Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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VIII.

Die Frau Torfmeister brachte einen neuen Waffelberg – nein, aber die Herrschaften essen ja gar nichts, sagte sie und schenkte ein. Der Wabenhonig duftete, und die 118 Bienen spürten den Duft und kamen neidisch herbei. Der Tisch war dicht am Haus unter dem Birnbaum gedeckt, daneben der Gemüsegarten, wo Salat und Bohnen in der schwarzen Moorerde üppig fortkamen, aber auch Goldlack und Vergißmeinnicht und brennende Herzen. Vor ihnen breitete sich das Moor dunstig glitzernd bis in die Ferne, mit unzähligen jungen Birken, wie eine Herde darauf verstreut. Der Torfmeister hatte sich auf Felix' Wunsch zu ihnen gesetzt, er erzählte von früher, von Onkel Wichart und von den ganz alten Herrschaften, die er selber nicht mehr gekannt hatte, aber das wußte er von seinem Vater. Ja, es seien feine, stille Leute gewesen, die alte Gnädige aus einem Hause, wo es streng herrnhuterisch zuging, eigentlich fand sie das Volk hier zu leichtsinnig, besonders das viele Tanzen war ihr ein Greuel, aber der Herr war anders, der stellte sich selber hin und spielte die Geige, wenn die Dorfmusikanten ausruhten. Sonst aber – gut war die alte Baronin gewesen, das mußte gesagt sein; alle segensreichen Einrichtungen stammten von ihr, die Kleinkinderschule und die Feuerspritze und das Leichenhaus. Früher, da blieben die Toten drei Tage im Haus liegen, auf Bretter gebunden, die bemalt waren mit Totenköpfen und Bibelsprüchen. Ja, das waren die Menschen gewöhnt, sie schliefen daneben ohne Scheu, und daneben wurde auch der Kuchen eingerührt für den Leichenschmaus.

»Schauderhaft,« sagte Felix. »Was hatten die Menschen früher für Magennerven. Bewunderungswürdig. Aber 119 erzählen Sie von fröhlicheren Dingen, lieber Baumann. Hochzeiten und Kindtaufen. Das paßt besser zu diesem herrlichen Kaffee und unvergleichlichen Waffeln, als Ihre greulichen Totenbretter.«

»Ja, Kindtaufen, dafür sorgt Mutter,« sagte der Torfmeister. Frau Baumann, die mit der mildschützenden Gebärde Dürerscher Frauen die Hände über der Schürze gelagert hatte, wurde rot und schüttelte den Kopf.

»Nu, Mieke,« sagte Baumann, »tu doch nicht so. Ein Stall voll Rinder und ein Saal voll Kinder – so sagte meine selige Mutter. Nu, und unser Herr, der sollte auch dran denken, daß die vielen schönen Stuben nicht leer bleiben . . . Immer reisen, reisen, und hier alle Läden zu, und keiner freut sich dran. Je, wenn die alte Gnädige das gewußt hätte! Und Wicharten hat sie auch nicht mehr unter die Haube gebracht, und war so ein guter Mann, der Herr Onkel, so ein bißchen Querkopp und hatte immer was für die Vagabunden übrig. Einmal hat sich einer in der Heumiete versteckt. Und da kommt ein Gendarm und sucht. Und da sieht Wichart, was der Herr Onkel ist, daß ein Zipfel von dem Vagabunden sein Rock vorsieht – ja und da stellt er sich mit dem Rücken dagegen und steht da und raucht, und da stellt sich der Gendarm dazu und hält lange Reden über die Schlechtigkeit der Welt, und Wichart konnt' sich doch nicht rühren und sagt zu allem ja . . . bis der andere endlich wegging. Nachher hat er den Vagabunden noch ziemlich in die Reihe gebracht und hat ihm 'ne Ziehharmonika gegeben, damit verdiente er 120 sich was, wenn die Leute tanzen wollten . . . Ja, das war jammerschade, daß der Herr Onkel nicht geheirat' hat. Es hieß ja, er hätt' es mit einer Kathol'schen, und da machte die alte Gnädige die Ganaschen steif. Und der Herr Pastor Uebelacker hat noch Öl ins Feuer geschüttet! Und auf der anderen Seite waren nun auch die Pfaffen krätsch geworden. Das war ein Disput hin und her. Und schließlich ist das Fräulein mürbe geworden und hat ihm abgeschrieben, und da hat er sich 's Heiraten verschworen. Aber das tut nicht gut. Ein Mann muß seine Ordnung haben und wissen, wo er hingehört. Mutter und ich, nu ja, immer is auch nich Ernt- und Dankfest; aber wenn ich draußen in'n Modder stecke und bin schon halb zur Pogge geworden, dann denk' ich, nu is bald Feierabend, und wenn du heimkommst, hat Mieke all schon 'n schönen heißen Kaffee parat, und denn kommt Anneken und sitzt auf einem Bein und Johanneken aufs andere – und der Ofen bullert. Ja, Herr Baron, das ist das Dümmste noch nicht.«

Er warf Felix einen äußerst verschlagenen Blick zu, der ihn und Marie Gabriele zusammenfaßte, und steckte die ausgegangene Zigarre mit einiger Umständlichkeit wieder an.

Felix war etwas verlegen. »Nun ja, Baumann, Sie mögen recht haben,« und er sah rasch zu Gabriele hinüber. Die hatte aber nichts gemerkt und saß ganz verträumt auf der Bank, den Kopf an das Birnenspalier gelehnt, das kleine Anneken neben sich, ein winziges Mädelchen, das 121 sie mit großen Augen anstarrte. Ihr war wohl. Durch das Geäst fielen die Sonnenflecken aufs Tischtuch, der weiche Kinderkörper durchdrang den ihren mit seiner vogelleichten Wärme; sie hörte die Stimmen der anderen nur undeutlich. Ach, wenn ich noch stundenlang hier sitzen könnte, dachte sie.

Nun setzte sich die Frau zu ihr. Sie sprach von den Kindern, sie hatte die zwei kleinen Mädchen, und ein drittes war gestorben, nun hoffte sie auf einen kleinen Jungen. Dann erzählte sie von den Bienen, was das für Arbeit machte, von Einkäufen in der nächsten Stadt, ihr Mann hätte ihr eine schwarzseidene Bluse versprochen, wenn's ein Junge wäre . . . alles so kleine, einfache Dinge, wo eins dem anderen Rat gibt . . . aber durch alles ging Zufriedenheit; es waren glückliche Sorgen.

Felix saß zurückgelehnt, die Zigarette zwischen den Fingern, mit seinem guten, etwas belustigten Lächeln. Seine rücksichtsvolle Art, einfachen Menschen gegenüber, hatte etwas jugendlich Bescheidenes, das zu seinem schon ergrauenden Haar freundlich kontrastierte. Während seines Lebens in südlichen Ländern, wo das einfache Landvolk eine gewisse höfliche Würde im Verkehr hat und den Menschen aus einer höheren Gesellschaftsklasse ganz unbefangen begegnet, hatte er sich eine Biegsamkeit der Formen im Verkehr mit Untergebenen erworben, die fremdartig abstach von der schroffen, wenn auch im Grund gutmütigen Art der Männer hierzulande. Alles Poltern war ihm ein Greuel. Auch nahm er die 122 Dinge und vor allem sich selbst niemals schwer, ja er redete von so manchem, was den meisten wichtig erschien, in einem Tone milder Frozelei. Damit hing wohl zusammen, daß unter seinen leise angeärgerten Freunden sein Leben für verfehlt galt. Denn eine beharrliche Selbstpersiflage wird schließlich, zur Hälfte mindestens, geglaubt, besonders wenn die anderen ahnen, daß diese Ironie auch sie und ihre Zwecke einschließt. Sylvie hatte vor Jahren versucht, ihn anzuspornen; er sei ja prädestiniert zum Auswärtigen Dienst, sagte sie, durch seine im Ausland verbrachte Jugendzeit, seine Sprachgewandtheit, sein Interesse an fremden Ländern, fremder Kultur. Aber er wollte nicht. Es war ein zigeunerhafter Zug in seinem Charakter und er hatte die verwöhnten Nerven derer, denen es von früh an vergönnt war, in Neigung und Ablehnung frei zu sein. Er fürchtete Fesseln, einen erzwungenen Verkehr mit gleichgültigen Menschen um gleichgültiger Zwecke willen. In seiner Jugend hatte er Akademien besucht, in Künstlerkolonien gelebt. Auch das war anders, als er es sich vorgestellt hatte. Unter einfachen Handwerkern im Süden hatte er sich wohl gefühlt, dieses heitere, gewissenhafte Arbeiten, dies instinktive Gefühl für schöne Fläche und Einteilung hatte ihn bezaubert – hier, unter den Künstlern spürte er oft eine Banalität, eine Verschwommenheit, die sich in nicht ganz echtem Berauschtsein zu höheren Stockwerken hinaufschraubte. Das machte ihm physisches Unbehagen. Er hatte selbst einen sensitiven Geschmack, aber nicht das starke 123 Künstlertemperament, das wie das Meer auch Unechtes und Fauliges verdaut und in eigenem, unbekümmerten Rhythmus seine starken Wellen darüber wegrollt. Auch wurde ihm das Arbeiten, bis zu einer gewissen Grenze, leicht, und seine äußere Lage war zu gut, als daß er's nötig gehabt hätte, durch harte Studien seine Beharrlichkeit zu üben und dabei vielleicht in sich selbst eine stärkere Ader anzubohren. Und wieder war sein kritischer Sinn zu ausgebildet und seine Bescheidenheit zu echt, um nicht die ziemlich nahen Grenzen seiner Begabung zu erkennen. Er war, und er wußte, daß er's war, Dilettant. Aber er fühlte sich nicht bedrückt davon. So hatte er sein Leben gelebt, ohne sichtbares Ziel. Seit dem Tode seiner Mutter, die ein liebenswürdiges Chaiselonguendasein an der Riviera geführt hatte, wozu ihr ein Lungenspitzenkatarrh, an dem sie vor fünfzig Jahren gelitten, den Vorwand gab, war er mehr und mehr auf Reisen gegangen. Reisen, Kunst, die mehr das Aufspüren und Anerkennen Anderer, als eigenes Produzieren bedeutete, eine große Vielseitigkeit in seinen Beziehungen zu Menschen in fremden Ländern, die aber eine fast krankhafte Reserve gegenüber seinen Standesgenossen nicht zu eigentlicher Freundschaft werden ließ, dazwischen, wie Ruhebänke, die Besuche in Rüdigen, wo er den alten Leuten, den alten Bäumen, den alten Möbeln etwas fremd, aber voll guten Willens entgegenkam – so war er, nicht mehr jung, noch nicht alt, ohne viel Illusionen aber mit entwaffnenden Momenten plötzlich auftauchender Kindlichkeit, als er Sylvie 124 begegnete. Feinde, oder besser gesagt neidische Freunde, denn Feinde hatte er nicht, nannten ihn unter sich den »Commis voyageur für das Haus Intellekt und Co.« Er hatte es erfahren und gelacht. »Etwas Wahres ist immer an Spitznamen,« sagte er, »aber ich meine, ihr Seßhaften könntet mir dankbar sein für meine Tätigkeit.«

Bei einigem Nachdenken hätte Felix die verschiedenen Phasen seines näheren Bekanntwerdens mit Sylvie klassifizieren können wie ein Geologe die Schichten eines Gebirgs. Solche Vorstellungen zuckten bisweilen ungerufen durch seinen Sinn und taten seiner Ironie Handlangerdienste. Aber sobald er dessen bewußt wurde, unterbrach seine Pietät den Kontakt.

Am Anfang hatte die, nicht den Jahren, aber der Erfahrung nach ältere Frau, ihn in einer mild-peremtorischen Weise zu fördern, den sehr schwachen Funken Ehrgeiz in ihm fast unmerklich anzufachen gesucht, in jener ersten, reizvollen Zeit, als sie sich noch geheimnisvoll waren. Zwar hatte ihn eben die Fähigkeit, die wunderlichsten, aufgespeicherten Erinnerungen plötzlich kaleidoskopisch vor sich aufleben zu lassen, schon damals überrumpelt. Wenn sie ihm mit dem unsicheren Blick und dem geisternden Grübchen in der Wange, in schönen, zeitlosen Gewändern, lächelnd aber etwas hoheitsvoll entgegentrat, kam ihm ein Kupferstich in den Sinn, der in seinem römischen Junggesellenheim über einem bejahrten Mahagonisofa gehangen hatte, in dessen harter Polsterung man sich Musset, oder George Sand, in melancholischer 125 Liebeserkaltung sitzend, denken konnte. Er sah das stockfleckige Blatt vor sich, zum Greifen deutlich: Semiramis, an eine Balustrade gelehnt, kniende Boten, in deren äthiopischen Gesichtern sich Angst und Anbetung malten, mit den Worten entlassend: La mia bellezza calmerà la sedizione. Und heimlich nannte er sie Semiramis und in seine Augenwinkel kam das Lächeln, das sie etwas ahnen ließ, das in ihm unbezwinglich war: den Sinn fürs Lächerliche. Aber, o sanfte Despotin, die bald lähmte, bald anstachelte, da war doch etwas, das nicht mehr los ließ, das lockte, weiter zu gehen, zu ergründen. In Rüdigen im Park, mitten im Schilf, war eine Quelle, unsichtbar, die rieselte und lockte auch so wunderlich. Und diese Neugier, dies Geheimnis, das den sinnlichen Reiz erhöht, ihn sogar ersetzen kann, hatte ihre Freundschaft, rascher als sie's ahnten, in etwas anderes verwandelt. Denn die feine, geistige Koketterie, der Wunsch, es dem Partner in diesem Fleurettkampf gleichzutun, mußte wohl längst den Boden bereitet haben. Aber die kleine, finstere Falte zwischen ihren Brauen, der wartende, suchende Blick, diese wie verzweifelten Küsse, so ganz ohne Abwehr und Hinhalten – hatten ihn überrascht. Und als er dann eines Tages etwas deprimiert nach einem nicht ganz gelungenen Zusammensein in einer kleinen fränkischen Stadt, bei abscheulichem Märzwetter und ungenügender Zentralheizung, allein im Gasthof zurückgeblieben war, kam ihm in unwillkürlichem Gedankensprung der Gesichtsausdruck seiner verheirateten Schwester in den Sinn: diese, um ihrem militärischen, von seiner 126 Familie jeden Heroismus fordernden Gemahl ihre bodenlose Feigheit nicht entdecken zu müssen, hatte den Bruder bewogen, sie zum Zahnarzt zu begleiten, der ihr mit Hilfe eines damals noch neuen Betäubungsmittels – auch von diesem Kompromiß durfte der Gestrenge nichts wissen – einen Zahn ziehen sollte. Es war diese selbe Gebärde – Proserpina, die Abschied nimmt vom Licht –, als Lori das Schafott bestieg, diese starren Nasenflügel und zuckenden Brauen wie sie dasaß, bis das erlösende Mittel seine Wirkung tat. Und wenn ihm auch verzwickte Maulwurfsgänge des Denkens ungewohnt waren, so doch nicht plötzliche Erleuchtungen, die wie Höhlenilluminationen ganze unterirdische Strecken auf einmal erhellten, und so tauchte die Frage auf, ob der alte, abscheuliche Rey, oder Háthory, das geniale aber gänzlich unerzogene Steppenpony, seiner armen Semiramis nicht gar zu harte Nüsse zu knacken gegeben hatten? Denn ihm war all dies Vergangene und Bedauernswerte wohl bewußt, aber, o Semiramis, wie er so in dem öden Zimmer saß, geistesabwesend einen eisernen Stiefelknecht fixierend, der, in Gestalt eines riesenhaften Hornschröters, unheimlich unter seinem Bett hervorlugte – da dachte er so ganz als Mensch, so wenig als Mann über solche Dinge; und vielleicht war's ja besser, daß sie das nicht wußte; denn das Erbarmen, das sich in seine Anbetung mischte, hätte sie verletzt. Ach, war's denn nicht zum Weinen, daß einem bei dieser seltenen Frau Worte wie »verfehlt« oder »mißbraucht« ganz ungerufen kamen? Armes 127 Katzerl, dachte er, würde sie nie ganz weich und einfach und selbstverständlich Genuß und Frieden in seinen Armen suchen und finden? Und erst nach und nach, wie eine umgesetzte Pflanze, die im Wind und brennender Sonne verschrumpft war, sich langsam im Schatten erholt, war sie unter seiner verstehenden Liebe, die doch auch zu einem großen Teil Freundschaft war, aufgeblüht und harmonisch geworden. Dann kam eine Zeit unbeschreiblichen Zaubers. In ihrem großen Verlangen, beherrscht zu sein, beherrschte sie ihn ganz: und er empfand ihr Anlehnen. Ehe er sich's versah, war er der Gebende geworden. Aber wer zarten Empfindens ist, fühlt sich als Gebender am festesten gebunden. Er konnte manchmal in sich hinein lächeln, über ihren blonden Kopf weg: Außer Semiramis hatte er ihr in seinen Traumoffenbarungen noch einen anderen Namen gegeben; er nannte sie Ananas. Denn wie bei dieser berauschenden Frucht war da zunächst etwas fein Stacheliges, das überwunden werden wollte; und, war es überwunden, eine Süße, eine aromatische Frische, entzückend, unbeschreiblich; aber ganz in der Mitte wieder ein kleiner, holziger Kern, den man besser übersah.

So waren die Jahre vergangen. Wohl bewegte sich ihr Leben in abwechselndem Finden und Verlieren; doch auch wenn einander fern, fühlten sie die Unlösbarkeit, und das war ja ein heimlich beglückendes Band; beglückender fast als das Zusammensein, denn alles, was sie leise aneinander auszusetzen begannen, verfloß dann 128 im Nebel, im verklärenden Schleier der Abwesenheit. Wieder vereint, kamen Momente, wo man an den Faden denken mochte, an welchem Kinder Maikäfer flattern lassen. Dann fühlte er wohl ein leises Zucken, das ihn wie aus einer Lähmung weckte, und sein jugendliches Wanderleben stand in kleinen, fernen, aber ach so deutlichen Bildern vor ihm auf. Jene Sommer in Toskana oder im einsamen Hochmoor in Bayern; sein kleines, primitives Atelier im Walde von Fontainebleau. Wie hatte er da in den Tag hineingelebt, gearbeitet, gefaulenzt bis zum Ekel und wieder gearbeitet, daß er Essen und Trinken vergaß. Ohne bestimmtes Ziel, aber mit dem Gefühl einer wohlverdienten Müdigkeit. Diese jungen, stets diskutierenden Maler, mit ihrer suchenden, spürenden Technik, die sie zur Dienerin ihrer Theorien machten; die dem Geheimnis des Lichts auf der Spur, den wechselnden Sekunden ihr leisestes Flimmern entrissen. Diese kleinen, biegsamen Französinnen, mit ihrem Genie für anmutige, wenig kostende Häuslichkeit, ihre Art, ein paar Blumen so und nicht so in einer Vase zu ordnen . . . Ach schon damals wußte man ja, in jenen perlmutternen Tagen, daß das alles nicht blieb, aber gerade darum war wohl jene unbeschreibliche Süßigkeit gewesen. Immer kamen ihm Aprikosen in den Sinn, wenn er an Frankreich dachte. Waren es die Abendhimmel dort, oder irgendein Frauenkleid – oder ein damals gerade beliebtes Parfüm . . . da war ein Duft nach Schlüsselblumen, nach süßen, zerfließenden Aprikosen . . . noch jetzt meinte er ihn zu schmecken. 129

Sylvie dehnte den Faden länger, bestand auf immer längeren Trennungen. Sie hatte in diesen Dingen keine Illusion; hatte sie doch selber einst Geduld geübt. Nur eines wollte sie nicht: in den Augen des andern Geduld erkennen. Er soll mich nie als Pflicht empfinden, dachte sie. Wenn er sie dann wiederfand, fein und verstehend und mit der leisen Persiflage, in der sie sich gegenseitig übten und die sie fester aneinanderband als Beteuerungen und Vorwürfe es vermocht hätten, stärkte sich aufs neue in ihm das Gefühl der Dankbarkeit. Und in seiner großen, von wenigen ganz erkannten Bescheidenheit fühlte er sich beglückt, ihre Wege zu ebnen, ihr Leben erleichtern und bereichern zu können und war blind gegen die Erkenntnis, daß eine sehr heiße Liebe gar nicht die Besinnung hat, so viel über das Wohlergehen des andern nachzudenken.

In Sommernächten aber, wenn sie jenen Blumen ähnlich wurde, die erst am Abend ihre Kelche öffnen und ihren Duft verströmen, küßte er die freie Stirn, wo die Brauen, wie zitternde Antennen, schwermütig einander zustrebten, bis die Augen sich schlossen, küßte den schönen, schweigsam gewordenen Mund und fühlte sich von neuem umsponnen . . .


Ja, aber nun, mit einem Male, oder schien's ihm nur so, war es nicht auch allmählich gekommen? war alles verändert, verschoben. Sie sagte es selbst: mein Herz ist ein Jagdhund, es hat eine seine Witterung; und da hatte 130 sie leise, im Vorübergehen, das Zifferblatt ein wenig gedreht, und nun standen die Zeiger anders. Er sah nicht klar, was da vor sich ging, aber er spürte etwas Neues, wie empfindliche Nerven einen nahen Wettersturz spüren. Sie hatten eine Aussprache gehabt, die keine war, denn verletzter Stolz versiegelte ihr die Lippen und hieß sie irreführende Worte sagen. Ach aus all seinen Reden und Bitten meinte sie nur das eine Wort zu hören, das schreckliche Wort »Geduld«. Und so waren sie, unsicher und verstimmt, voneinander gegangen, jeder noch mit einer Handvoll bunter Federn aus den Flügeln des davongeflogenen Glücks. Und wenn sie sich auch noch täglich sahen, es war doch immer nur durch eine gläserne Wand. Er gab ihr wie bisher seinen Rat in praktischen Fragen, teilte ihr Neuigkeiten mit über Politik und Literatur, las ihr Briefe vor von diesem und jenem. Ja, er konnte auch jetzt noch, während sie den Tee bereitete, in seiner wohltuend- unbekümmerten Art dabei sitzen, die alte Katze Petrea auf dem Schoß, seine kleinen blonden Zigaretten rauchend; auch jetzt noch bat er sie manches Mal, ihm dies oder jenes vorzuspielen, Stücke, denen er eigene Erkennungsnamen gegeben hatte, wie zum Beispiel das große und das kleine Aquarium – das waren Aases Tod und ein kleines, perlendes, gänzlich wertloses Salonstück, das er aber oft begehrte. »Ja,« sagte er, wenn sie sich weigerte, und leise hypnotisierend fuhr seine Hand immer wieder über Petreas Tigerrücken, »nichts ist doch so reizvoll, als wenn ein großer Künstler Kitsch interpretiert. Wenn die Patti 131 italienische Gassenliedchen sang, das war entzückend, ja ihre Kunst schien mir darin bezwingender als in der Norma, und Mama hat mir erzählt, wie Liszt meinen kleinen Nichten ›Lott ist tot‹ vorgespielt hat; zum Niederknien sei's gewesen.« Es war wohl der österreichische Einschlag in seiner Natur, was ihm bisweilen etwas so entwaffnend Jungenhaftes gab, trotz seiner grauen Haare. Und unter lachendem Protest ging sie zum Flügel und spielte was er verlangte. Aber in ihrem Lachen war ein Aufschluchzen versteckt. Wer sie so zusammen sah, hätte meinen können, ihr Verhältnis sei jetzt erst ganz harmonisch, ganz vertraut geworden, in diesem Rahmen gleichzeitig anspruchslosen und verfeinerten Familienlebens. Aber mit einemmal ging ein Erkennen vom einen zum andern; sie sahen sich um; und es war alles wie ein gemaltes Gasthaus auf der Bühne, aus dem die Schauspieler kommen und gehen.

Heute, als sie Kopfschmerzen vorschützte, um die beiden nicht zum Torfmoor begleiten zu müssen, hätte er es ihr beinahe geglaubt und es fiel ihm auf, daß ihr Haar, schwunglos von der Stirn gestrichen, anders lag als früher; wie das Haar kranker Menschen, das eine Hilflosigkeit, einen Lebensüberdruß ausdrücken kann, wie sonst nur noch hilflose, verlassene Hände . . . Und er biß sich auf die Lippe, denn sie ließ sich nicht helfen, wenn solche Stimmungen sie beherrschten. Mit einem gewissen Behagen hatte sie vorher vom Altwerden gesprochen; und daß sie fortwollte, zu der russischen Freundin, die den Sommer 132 als einzig vernünftiger Mensch ruhig in Italien blieb, dem einzigen Land, wo der Sommer mit seiner klaren, trockenen Luft nicht drückte. Hier waren zu viel Bäume, zu viel Laub, und gewisse deutsche Begriffe waren auch so erstickend, zum Beispiel dies ewige »Gemüt«. Oh, sie sehnte sich nach Licht, nach Deutlichkeit; diese feuchtwarmen Sommer, diese Wolken, diese Gemütsdampfbäder, das hielten nur Krokodile oder Waschfrauen oder lyrische Dichter aus! Sie endigte mit Gelächter, aber er kannte sie genau und wußte, daß bei ihr solche Ausbrüche physischen Unbehagens immer einen seelischen Ursprung hatten; da war etwas, das sie folterte und zwang, so wie ein Kind in Zorn und Eigensinn sein geliebtestes Spielzeug mit den Füßen zerstampft.

In wenig Tagen schieden sie. Erst im Winter würden sie einander wiedersehen. Diesmal war der Faden sehr lang geraten. Ihm war es lieb. Er war müde, wie zerpflückt von dem Auf und Ab ihrer Stimmungen. Es würde gut tun, einmal wieder allein zu sein oder nur mit Männern; »a pipe, a book and non nonsense« – wie Freddy Melville es ausdrückte. Ja, so ab und zu eine kleine Quarantäne, das war am weisesten, dann blieb alles in verbindlichen Formen, wie es sich schickt pour les âmes bien nées . . . Aber wie nun seine Augen hinüberwanderten zu der Spalierwand, wo der schmale braune Kopf in dem Birnenlaub lehnte, zog sich sein Herz zusammen. Ach Gott, ja, auch dies hörte dann auf, was ihm diese Wochen – trotz alledem – zu einem 133 kleinen Märchen gemacht hatte, diese klaren Augen, dunkel umschattet, dies leichte, rasche Kommen und Gehen, wie Rehe zwischen den Bäumen, dies meist wortlose, doch deutliche Genießen der, ach, so geringen Freuden, die er ihr bieten konnte, und das aus gemeinsamer Tradition wachsende, ganz selbstverständliche Interesse an kleinen, stillen Dingen. Trotz des großen Altersabstandes war etwas Kameradschaftliches zwischen ihnen gewesen, vom ersten Tage an, zarter und reizvoller nur, weil sie ein Mädchen war und er ein Mann; und leise fühlte er ihre Seele nach der seinen greifen. Und spürte ihre weiche, wehrlose Güte, die ein Rüdigensches Erbteil war, wie in anderen alten Familien der Geiz oder eine vorstehende Unterlippe; und spürte etwas Hilfbereites, Ernsthaftes, noch unbeschwert von eigenem Leid; oder nur von solchem Leid, das unverschuldet hereinbricht und der Seele nichts anhaben kann. Und diese Herzenslieblichkeit lockte, lockte . . . Jetzt erst wurde es ihm bewußt.


Auf dem Heimweg steckte Marie Gabriele das Gesicht tief in den Strauß aus süßem, dunklem Goldlack, den ihr die Torfmeistersfrau mitgegeben hatte. Sie waren beide schweigsam; dies war ja wohl ihr letzter Weg zusammen.

Der Himmel war ganz gelb mit langen violetten Wolkenstreifen, darunter ein glühender Herd, wo die Sonne eben versunken war. Dorthin wanderten sie, als sei das rote Tor ihr Ziel. Das Moor war wie verzaubert in diesem Licht, mit geraden schwarzen Kanälen, in denen 134 sich der Himmel spiegelte, und mit dem aufgeschichteten Torf vor den Arbeitshütten. So konnte die Welt ausgesehen haben in uralter Zeit, wenn die letzten aussterbenden Riesendrachen ihre Hälse aus den Sümpfen erhoben, mit tiefem Klagegebrüll in den schwefelgelben Abend hinein . . .

»Wollen wir abschneiden, durch die Wasserheide?« fragte Felix. Sie standen am Eingang eines Erlenwaldes. Gabriele nickte. »Das ist aber schauerlich hier,« sagte sie und sah sich um.

»Ja, wie das Lied von Großmutter Schlangenköchin,« sagte er.

Ihre Augen leuchteten auf. Sie hatten als Kinder dieselben Lieder gehört, dieselben Märchenbücher gelesen; auch das brachte sie einander nahe.

Es war dämmerig, die Frösche quarrten nur noch vereinzelt aus den Wasserarmen, die den Wald durchschnitten. Erlen und Weiden und einzelne Eichen, ganz selten nur eine große schwarze Föhre, alles andere überragend. Geißblatt und Waldrebe rankte von Stamm zu Stamm, Bäume waren umgestürzt und faulten im Wasser, von riesigem Huflattich in Halbinseln verwandelt; es war wie im Urwald. Man mußte vorsichtig gehen, die Erde gluckerte verdächtig und Spiräen und Schilf drangen durchs modernde Laub als Warnungszeichen, daß dort unsicherer Boden sei. Die Vögel schwiegen, nur einen Raubvogel hörten sie einmal, zweimal schreien.

»Oh, hört der Wald nicht bald auf?« sagte Gabriele. 135

»Bist du bange?« Er reichte ihr die Hand. Er hatte sie ihr schon ein paarmal gegeben an moorigen Stellen oder wo sie über einen liegenden Baumstamm klettern mußten.

»Ach nein, aber draußen war es schöner,« sagte sie, »hier steht alles so eng und greift nach einem. Und gewiß gibt es hier Schlangen.«

»Ja, sehr harmlose Ringelnattern. Aber auch Orchideen, die kleinen schwarzweißen, die in Italien ›kleine Witwen‹ heißen. Und riesenhaftes Vergißmeinnicht, wie sonst nirgendwo.«

Der Vogel schrie noch einmal, versteckt in den Baumwipfeln.

»Das ist nun wieder wie das Märchen vom Machandelboom,« sagte er.

»Ja, oder das Lied vom bösen Vogel Ringelroth . . .«

Es klatschte etwas, dicht neben ihr, ins schwarze Wasser. Sie griff nach seinem Arm: »Komm rasch, es ist schrecklich hier im Dunkeln.«

Er legte den Arm leicht um sie: »Aber Marmottchen, ich bin doch bei dir, komm, noch zwei Minuten, dann sind wir im Freien . . .« Sie gingen rascher, so rasch es möglich war, sie fühlte ihr Herz klopfen, ihr war beklommen zumute, oh, nur heraus aus dieser Enge, wo man den Himmel nicht sah; und der Geruch seiner Jacke aus irischer Schafwolle war ihr eine Beruhigung in diesem verhexten Sumpf. Doch nun lichtete sich der Wald, schon sah man's heller durch die Bäume schimmern, nun hörte er auf, 136 blieb zurück, der Kanal mündete in eine Wiese, da floß er friedfertig dahin und hatte alle Tücken hinter sich gelassen. Sie taten ein paar Schritte, dann blieben sie stehen. O wie ruhig war der Himmel, das Gelb ging über in blasses Grün, in dunstiges Blau. Ein paar Sterne funkelten auf, erst wenige; aber wenn man ein Weilchen hinaufsah, wurden es viele. Weich ging die Luft, es mußte viel weißer Klee auf den Wiesen stehen, es roch so nach Honig. Eine Grille zirpte plötzlich, ganz nah, und aus der Ferne kam das Brüllen einer Kuh.

»So, da ist ja endlich ein zivilisiertes Geräusch,« hörte sie Felix sagen, und zugleich ließ er den Arm sinken, der sie gestützt hatte. Sie sah sich nach ihm um und lächelte. Ihre Augen strahlten so, unter dem Abendhimmel, und wie das zitternde Licht auf dem Wasser war das Lächeln, mit dem sie sich wegen ihrer Ängstlichkeit entschuldigen wollte. Aber sie sagte nur: »Ach Felix, ach wie gut! . . .« und wußte selbst nicht recht, was sie meinte, den weiten Himmel, den Wiesengeruch, oder seine Nähe? »Gut, kleine Gabri?« sagte er, »ja du, du bist gut –«, und da war sein Arm wieder, der sie umgab und seine Augen, halb belustigt, halb traurig, über ihr. Da legte sie eine Hand auf seinen Arm und bog den Kopf zurück. Sie sprach kein Wort, aber ihre Augen, ihre Lippen, die ein wenig bebten, wie vor einem Tränenausbruch, sagten deutlich nur das eine: »Küsse mich, ach habe mich lieb.«

Sanft und umfangend war dieser Kuß, wie Hintreiben auf einem Strom, der gar nicht wild ist, nur stark, der's 137 gut mit ihr meinte und sie forttrug zwischen dunkelnden Ufern, zwischen zitternden Lichtern, zu der großen Seligkeit, die auf sie wartete, ganz nah mußte sie sein.

Als dann ihre Lippen sich lösten, tat sie einen tiefen Seufzer und lehnte noch an seiner Schulter. Sie fühlte, daß sie blaß war, es war Lebenskraft von ihr gewichen. Ihre Hand lag in seiner Hand und sie konnte sich auf nichts besinnen, nur loslassen – nein, das konnte sie nicht, sie wäre hingefallen. So gingen sie ein paar Schritte, dann blieb sie atemlos wieder stehen. Immer süßer wurde der Honigduft, das mußten Akazien sein. Mit einem kleinen Aufschluchzen nahm sie seine Hand, seine schöne, große, bräunliche Hand, und drückte erst die Stirn hinein und dann die Wange und sah ihn an, in der ihr eigenen stummen Liebkosung. Er legte den Arm wieder um sie, aber sie lehnte sich kaum mehr an, ihre Kraft war zurückgekehrt, sie schritt dahin, ganz leicht. »Kleines . . . Geliebtes . . .« hörte sie ihn sagen.

Immer mehr Sterne waren erwacht, es mußte spät sein, die Wiesen trieften, die Luft roch spät: das war nicht mehr der Abend, das war die Nacht. Fohlen kamen, neugierig schnobernd, wie sie die große Koppel kreuzten. Sie sahen fremd und ungefüge aus, mit großen, wilden Augen im Dämmerlicht. Gabriele zuckte zusammen und lehnte sich zurück. Doch ein Stadtkind, dachte er und wehrte die Tiere ab, und vor seinen Augen erschien plötzlich Sylvie, seltsam deutlich, wie sie oft seelenruhig durch die Koppeln gegangen war, mit ihrem schleifenden Schritt. 138 Aber Gabri ging wie im Traum. »Ich bin in seiner Hut«, fühlte sie, mehr als sie's dachte.

Dort, am Ende der Wiese, erschien nun das Haus, ganz hell mit seinem silbernen Schindeldach. Von schlafenden Riesen bewacht. Und etwas stand auf im Dunst, kam näher und näher. Oh, die Augen zutun, o sanfter, schwerer Kuß, in ihm war Frieden gewesen! Wieder versinken, nichts wissen von allem, was sonst noch war! Und nun gingen sie weiter, zögernd, als trügen sie etwas Kostbares in den Händen, sie in ihrem neu erwachten Verlangen, diesem Alles-oder-Nichtsgefühl derer, die noch unendlich viel zu geben haben, er in dem betrübenden Bewußtsein, daß alles gleitet und nur der Augenblick wirklich ist oder so gut als wirklich. – Und etwas Enges preßte sich ihnen ums Herz: O laß uns Zeit, du rätselhafte Macht!

Vor der Tür standen die Korbsessel, verlassen, mit dem vorwurfsvollen Ausdruck, den stehengebliebene Sessel haben. Die Läden geschlossen, aber Lichtschein drang hinaus; auch Musik. Sylvie spielte eine Sarabande von Bach; stattlich und traurig und stolz. Als sie eintraten, ließ sie die Hände sinken. Sie war blaß, das Grübchen irrte zum Willkommen auf ihrer Wange, nicht recht gewiß, ob sich's niederlassen sollte, und ihr Blick stellte sich schräg, wie immer, wenn sie ihrer Nerven nicht ganz sicher war.

»Nun, war es schön im Moor?« fragte sie. Aber ihre Augen glitten an ihnen vorbei. Felix erzählte in seiner leichten andeutenden Art, mit der er peinliche oder öde Momente zu überbrücken verstand, von Torfmeisters, von 139 der Herrnhuter Großtante, von den sich immer neu türmenden Waffelbergen. Sylvie klingelte. »Ihr werdet durstig und hungrig sein,« sagte sie, »es ist ein weiter Weg.« Aber Gabriele bat, sich zurückziehen zu dürfen. Ihr war schwindlig in dem warmen, hellen Raum; und Sylvies Sandelholzparfüm, jetzt eben konnte sie es nicht ertragen. Und warum waren Sylvies Augen so rastlos? Ja, du barmherziger Himmel, waren sie verweint? Sylvie, die niemals weinte? Sie griff nach ihrer Hand, sie wollte sie zur guten Nacht küssen, aber da sah die andere zu ihr auf und . . . lächelte. So lächeln Menschen in Qualen, wenn sie den Arzt bitten möchten, und es doch nicht wagen, ihnen Antwort zu geben. Und plötzlich versteinerte das Lächeln. Sie zog Marie Gabriele zu sich nieder und küßte sie einmal, lang und heftig auf den Mund. »So geh nur, geh,« sagte sie fast tonlos.

Gabriele richtete sich auf; es war etwas Sinnendes in ihren Blick gekommen. Felix öffnete ihr die Tür, er war blaß und biß sich auf die Lippen. »Gabri,« sagte er und streckte die Hand aus, aber sie sah es nicht. Nur wenig neigte sie den Kopf und ging. Wie eine sehr junge Königin, die auf ihren Thron verzichtet.

In ihrem kleinen Zimmer riß sie die Läden auf. Sie setzte sich aufs Sims, die Hand am Fensterkreuz und ließ ihren Leinenkittel von den Achseln niedergleiten. Luft, Luft . . . Dort säuselten die Baumkronen; wo sie eben noch gegangen waren, wie finster war es da. Sie nahm die Nadeln aus dem Haar, und mit den niederhängenden 140 Flechten, den bloßen Schultern, dem ratlosen Blick glich sie einer jungen Genoveva im Walde. Eben wollte sie anfangen, ihr Haar zur Nacht zu bürsten. Aber da knisterte etwas. Gott, Mamas Brief . . . Gerade als sie heute wegfuhren, war er gekommen; sie hatte ihn eingesteckt und vergessen. O wie konnte sie nur! Nun zündete sie eine Kerze an und las:

»Gabriezel, Du hast ewig nicht geschrieben, aber das macht ja nichts, wenn Dir was fehlte, würden's mir die anderen schreiben. Aber Du sollst doch gleich wissen, daß ich nach kurzem Aufenthalt bei Tante Christa wieder daheim bin. Es war dort wie immer:a little trying. Oh, und diese an Monomanie grenzende Angst vor Fliegen. Als sei die Schlafkrankheit im Lande. Die ganze Veranda umgeben mit grünem Drahttüll. In diesem Fliegenschrank verbringt man den größten Teil des Tages. Überhaupt, ich hasse Verandas. Nun, jetzt ist's überstanden, und ich wollte Dir doch gleich melden, daß hier alles für Dich bereit steht, daß Du bleiben sollst, wenn Du's gut hast, aber heim kannst, wenn immer Du willst. Denn es kommen manchmal ›Kehren‹ im Leben und überhaupt, es ist ein Kaleidoskop – bleibt die Frage, wer es schüttelt! Wenn Du wieder da bist, wollen wir gleich wieder einpacken und noch ein paar Wochen zu Schiffer Boysen gehen, diesmal aber werden Kissen mitgenommen, denn Boysens Matratzen sind eine unnötige Kasteiung. Dann legen wir uns in die Dünen und sehen ins Blinkfeuer, wenn's immer das eine Auge zumacht und das andere 141 auf. Boysen ist freilich ein Ekel, so was Onkel Wichat ›künstlicher Naturbursche‹ nannte, und ich hab' ihn im Verdacht, er hat Jörn Uhl gelesen und spielt sich nun auf den tiefsinnigen Niedersachsen – aber das andere ist alles echt, die Balsaminentöpfe und die englischen Porzellanhunde auf dem Fensterbrett, und über der Kommode das Bild der ›Meta Jansen‹ mit allen Segeln, und dann der gute Tee und seine kultivierte Teebereitung – das ist so bei Seefahrern. Aber ich male Dir unser Trouville-sur-mer nicht aus, um Dich herzulocken, Gott bewahr' mich, wenn Du dort gute Tage hast, so bleibe nur ja; mit Raritäten soll man höflich umgehen – aber sonst . . . wär' ich schon froh. Mit den Augen geht's nur mäßig, nun und Minnas Vorlesen, Du weißt ja wie das ist. Ich sage dann schließlich immer, Minna lassen Sie gut sein, erzählen Sie mir lieber von Frau von Schwabe; denn da weiß sie immer neues, es muß ein heimlicher Zufluß sein, wie in dem See da oben in Bayern, Du weißt, der auch niemals weniger wird. Sie sagt doch bisweilen Dinge, man könnte ein Buch herausgeben ›Maximes de Minna‹.

Von Wencken hatte ich gestern wieder Nachricht. Er sieht sich alles gewissenhaft an und schreibt so rührend gründlich, vom Tower und all den Enthaupteten. Nun will er noch die Cathedraltowns bereisen; du weißt ja, wie er für Gotik schwärmt. Er wohnt bei einem Clergyman, um sich in der Konversation zu üben, aber viel wird's nicht werden, denn sie redeten immer nur vom Wetter. Überhaupt fühlt er sich nicht behaglich, und die Morgenandacht, 142 wo sie alle knien und jeder seinen Stuhl umarmt, ist ihm doch sehr gênant. Gott, solche süffisanten Middlcelaß-Engländer, die sich wunderweis was dünken und seine feine, bescheidene Seele gar nicht erkennen und sich gewiß nur über sein unelegantes Zivil aufhalten; oh, ich wünschte, ich wär' dort und könnte Lanzen für ihn brechen! Manchmal habe ich rechte Gewissensbisse, daß ich so oft über Wencken gelacht habe; am Ende muß ich noch einmal über ihn weinen. Wollte Gott, er säße wieder bei uns am Teetisch, in guter Ruh.

Nun, sei nur gewiß, daß alles hier Dich erwartet, mit Rosen und Lilien und den ersten Kirschen, und nun beginnt auch das Reseda wieder, was doch die süßeste aller Blumen ist und mir besonders lieb, weil es mich an Deinen Konfirmationsspruch erinnert: Der verborgene Mensch des Herzens . . . da muß ich immer an Reseda denken und an Dich.«


Gabriele schauerte. Was glitt über ihre Seele? Liebe, die noch da war auf Erden, aber einen Klang hatte, halb schon aus der Ferne? Etwas, das für spätere Jahre unendliche Wehmut in sich barg, wie von Versäumnis und Reue? Ihr war als sei eine Hand über ihr Herz gestrichen und habe alles verlöscht und nur einen Wunsch stehen gelassen: heim – heim!

Es war noch nicht lang, daß sie so saß, da hörte sie die Tür gehen, und seinen Schritt, fast unhörbar, auf dem Rasen. Er ging quer über den freien Platz. Rasch, aber 143 gesenkten Hauptes, nicht wie ein Glücklicher schreitet. Sie stand etwas zurück, die Hand griff in den Vorhang, er konnte sie nicht sehen. Wieder ging ein Schauern über sie, ihre Lippen, ach, all die feinsten Nerven ihrer Fingerspitzen erinnerten sich . . . Ich bin dir nicht gram, dachte sie, so oder so. Sie war ganz kalt geworden. Dann flocht sie ihr Haar zu Ende und suchte leise, mechanisch die nötigsten Sachen zusammen. Morgen in aller Frühe wollte sie fort, dorthin, wo sie zu Hause war.

 


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