die Hand leckte. Hätte er sich's aussuchen dürfen, nicht anders wäre sein Ende gewesen.


Wencken las. Er hatte eine farblose, aber kultivierte Stimme. Der grüne Heinrich war beendigt. Heute abend hatte er Kellers Sinngedicht begonnen; fertig lesen müßten sie's allein; denn in den nächsten Tagen reiste er. Aber Marie Gabrieles Gedanken schweiften ab, zu Dingen die Sylvie gesagt hatte, heute und andere Male, die in sie hinein gesunken waren wie Kiesel in einen Brunnen. Sie hatte sich eingebildet, sie liebe Sylvie so innig, so aus tiefer Notwendigkeit, weil sie schön und klug und gütig war, ja und, noch darüber hinaus, etwas Geheimnisvolles an ihr sei, wie das Kräutchen Nießmitlust an der 28 Zauberpastete im Märchen; dem mußte sie nachgehen wie ein kleiner, anhänglicher Wachtelhund. Aber Sylvie hatte sie zwischen blonden Wimpern belustigt angesehen. »Oh, du gutes Kind,« hatte sie gesagt, »es ist ja gerade umgekehrt. Das Kräutchen Nießmitlust, das sitzt in dir selbst, und das und nichts anderes ist die tiefe Notwendigkeit, von der du faselst. Und darum behängst du mich wie einen Christbaum mit lauter entzückenden Eigenschaften, die ich nicht habe, und wenn einst der Tag kommt, daß das Kräutchen seine Kraft verliert, wirst du mir sehr ungerechterweise vorwerfen, daß ich nicht so bin wie du dir's weisgemacht hast . . .« Und dann hatte sie noch gesagt: »Ich – ja –ich liebe weil; ich weiß warum. Aber man muß erst viel Wolle an den Hecken gelassen haben, bis man's versteht, Zeichen und Wunder zu deuten . . .« Und es war richtig, Sylvie konnte die Menschen, sogar solche, die sie sehr zu lieben meinte, auseinandernehmen wie ein Kind seine Arche Noah. Das nannte sie Psychologie; eine schreckliche, kaltblütige Sache. Und doch war sie selbst immer umgeben wie von einem leisen, lockenden Nebel.

»Kind, du idealisierst die Marquise von Carabas,« sagte Mama. »Du wirst eines Tages dastehen mit dem Finger im Mund: es war nur eine schöne Kunstfigur! Davor möcht' ich dich bewahren.«

Aber davon verstand Mammina nichts, nein, Gabri idealisierte gar nicht, sie witterte es sofort, ach, schmerzlich, wenn etwas nicht ganz echt war, wenn ihre kühne, 29 großzügige Amazone kleine Machiavellparaden schlug; aber wenn's ihr auch sekundenlang weh tat, brauchte Sylvie bloß zu lachen, tief, wie mit leisem Glockensprung, und einen ihrer selbstpersiflierenden Aussprüche zu tun, und es war alles wie vorher, und gern wäre sie vor ihr niedergefallen und hätte ihre Knie geküßt; ach, es war grausam, daß sie es nicht durfte. So viel jünger als die andere, und qualvoll scheu ihr gegenüber, kam es doch manchmal über sie wie Mutterschmerz, weil sie nicht wagte, alles zu geben, was in ihrem Herzen wuchs und drängte.

Wencken hielt mit Lesen inne; das Kapitel war zu Ende. Marie Gabriele fuhr zusammen; sie hatte kein Wort gehört. »Es sind so schöne Bilder,« sagte Ihre Exzellenz vermittelnd; »aber es liegt einem doch fern. Diese Luzie hat etwas von einer Saaltochter. So zuverlässig. Aber ich komme mit euern Skandinaven eher zurecht. Überhaupt Ibsen; wie menschlich! Der arme Mensch in Nora, der mit der unheimlichen Krankheit, den hätte ich gern gepflegt. Sonst zwar . . . diese ewigen Pastoren, das muß ja schrecklich sein in Norwegen. Und dann haben sie immer Gewissensbisse und wollen sie betäuben und trinken plötzlich am hellen Vormittag Champagner. Und immer der Fjord. Nein, das liegt mir nicht. Am schönsten waren doch die Sachen von Stifter, mein' ich, da kam ich gleich mit; wie Grillen im Heidekraut, so heimatlich. Aber in dieser Geschichte heut ist mir immer, als ob ein Bär Blumen verteilte, so gravitätisch federnd in der Gangart . . .« 30

»Ja,« sagte Gabriele, »oft ist mir's auch so bei ihm, aber seine Gedichte, o nein, die rauschen wie ein Strom.« Denn sie sah, wie Wencken unter der frivolen Aburteilung seines Abgotts litt. Und, die Augen verschleiert, wie von schüchtern aufsteigenden Quellen, sprach sie leise vor sich hin:

»Recht im Unglück, herrlich Schauen,
Wie das Meer im Wettergrauen,
Göttlich grollt's am Klippenrand,
Perlen wirft es auf den Sand . . .«

Doch sie wurde rot, als sie, aufschauend, Wenckens anbetendem Blick begegnete. »Ach, man hat so seine Verschen,« sagte sie, verlegen lachend. »Aber Mutter ist mir über, sie hat einen fabelhaften Vorrat; so ehrpußlige Gesangbuchverse und dann Klaus Groth, und kleine, süße italienische Ritornells; und alles zur rechten Zeit . . .«

Wencken erhob sich; die Uhr auf dem Schreibtisch hatte rasch und silbern elf geschlagen. Wie anders war es sonst, dachte er; man stand dann immer noch ein bißchen herum und verabredete das nächstemal. Jetzt hatte das Weggehen etwas Bedrückendes. Nun – er war um einen langen Urlaub eingekommen.


»Der Arme,« sagte Ihre Exzellenz. »Ich muß immer an Brackenburg denken. Er ist ein ganz vortrefflicher Mensch, und ich werde nie vergessen, was er uns damals gewesen ist. Wenn du ein bißchen anders wärest, 31 würde ich dir zureden. Aber so – nein, das wär' doch, als sollte ich meine kleine Sèvrestasse in Minnas Glasschrank sperren. Er hofft ja auch nicht mehr, und das ist gut. Wenn er einen auch schrecklich dauern kann. Aber das Mitleid soll nicht der Souffleur der Liebe sein –das rächt sich allemal.«

»Ja, kann man denn gar nicht gut Freund sein miteinander, ohne daß es gleich das sein muß?«

»Gabriezel, mach' dir nichts weis. Du bist anfangs viel zu lieb mit ihm gewesen. Denk' nur an die Schlittschuhbahn. Ja gewiß, er tat dir leid und er ist so unendlich gut gewesen, damals, in unserem großen Leid; und dann kannst du ja niemals nein sagen, und wenn dir ein Droschkenkutscher seine lahme Kracke anpreist, machst du auch so verständnisvolle Augen und erweckst ihm Hoffnungen. Du bedarfst der Leitung, und ich bin wohl nicht ganz dafür gemacht. Wenn ich eine pflichttreue Mutter wäre, würde ich dir trotz alledem zureden; denn er würde dich auf Händen tragen, und das Philiströse ist rein äußerlich, im Grunde ist nichts Kleinliches an ihm. Wie rührend ist er zu seiner alten säuerlichen Schwester, wie generös! Aber ich bin auf meine alten Tage romantisch geworden, und wenn auch jede Ehe früher oder später das Bitzliche verliert – aber am Anfang soll's moussieren, sonst ist es gar zu triste, wenn man dann in der Erinnerung gräbt. Vorhin hast du mich mit meinen Verschen aufgezogen, da will ich dir eins sagen, das mir immer einfällt, wenn ich Brautpaare fahren sehe, in Gehrickes 32 schrecklicher Hochzeitskutsche mit den Silbertauben auf den Laternen:

Ach, als du jung warst, standen weit und breit
Viel hundert Seitenpfade dir bereit,
Da rief der Wald, der Fels, das tiefe Tal,
Und du warst jung und hattest noch die Wahl.
Was gingst du diesen Weg, der staubbedeckt
Und schnurgerade sich zum Ziel erstreckt?

Ja, Kind, das ist alles schön und gut mit der Wahl. Und man denkt, man wählt, und derweil wählt es einen.«

 


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