Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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IX.

Marie Gabriele stand am Fenster, einen Brief in der herabhängenden Hand. Sie sah hinaus und sah doch eigentlich nichts. Drunten, in der Straße, spielten die Kinder nach einem kurzen Regenschauer; sie gingen im Kreis um ein Mädchen herum, dem die Augen verbunden waren, und sangen immer wieder denselben kleinen, blöden Vers. Wenn sie still waren, hörte man einen Kanarienvogel trillern, leise wie eine Wasserpfeife; das war gegenüber, beim Chauffeur, der die schwindsüchtige Frau hatte.

Marie Gabriele fühlte den Brief in ihrer Hand knistern; sie brauchte ihn nicht noch einmal zu lesen, es stand alles vor ihren Augen, die runde, fließende Schrift, der breite Rand auf beiden Seiten, daß das Geschriebene fast wie Verse aussah, und all das Liebe und Süße am Anfang ein 144 zitternder Nebel; ganz deutlich aber, was dann kam, was sie sich schaudernd immer tiefer ins Herz stieß:

. . . »und so ist das Unglück geschehen, wie können doch die albernsten Anlässe die schauerlichsten Folgen haben; die Holzkohlen waren nicht gekommen, so wurde der Samowar außer Dienst gesetzt und da – Gott weiß – die Spiritusflasche war stehengeblieben, wohl zu nahe der Teemaschine, auf einmal floß es in Flammen über den Tisch, über Sylvies Hals und Schultern, sie lag halb schlafend auf der Chaiselongue in einem dünnen Kleid . . . bis Anna auf ihr Rufen kam, hatte sie schon furchtbare Brandwunden. Jastrow ließ auch gleich den Professor kommen, es war sehr schlimm. Jetzt haben sie aber Zuversicht, oder was sie so nennen. Denn was wird es sein? Ein Leben in Qualen, noch monatelang jedenfalls. Und später dann? Hals, Arm und Brust, die ganze rechte Seite sind fürchterlich zugerichtet, und in irgendeiner unheimlichen Weise hat sich da eine Telegraphenverbindung mit den leidenden Nerven am Hüftgelenk hergestellt – die ersten Gehversuche werden eine Folter sein. Und dann – die Narben . . . auch im Gesicht! Sie ist tapfer wie immer, hat die Ärzte in Erstaunen gesetzt, wie ruhig sie's alles nahm. ›Ich habe Schlimmeres mit angesehen, in Lazaretten‹, sagte sie. ›Wenn es zu arg wird, bitte ich um Morphium, damit ich wieder schlafen kann. Über Unabänderliches werden Sie mich nicht jammern hören.‹ Ihre größte Sorge war, Schweizer zu trösten, der sich wegen der Spiritusflasche, ich fürchte mit Recht, die bittersten 145 Vorwürfe macht und ganz verstört ist. Gestern war ich zum zweiten Male bei ihr, und wie sie versuchte zu lächeln, aber innehielt, plötzlich, weil die verletzten Muskeln zerrten, oh, das . . . Wir haben nichts geredet, wozu auch, ich habe nur ihre arme verbundene Hand geküßt, und was ich dabei fühlte, war furchtbar. ›Jetzt werde ich ganz häßlich, mein guter Felice,‹ sagte sie; ›alt und grau war ich schon vorher.‹ Und nun, Gabri, ich brauch' Dir's nicht zu sagen, Du wirst es schon erraten haben – ich muß bei ihr bleiben, in ihrer Einsamkeit. Denn sie wird sehr einsam sein, wie verwundete Tiere, die ins Dickicht gehen. Nicht, daß ihre Freunde sie verlassen würden; ein liebenswürdiger und gescheiter und in jedem Sinn reicher Mensch, wie sie, hat immer Freunde, sogar aufrichtige. Aber sie selbst wird sich zurückziehen, schon aus Stolz, denn wie oft sagte sie's: ›I hate failures...‹ Und dann diese ihr eigene Zweifelsucht, der Verdacht, die Menschen kämen nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie etwas von ihr wollten. Und diese kluge Frau, die auf jede Schwierigkeit losgeht und sie so oder so überwindet, sehr viel Bayard aber auch ein wenig Macchiavell, hat ja, sobald es ihr gelungen, keine rechte Freude mehr an ihrem Werk. So viele Leute halten sie für hochmütig, aber im Grund ist sie verzagt und hat keine hohe Meinung von ihrer Anziehungskraft, und es ist in ihr ein kleiner, harter, unüberwindlicher Rest, an dem sie selber leidet und der sie nicht unbefangen sein läßt. Ja, es hat mich manches Mal überwältigt, wie sie irgendeine hübsche, 146 junge, drauflos schnatternde Gans betrachten konnte, mit Neugier, ja mit Neid. All ihr Mäcenentum war nur eine Aushilfe; im Grund ist sie ein armes Kind, wie sie im Frühling in den großen Städten betteln: liebe Dame, schenken Sie mir eine Blume! Du weißt es, sie ist in meinem Leben unendlich viel gewesen. Nun will ich meine Schuld abtragen, sonst kann ich nicht bestehen. Gabri, vergib mir und laß mich von fern über Dich wachen, tu mich nicht ganz aus Deinem Leben, komm zu mir mit jeder Frage, jeder Sorge, wann immer Du eines Freundes bedarfst. Freund? ja, das war ich immer, aber doch noch viel mehr. Verzaubert von Dir, mein Kleines, ganz ohne Dein Zutun.

Kann ich Dich noch einmal sehen? Ich wohne bei Christian Brockhoff. Soll ich nach Solitüde kommen, wir könnten uns in den Treibhäusern treffen, das hätte nichts Auffallendes, dort ist jetzt Orchideenausstellung. Aber wenn Du willst, komm ich auch zu Euch. Schreib mir ein Wort. Oder telephoniere. Ich bin allein, Christian ist verreist. Aber besser, Du schreibst. Deine Stimme – so am Telephon – nein, schreib lieber, sag mir, daß Du mir verzeihst. Lebwohl, was soll ich mehr sagen, entweder Du verstehst oder Du verstehst nicht. Aber ich glaube, Du wirst verstehen, Marmottchen.«


Noch immer rührte sie sich nicht, es war, als schmelze ihr Körper weg, als sei er schon ganz weggeschmolzen, und nur ein Gedanke übriggeblieben, steil wie eine 147 Kerzenflamme: zu ihm! Nur eine kurze Nachricht hatte sie bisher gehabt; sie möge Geduld haben, er käme bald, ihr alles zu erklären. Und dann nichts mehr, zwei Wochen lang. Nun sah sie etwas Gewisses vor sich, und es brannte so schmerzensvoll und war doch fast wie Glück nach der Leere und Kälte dieser letzten Tage.

Das Vögelchen schwieg und die Kinder waren fortgegangen. Über den Dächern und hinter den Baumkronen war der Himmel blaßgelb, es roch nach Holzrauch, bittersüß, gerade so roch es am Abend in den Florentiner Straßen. Ach, nun schlug es wieder wie Wellen über ihr zusammen. Denn dort mit ihm zu gehen, das war wohl der allerschönste Traum gewesen! Sie fuhr mit der Hand über die Stirn. Sollte sie mit Mama reden? Ach nein, besser nicht. Arme Mama, die seit der Herzattacke neulich ganz ruhig gehalten wurde und durchaus nicht weinen durfte. Ach, Mammina brauchte man nichts zu sagen. Sie hatte so seine Fingerspitzen – sie würde schon verstehen. Und dann war sie so schön schweigsam, so viel sie auch sonst über den kleinen Tageskram erzählen konnte. So war's am besten. Nicht sprechen. Was da kam, das kam. Es würde traurig sein. So grau. Ob man dann den Weg rechts ging oder links, es war eben alles grau. Aber nun wollte sie ihn einmal noch sehen; jetzt gleich. Nicht warten, nicht erst morgen, nichts verabreden; nein, heute, gleich, hinfliegen dorthin, wo er allein und trostlos saß, in ihn hineinschlupfen wie die Sperlinge jetzt eben in den Efeu schlupften, ihm einmal nur Dank sagen, seine liebe, 148 schöne Hand nehmen und das Gesicht hinein vergraben, ja, alles Liebe ihm antun als Wegzehrung auf die Reise.

Arme Sylvie, wie jammervoll ihr Schicksal! Nein, ihr wollte sie nichts wegnehmen, o wer konnte das, einem Kranken den einzigen Trost rauben! Nein, nein, Felix hatte tausendmal recht, er mußte ihr bleiben; aber ihm etwas geben, ach, ihr ganzes Herz, ihre ganze Liebe, das durfte ihr niemand verwehren.

Sie warf den Mantel um und zog die langen Wildlederhandschuhe über die Ärmel, den weichen Filzhut – so – den hatte Felix so gern, »Aramis, le jeune Mousquetaire,« sagte er dann immer . . .

»Du gehst noch aus?« Frau von Alweyden hatte das rasche Öffnen und Schließen der Schubladen gehört. Nun stand sie in der Tür.

»Ja, Mutter, ich muß ausgehen.« Mama fragte nie, wohin man ging; war es Zerstreutheit – sie war ja immer ein bissel zerstreut – oder Achtung vor anderer Menschen Freiheit, jedenfalls war's sehr angenehm. Aber sie trat einen Augenblick ein. Ganz grau sah sie aus im Dämmerlicht, nur die großen, strahlenden Augen. »Ich habe eben ein bißchen gelegen und nachgedacht,« sagte sie. »Ich bin nicht sonderlich gescheit, nur so das alltägliche, aber ich habe mein reichliches Teil Kummer gehabt, daran wetzt sich der Verstand. Und da kann ich nun vieles begreifen.« Marie Gabriele horchte auf; was wollte die Mutter sagen? Aber Frau von Alweyden redete ruhig weiter: »So, nun geh mein Kind, wohin du gehen mußt; nur eins 149 will ich dir noch sagen, denn man vergißt oft die nötigsten Dinge und das ist schade, man könnte ja aus der Welt gehen ohne sie gesagt zu haben: Du hast mir vom ersten Tag an nur Freude gemacht. Ja, das sollst du doch wissen. Warte, einen Augenblick . . .« Denn der Orenburger Schal hatte sich richtig wieder an Gabris Mantelspange festgewickelt. Aber das Losheddern dauerte ihr zu lange; sie riß sich los. »Geh nur, mein Kind,« sagte sie, »die Luft wird dir gut tun. Du siehst mir so spitz aus seit einiger Zeit. Wenn ich dir das Leben leichter machen könnte!«

Marie Gabriele küßte die feine Hand, an der die Ringe locker saßen. Was wollte die Mutter ihr zu verstehen geben? Oh, gewiß nur, daß sie begriff und daß sie ihre Flügel breit machte: hier ist dein Platz, was auch kommen mag. Mit einem kleinen, erstickten Aufschluchzen wandte sie sich ab und ging; die Flurtür klirrte und nach ein paar Sekunden dröhnte die Haustür. Frau von Alweyden ging in ihr Zimmer zurück.

Es war halbdunkel, ein letzter, fahler Schein fiel auf ihren kleinen altmodischen Schreibtisch, auf das Tischchen daneben, wo zwischen Blumen und Gräsern drei Bilder standen: Gabri, Arved und die schöne Großfürstin, die angebetete Freundin ihrer Jugend. Damals, als Frau von Alweyden noch mit ihren Schwestern in der winzigen Residenz lebte, wurden sie manches Mal nach dem fürstlichen, o so bescheidenen Landsitz geladen, wo die Prinzessinnen den Sommer verlebten. Die Jüngste und 150 Schönste hatte sich der lebhaften und schwärmerischen Benita besonders angeschlossen, ganz innig und ehrlich und mit der beiderseitigen Überzeugung, daß dieser Seelenbund ewig dauern würde. Aber bald darauf hatte sich die Prinzessin verlobt. Mit mehr Enthusiasmus als sonst in diesen Regionen üblich ist. Ja, es war wie ein Rausch gewesen, den sie kaum verbergen konnte; und doch war sie sich bewußt, daß es für eine Prinzessin nicht ganz in der Ordnung sei, so unverkennbar verliebt zu sein. Oh, diese Halsbänder und Spangen und Armringe, die er ihr schenkte, mit Sklavendemut nahm sie sie hin, ließ sich schmücken, die verborgen, fast ärmlich an dem kleinen Hof aufgewachsen war, in den ererbten Kleidern ihrer älteren Schwestern, bis vor kurzem noch in der Nursery, mit der englischen Erzieherin, ein kleines Perlenkreuz ihr einziges Kleinod. Und nun hatte sie Smaragden und Saphire, und zur Hochzeit bekam sie eine Strahlenkrone aus Diamanten, ihren Schleier zu halten . . . Oh, wenn sie auch noch so schwer, so kostbar waren, sie beugte ihren Nacken gern, sie trug seine Ketten mit Inbrunst; aber wenn es Vipern gewesen wären, die er um ihren Hals legte, auch dann hätte sie stillgehalten mit demselben süßen Schlafwandlerlächeln. Ja, manchmal wünschte sie, er möchte sie erniedrigen, ihr Schmerz zufügen, und bei diesem Gedanken schossen ihr Tränen in die Augen, sie wußte nicht wie. Eins aber hatte sie sich gelobt, hatte es ihm in glückseligem Flüstern verkündet, ohne daß er sie darum gebeten hatte: Sobald sie die neue Heimat betrat, wollte sie zu 151 seinem Glauben übergehen, ihren eigenen Glauben ablegen, wie sie ihre kühlen, blassen Mädchenkleider abgelegt hatte. Oh, gern wollte sie in seinen goldschimmernden Kirchen knien, wollte lernen, zu den fremden Heiligen zu beten, die mit schmalfingerigen, gequälten Händen, mit langgeschlitzten Augen, dunkel, ein wenig grausam, zu ihr niedersahen. Die Leidenschaft hatte sie ganz eingehüllt, sie hinausgedrängt aus ihrer Kindheit, ihrer Unschuld, hatte sie unerreichbar gemacht der jungen, vereinsamten Freundin. Blaß und schweigend, mit großen, seligen Augen, war sie den Blicken ihrer Brautjungfern entschwunden, war hineingefahren in das fremde, winterliche Reich, in das Märchengefunkel von Schnee und silbernen Glöckchen und erster, schauernder Betörung.

Nach zwei Jahren, als auch Benita sich nicht mehr angehörte, waren sie einander wieder begegnet. An einem fremden, großen Hof, bei einem Fest zu Ehren der fremden Gäste. Das schöne Antlitz der Fürstin war noch schöner geworden, zart nachgemeißelt von der Hand der Zeit; und wenn sie in ihrem ersten Jugendschmelz die Maler begeistert hatte, so waren es nun die Bildhauer, die das edle Haupt nachzubilden verlangten, am liebsten als Medaille, wenn das Auge in die Ferne sah. Denn von vorn gesehen, war der Blick wie erloschen und enttäuschte den, der die höchste Offenbarung erwartete. Als sich aber die junge Frau von Alweyden mit einem unerklärlichen Zusammenpressen des Herzens über die von Edelsteinen funkelnde 152 Hand beugte, küßte sie die Großfürstin nach der Sitte ihres Landes zweimal auf beide Schläfen und flüsterte:

»Mein Kind, wir waren Kinder,
Unschuldig, klein und froh . . .«

denn sie hatten ja in ihrer ersten Jungmädchenzeit heimlich das Buch der Lieder miteinander gelesen, ach verschlungen und auswendig gelernt; wie aber Benita errötend zu ihr aufsah, stand die hohe Frau ganz ruhig, mit gefrorenem Lächeln und neigte nur leise das Haupt. Hatte sie's geträumt?

Später hörte man dann so mancherlei von Tränen und Szenen, von Tyrannei und Vernachlässigung, die schmerzvoller war als Tyrannei, schmerzvoller als die seltsame, krankhafte Freude an Qual, von der sie durch ihn erfahren hatte. Es wurde von einem Fußfall geredet, vor dem, der über solche Fragen das letzte Wort zu sagen hatte. Das sei gerade vor jener Reise gewesen, die sie auf kurze Zeit in ihre Kinderheimat zurückführte, in die kleine, engbegrenzte Heimat, mit bescheidenem Gebirg und bescheidenem Flüßchen, das durch die Wiesen mit ihren schnatternden Gänseherden und großen Birnbäumen heiter dahinfloß . . . Ein halbes Jahr reiste sie umher, ruhelos und doch versteinert, dann kamen Abgesandte mit Briefen, mit Bitten erst, dann mit Befehlen. Sie fuhr zurück, mit einer kleinen, eigensinnigen Falte zwischen den Augen und wurde mit Gepräng und jeglicher Ehrenbezeugung an der Grenze eingeholt, und alle um sie her trugen ein 153 Lächeln zur Schau, wie man ein Kind anlächelt, wenn es auf Zureden, wenn auch nach einigem Sträuben, sich den kleinen wackligen Milchzahn ausziehen läßt. Seitdem war es still geworden über sie und um sie her, und die Stillste war sie selbst. Mehr und mehr wandte sie sich den Werken der Barmherzigkeit, dieser großen Lückenbüßerin zu; selten nur erschien sie bei Festen, immer noch eine Auserlesene unter den Schönsten, in schweren, goldgestickten Kleidern. Und wenn sie in Gedanken die kalten Juwelen an Brust und Gürtel berührte, war's wie ein Erschrecken, als ob sie im Traum Unbegreifliches, Drohendes an sich spürte. So daß, als an jenem grauen Wintermorgen, da in der noch leeren, wie durch weißen Samt gedämpften Straße, mit wenig Geräusch das geschehen war, was all das tote Weiß auf kurze Zeit in roten, glitschigen Kot verwandelte, es niemanden überraschte, daß sie bald darauf vor dem erschien, der über solche Fragen das letzte Wort zu sagen hatte und – diesmal ohne Fußfall – von ihm erbat, sich ganz von der Welt zurückziehen und ihr Leben den Armen und Niedrigen weihen zu dürfen. Es wurde erzählt, wie sie ihre kostbaren Spitzen und Pelze und alle Juwelen, die sie besaß, zwischen ihren Nichten und Ehrendamen verteilt und die Ringe von den Fingern gestreift hatte; und ihre Hände seien so, ganz schmucklos, noch schöner gewesen. Es verlautete, daß sie sich in das Kloster eines dienenden Ordens zurückzuziehen und das Palais an der Newa nicht mehr zu bewohnen gedächte. So wurde auch jetzt wieder über sie geredet und 154 gemunkelt, aber in Flüstertönen und ehrerbietigem Mitleid. Bis dann, nach nicht allzu langer Zeit, die Krankenpflege und die harte Ordensregel ihren, solcher Strapazen ungewohnten Körper genügend zermürbt hatten, damit der Tod nur eine leichte Erkrankung vorauszuschicken brauchte, um seiner vollends Herr zu werden. Frau von Alweyden erhielt ihre Briefe durch die Botschaft zurück. Ein Ring aus Perlen und Saphiren wie auch das Buch der Lieder waren ihr schon am Tage des Eintritts ins Kloster zugegangen; denn die Großfürstin vergaß niemanden. Auch wird das Gedächtnis fürstlicher Personen durch eine in frühester Jugend einsetzende Disziplin besonders geübt; doch wer will entscheiden, ob der Besitz eines solchen ein Glück oder einen Nachteil bedeutet. Denn es sind ja nicht allein glückliche Eindrücke, die es bewahrt, um sie in geeigneten oder ungeeigneten Momenten lautlos, oft auch taktlos, vor die Seele zu führen.

Frau von Alweyden fuhr mit ihrem feinen Tüchlein über das Glas des Bildes. Mit seiner verblaßten Unterschrift – Marie – stand es da zwischen den zarten Farn, kaum mehr erkennbar in dem schwindenden Licht; aber sie kannte jeden Zug. Unvergeßlich schöne Frau! Durch Feuer und Eis war sie gegangen, ach Gott ja, aber eine Zeit hatte es gegeben, wo sie ganz selig war, eine kurze Zeit erwiderter Leidenschaft . . . und dafür konnte man wohl mit dem ganzen Leben zahlen.

Frau von Alweyden setzte sich wieder an ihren Platz am Fenster. Sie saß unbeweglich in der Dämmerung. 155 Wie eine kleine graue Fee, die in irgendeinem Türmchen von der Zeit vergessen war. In der Straße wurden die Laternen angesteckt. Es wurde immer dunkler . . .


Felix ging in Christian Brockhoffs Arbeitszimmer auf und ab; er wartete auf das Telephon, das auf dem Schreibtisch stand, denn auch die letzte Post hatte keinen Brief gebracht, kein Bote war gekommen. Würde sie nichts mehr von sich hören lassen, war sie zu tief gekränkt durch sein Schweigen? Und welche Frau wäre es nicht an ihrer Stelle! Seit jener Nacht, als sie da still an ihm vorbeigegangen war, ohne seine ausgestreckte Hand zu berühren, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Nach den wenigen Worten, die er mit Sylvie gewechselt, war auch er gegangen. Eine Szene, ja auch nur eine Aussprache, hatte nicht stattgefunden, etwas Derartiges war ihnen beiden zuwider, und sie waren ja feinhäutig genug, um es nicht nötig zu haben. Wie sie gewissermaßen alles verabschiedet hatte, mit leiser, disziplinierter Stimme: »Felice, es ist unser doch nicht würdig, uns noch länger Komödie vorzuspielen« – das war wohl das Äußerste gewesen, was gesagt worden war. Und wie alles, was wir nicht mehr festhalten, im Augenblick, da es entgleitet, noch einmal aufglimmt in vorwurfsvoller Verklärung und die Vergeltung der Verabschiedeten übt – so war's auch hier gewesen. Diese leise Halsbewegung, diese unwillkürliche, lässige Art, ihr Kleid an sich zu ziehen – nichts mehr gemeinsam zwischen dir und mir – und in ihren Augen, 156 als er zur Tür ging, jener ruhige, aufmerksame Blick, als ob sie sein Maß nähme: So also sahst du aus, dem ich angehört habe? Und ein kaum merkliches Lächeln, das er aber spürte wie glühenden Draht: nun, mögest du glücklich machen, denn das verstehst du, und glücklich sein, wenn du es vermagst . . .

Er war nach Berlin gefahren, zu einem Freunde, und in dessen Junggesellenheim im alten Westen blieb er einige Zeit. Vor seinen Fenstern ließ eine große Platane die sonnenmüden Blätter hängen, die kleinen Vorgärten waren voll Rosen, Wasserwagen fuhren hin und her; und dort, hinter leise klappenden Läden, durch die der Geruch von nassem Asphalt und Rosen herein drang, in der plötzlichen, lähmenden Frühsommerglut, hatte er qualvolle Tage verbracht. Hatte gedacht und gedacht, Briefe begonnen und wieder zerrissen, und nur die paar nichtssagenden Zeilen, ein Aufschub, ein Hinhalten, waren an Gabri abgegangen. Was er auch tat, er fügte Wunden zu, und manchmal tauchte Marmottchen auf, mit großen Augen und bebendem Mund, und dann wieder ging Sylvie durch das Zimmer, reizvoll in ihrem beginnenden Welken, ihrer unbeständigen Schönheit, dem irrenden Grübchen, das wie Lichtschein auf bewegtem Wasser kam und ging. Oh, das zerriß ihm das Herz. Dann packte er rasch ein paar Sachen; er wollte zurück, denn es kam ja keine Antwort auf seine Briefe. Aber dann war's wieder so grauenhaft, wenn er an die Fahrt dachte, dies Zurückblättern in einer Erzählung, in der ihm seine eigene 157 Rolle nicht gefiel. Oh, die kleine Station, wo jeder ihn kannte, die Chaussee, die Stelle, wo der Eichenkampner Sandweg abbog; und dann Eichenkamp? Vielleicht mit geschlossenen Läden? Herrgott und wozu? Wenn er vor ihr stand, was konnte er ihr sagen, was sie nicht alles wußte? Daß er sie nicht verlassen wollte, nicht verlassen konnte, daß ihre Wurzeln ineinandergewachsen waren durch all die Jahre? Oder: daß es so bleiben sollte, wie es nun einmal gekommen war? Und so hatte er von einem Tag zum anderen gewartet, aber nichts war von dort zu ihm gekommen; und sein Unbehagen wuchs und wurde beinah zu Ärger und dadurch fühlte er sich schuldloser als er am Anfang empfand. Und da, ganz plötzlich – er ging in der Straße an einem Blumenstand vorbei, und da lag Goldlack in großen Bündeln und eine ganze Welle Duft überkam ihn, daß er hätte aufschreien mögen – hatte er den Entschluß gefaßt; am selben Abend noch wollte er an Frau von Alweyden schreiben und um Marmottchens Hand bitten. Und wie er nach Hause kam, lag da Schweizers Telegramm. Fürchterlich, und dennoch . . . fast eine Erlösung. Denn nun sprach das Schicksal und nahm ihm die Wahl aus der Hand, und er erkannte, was all die Tage in seinem Herzen dumpf geschwelt hatte: er war an Sylvie gebunden, durch tausend Dienste, die er ihr getan, durch Dankbarkeit für eine Liebe, die immer noch, wie der Stein, der in den Weiher fiel, leise, weite Ringe zog, durch all die Jahre des Gebens und des Nehmens. Ach, wenn er an Marmottchen dachte, brannten ihn die Augen: 158 du meine Wonne, lebewohl; aber dann . . . Sylvie . . . da schnitt es ihm durchs Herz: Sie durfte nicht unglücklich sein ohne ihn!

Das Telephon schwieg noch immer. Vielleicht hatte Gabri aus Irrtum die alte Adresse gebraucht; dann war der Brief auf dem Weg nach Rüdigen und er würde ihn dort finden, mit anderen, ganz gleichgültigen Briefen. Er sah in Gedanken ihre weiche und doch kräftige Schrift, ihre kleinen orthographischen Schnitzer, all die H.s, die nicht mehr korrekt sind, denn sie hatte ja bei der alten Erzieherin ihrer Mutter schreiben gelernt, und die hätte als Kind sei noch mit einem Ypsilon geschrieben . . . gerade wie Goethe. Ach, Marmottchen! Wieviel hatten sie zusammen gelacht. Mit ihrem etwas großen, zärtlichen Mund, den Augen, wo Schatten und Sonne tanzten und die so leicht überflossen! Damals, als sie mit unsicherer Stimme aus der Zeitung vorgelesen hatte, von den Verschütteten im französischen Bergwerk, wie da deutsche Grubenarbeiter, aber auch Soldaten, Pioniertruppen, über die Grenze gegangen waren, zum erstenmal seit 1870, um sie auszugraben, und so vielen, vielen das Leben gerettet hatten . . . und daß dann die französische Militärkapelle die Wacht am Rhein spielte . . . aber da hatte sie nicht weiter gekonnt, die Tränen kamen nur so gestürzt. »Sylvie,« hatte sie gestammelt, »das ist noch schöner als alle Symphonien . . .« Welch lieber Kamerad sie war! Leicht sich einlebend, ohne Sack und Pack; Tiere liefen ihr zu, mit Kindern war sie gleich vertraut – das war nun 159 alles vorbei. Ja, nun kam ein scharfer Schnitt, gegen den es sich immer noch ab und zu in ihm aufbäumte . . . um wieder mit einem Seufzer zusammenzusinken: es ist ja nun entschieden, meinen Händen entwunden, ach, unbewußt hatte er sich schon hineingeflüchtet in die große Ruhe des Unabänderlichen; aber ungesehen wollte er über sie wachen, ihr treuer Diener sein, wie der im Märchen: Heinrich, der Wagen bricht; nein, es ist nur ein Band von meinem Herzen! . . . Vorgestern schon hatte er Frau von Alweyden alles mitgeteilt; diese Katastrophe, die alles, alles umwarf; Christian Brockhoff hatte den Brief hingetragen, an einem Nachmittag, als er wußte, daß Marie Gabriele aus sein würde; denn der Post mochte er's nicht anvertrauen. Frau von Alweyden hatte ihm verziehen, hatte gleich schriftlich geantwortet, »sie könne begreifen«. Diese engelsgute Benita, ja, sie begriff immer. Hätte sie nicht auch einen Raubmörder entschuldigt? Aber freilich, einen rechten Rat gab sie nie, davor scheute sie zurück. Es wird so vieles verdorben durch Ratschläge, sagte sie, und was für den einen Unrecht ist, braucht's für den anderen noch lange nicht zu sein. War das Feingefühl oder Scheu vor Verantwortung? Sie war doch recht passiv dem Leben gegenüber, und als erlebte sie Trauriges und Widriges nur mit einem stillen Staunen. Arme Benita! Ihre große Liebenswürdigkeit, ihr Verstehen, diese charakteristische Rüdigensche Güte war wohl zu allgemein, zu biegsam, um ganz wertvoll zu sein; aber war's nicht unendlich viel besser als solche gußeisernen Grundsätzlichen, 160 die heroisch bitter die Wahrheit reden und andere darunter leiden lassen? »Madame fut douce envers la mort, comme elle le fut envers tout le monde.« Diesen berühmten Satz könnte man wohl auch auf sie einmal anwenden. Und so wußte er doch, daß dem Marmottchen das Schrecklichste erspart blieb, das so oft in Familien blüht und gedeiht: Taktlosigkeit. Wie kostbar waren die leisen, die gleitenden Menschen. Für diese erlesene Eigenschaft konnte man ihnen jede Schwäche nachsehen . . .

Die kleine Reiseuhr auf Christians Schreibtisch schlug hell und eilig: neunmal. Draußen zwitscherten die Spatzen im Efeu nur ab und zu – sie waren zur Ruhe gegangen. Der Garten lag still und ordentlich, mit gutgeharkten Wegen; langweilig wie alle neuen Gärten. Er dachte an Rüdigen, an die Lindengänge, wo Gabri gewandelt war, er sah sie stehen am Traubenspalier in ihrem Leinwandkittel, den schlanken Arm ausgestreckt, wie sie die Blätter leise berührte; sie duftete wie der weiße Klee. Und er sah sie – wie er sie manchmal in seinen Träumen gesehen – einen schönen, kleinen, sonngebräunten Knaben an der Hand, der ihre Augen hatte und dem sie Ehrlichkeit und Herzensgüte mitgegeben hätte fürs ganze Leben! . . .

Er warf sich auf Christians tiefen türkischen Diwan, er blätterte in Christians Büchern, steckte eine Zigarette an und warf sie wieder hin. Das Telephon blieb stumm. Es wurde ihm kühl und grau zumut. Marmottchen, dachte er, dies wäre wohl das erstemal, daß du einen Menschen in Stich ließest! 161

Die Tür wurde geöffnet, die Gestalt des alten Wendt wurde sichtbar, wie er sich gegen die Wand zurückzog, um jemanden vorbei zu lassen. »Hier, gnädiges Fräulein,« sagte er. Marie Gabriele trat ein, rasch, noch geblendet von draußen. Es war Abendsonne in ihren Augen. »Da hast du mich,« sagte sie, »lieber, lieber Felix.«

Sie lief auf ihn zu, sie lachte ein wenig, faßte seine Hände. Ja, es war Abendglanz in ihren Augen, aber auch Tränen. Er stützte ihren Kopf mit der einen Hand, mit der anderen zog er sie an sich. So war sie also gekommen, ganz einfach, ganz selbstverständlich, sie war nicht böse auf ihn, sie begriff. Sie schlug den Mantel zurück, warm und zitternd stand sie und lehnte den Kopf an seine Schulter und strich immer wieder über seinen Arm, streichelnd, leidvoll; nun hob sie die Augen zu ihm auf, tiefe, überfließende Gewässer, und er las nichts darin als Liebe und alles Gewähren. »Felix,« stammelte sie immer wieder und lehnte sich fester an ihn, sprach in seine Schulter hinein, oh, sein Rock allein schon war ein Trost, ein Wiederfinden, sie kannte den braunen, rauhhaarigen Stoff so gut, den leisen Rauchgeruch der Wolle; es gab ihr Mut. »Armer Felix, kannst du nie mehr glücklich sein?« Und wieder sah sie empor, ihr Mund bebte, tröstend und lockend. Welch unschuldige Zauberei stand ihr zu Gebot! Süße kleine Gabri, wie duftete ihr Haar, wie warm der junge Körper! Und wenn er sich auch in diesem Augenblick der unsterblichen Worte nicht bewußt war, er empfand ihren Sinn, als seien sie eben in seinem Innern entstanden: »Laß 162 mich in Deinem Herzen leben, in Deinem Schoße sterben, in Deinen Augen begraben sein!«

Da seufzte sie auf und es durchfuhr ihn. Herrgott, er mußte Herr bleiben über sich. Gerade ihre Hingabe . . . Das Blut hämmerte ihm in den Ohren, ein Zorn wallte empor, wie in Spinnweben verstrickt; wenn er doch gegen irgendeinen jetzt eben ganz teufelsgrob sein könnte! Begriff sie's denn nicht, die da so zutraulich und weltfremd über seine Schwelle gelaufen war? Und im selben Augenblick ward er sich, mit dem Schauder einer gegen alles Groteske überempfindlichen Natur, seiner Umgebung und aller sich entwickelnden Möglichkeiten bewußt. Dieses Junggesellenheim, ihm für einige Tage überlassen, Wendt, der confidential servant, von dem er wußte, daß er in Liebessachen ebenso gewissenhaft sorgte wie für die ihm anvertrauten Wertsachen und alle sonstigen Angelegenheiten seines Herren; auf dessen unerschütterliche Diskretion er seit Jahren baute – bauen mußte; oh, und all die kleinen, abstoßenden Zufälligkeiten, die ganz unvermeidlichen . . . seine zur Selbstzersetzung neigende Gemütsart, seine halbresignierte Einsicht in die Lächerlichkeit irdischer Einrichtungen, . . . es kam über ihn wie ein plötzliches, kühles Rieseln, ganz sacht und fein. Und es war zartestes Erbarmen, mit dem seine Hand immer wieder, tröstend und bittend, über den kleinen braunen Kopf glitt, der still, betäubt an seiner Schulter ruhte. Seine sechsundvierzig Jahre und dies gute, vertrauende Kind! Ach nein, Marmottchen, er mußte abkürzen; und über ihr Haupt 163 weg suchten seine Augen in der Luft nach Momenten, wo er Geistesgegenwart gebraucht hatte, damals, beim Abstieg von Monte Rosa, oder, vor kurzem erst, bei der Eisenbahnkatastrophe. Aber er konnte kein Bild festhalten. Und so sah er wieder auf sie nieder mit einem Lächeln, das langsam, unter den Augenlidern begann und in dem viel traurige Erkenntnis lag, die ihm das Herz durchschnitt.

Sie hielt sich noch immer mit beiden Händen an ihm fest; aber die eine öffnete und schloß sich, wie im Traum, um seinen Arm zu streicheln. Da seufzte er auf, löste sie von sich; leicht, sanft wie eine Liebkosung war alles, was er ihr tat. Er war sehr blaß. »Hier, setz dich, meine kleine Gabri,« sagte er und schob ihr einen Sessel hin. Sein Ton war müde, sehr freundlich. War's ein anderer, der da redete, stand er selber unsichtbar dabei und wunderte sich, seine eigene Stimme zu hören? »Du weißt ja nun alles, wir müssen auseinandergehen. Ein anderer würde vielleicht anders handeln . . . und vielleicht hätte er recht. Aber so wie ich bin, und ich glaube, so wie du bist, gibt es für uns nur diesen einen Weg.« (Achtung . . . stillgestanden! Was dröhnten die alten Kommandoworte durch sein Hirn! Aus seiner fernen Soldatenzeit, irgendwo aufgespeichert, auf einmal waren sie da!)

Gabri saß ganz leicht auf dem Rand des Sessels, als wolle sie gleich auffliegen. Auch sie schien auf etwas zu lauschen, zu warten.

»Haselchen,« sagte er, »daß du gleich gekommen bist, das war schön, das war das Schönste, was du mir antun 164 konntest. Immer so ehrlich. Das wird mir leuchten durch alle Zeit. Und immer, wenn du eines Freundes bedarfst, dann rufe mich. Alles, was ich vermag . . . Du sollst über alles bestimmen.« Herrgott, dachte er, war das nicht die alte, schäbige Phrase, die immer gebraucht wird, wenn einer den anderen zurückläßt in Einsamkeit; dies Freundschaftsangebot, ähnlich jener Redensart in Geschäften: Wir können mit dem gewünschten Artikel nicht dienen, aber hier ist etwas Gleichwertiges, das wir bestens empfehlen! Warum mußte er in diesem Augenblick in sich hineinlachen, leise, aber hart . . . Sie sah ihn erschrocken an, seine verzerrten Lippen – sah sich um in dem fremden Raum, fröstelnd, erwachend, sah auf ihre Hände nieder, die lagen so verlassen in ihrem Schoß.

»Hasel,« sagte die Stimme über ihr, »es war süß, dich wiederzusehen, mein kleiner Bayard.« Er kam näher; sie senkte die Stirn, hilflos. »O Haselchen, verzeih mir, aber dennoch . . . vergiß nichts, es ist doch alles schön und kostbar gewesen.« Er beugte sich zu ihr, hob ihr Gesicht zu sich empor, aber vor ihrem Blick mußte er verstummen. »Das Leben ist unverständlich, wir können nichts dafür« – das hatte er sagen wollen, aber die Worte starben ihm auf den Lippen. »Komm, mein Süßes, komm,« sagte er bittend, »ich will dich nach Hause bringen.« Aber dann wurde sein Blick sinnend, eine Falte grub sich zwischen die Augenbrauen: »Warte« – denn sie war ohne ein Wort zu sagen aufgestanden –, »ich muß erst Wendt instruieren.« Dies infame Klatschnest, das wär' so was, 165 woran sie sich mit Wonne die Zungen verrenken würden. Aber das sollte ihnen nicht gelingen.

»Wendt,« sagte er, als der Alte erschien, und nahm wahllos ein paar Bände aus dem nächsten Regal, »diese Bücher wollte das gnädige Fräulein abholen, aber sie sind schwer, tragen Sie sie hin. Ja, Gabri, und an den Spezialisten werde ich morgen telegraphieren, ich hab' die Adress' leider nicht bei mir. Es tut mir besonders leid, weil du darum den weiten Weg gekommen bist. Nun, hoffentlich schläft deine Mutter gut, die Anfälle gehen ja meist bald vorüber.« Und er griff nach seinem Hut.

Marie Gabriele sah ihn starr an. Wie in einem wunderlichen, unglücklich machenden Traum. Was waren das für Märchen? Und plötzlich begriff sie und biß sich auf die Lippen. Also – sie war unvorsichtig gewesen! Und an so etwas konnte er in dieser Stunde denken? Sie fühlte sich zusammenschrumpfen. Und zugleich strömte all das Verlangen, all das heiße Mitleid wie hinter einem plötzlich geschlossenen Wehr in ihr Herz zurück, daß sie zu ersticken meinte. Da war sie zu ihm gekommen mit ihren schüchternen Händen, nur Liebe und schweigende Süßigkeit, aber er hatte sie von sich gelöst, hatte ihr den Sessel hingeschoben, da saß sie nun; und er lehnte am Tisch, vor ihr, und sah auf seine Füße nieder und dann sah er wieder sie an, traurig, verschlossen, mit großer Achtung. O du armer Mann! Und wie hätte sie sein Haupt an ihre Brust betten, es küssen und streicheln wollen, mit all den Liebesworten, die keine Frau erlernt, und die doch alle da sind zu ihrer Stunde. 166

»Ja,« sagte sie – auch ihre Stimme klang müde – »ich will nun gehen. Hab' Dank, Felix, aber bitte komm nicht mit, Wendt trägt ja sowieso die Bücher hin . . .«

Aber er ging neben ihr die Treppe hinunter, über den knirschenden Kies, bis zum Gartentor. Dort beugte er sich über ihre Hand, schlank, ritterlich. »Lebwohl, Marmott, Segen über dich.« Und dann noch, leiser: »ich küsse den Saum deines Kleides«. Sie antwortete nicht, sie hatte keine Stimme, und wenn sie's erzwungen hätte, wär's ein Schrei geworden, oh – oh – h – h, wie Menschen in Lazaretten schreien, hinter gepolsterten Türen. Sie sah ihn nur an, lang und ernsthaft: Fein und dunkel stand er am Tor. Ach, ihn recht ansehen, ihre Augen füllen, sein Bild – das war ja alles, was sie mitnehmen konnte. Seine Hand griff in das Eisengitter, hinter ihm der blasse Himmel, die dunkeln, kaum bewegten Pappeln; so würde er nun in der Erinnerung vor ihr stehen, aufrecht, als hielte er eine Fahne, der Blick groß und freundlich, ja, und schon fremd.

 


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