Theodor Fontane
Jenseit des Tweed
Theodor Fontane

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Von Perth bis Inveness

Um von Perth nach Inverneß zu gelangen, kann man zwei Wege einschlagen, den einen über Forfar, Montrose und Aberdeen an der Küste entlang, den andern quer durchs Land hindurch über den Kamm der Grampians. Wer Eile hat oder die Bequemlichkeit liebt, wird den ersteren Weg wählen, der, obschon ein Umweg von 10 deutschen Meilen, mittels der eben beendigten Eisenbahn in verhältnismäßig kurzer Zeit zurückgelegt werden kann; wer umgekehrt eine Strapaze nicht scheut, wenn sie nur Lohn und Ausbeute verspricht, wird das Dach der Stage-Coach erklettern, die zweimal wöchentlich zwischen Perth und Inverneß fährt. Touristen also, die etwas sehn und nicht bloß vorwärts kommen wollen, werden sich selbstverständlich des alten Kutschwagens bedienen, der montags und donnerstags auf dem Perther Marktplatz hält und den füllen und packen zu sehen, selbst schon zu den Vergnügungen dieser Reise gehört.

Es mochte gegen 11 Uhr sein, als wir bei glühendem Sonnenbrand die angelegte Leiter hinaufstiegen und auf der hintersten Bank des Wagens Platz nahmen. Wir waren ziemlich die ersten und wiegten uns in der Vorstellung, durch Pünktlichkeit und Zusage eines Trinkgeldes uns einen komfortablen Platz gesichert zu haben. Eitle Träume; was wir auf der Tour von Stirling bis Loch Katrine erlebt hatten, war, wie wir bald merken sollten, ein kaum nennenswertes Vorspiel gewesen. Die vier Plätze der eigentlichen Chaise, die einen etwas höheren Preis zahlten, waren leer, aber die sechzehn Außenplätze, die sich vorn und hinten an den Wagen anklebten, waren besetzt bis auf den letzten Zoll. Auch dieser Ausdruck ist nichts mehr und nichts weniger als eine Beschönigung unserer eigentlichen Lage, da die Fahrgäste, die an den Flügeln der vier Bänke saßen, nur mit der einen Hälfte ihres Körpers auf sicherem Grund und Boden ruhten, während die andere Hälfte mit Hutschachteln und Reisesäcken um die Wette neben dem Wagen hin- und herschaukelte. Wie ich meinen Lesern nicht erst versichern darf, wäre dies Minimum von Reisekomfort auf einer Strecke von 25 deutschen Meilen unerträglich gewesen, wenn nicht von Station zu Station die Flügelmänner jeder Bank die Plätze getauscht und, zwischen links und rechts beständig wechselnd, die ausgeruhten Hälften wie eine immer frische Reserve ins Feuer geschickt hätten.

Ich hatte den rechten Flügel der letzten Bank inne, und wiewohl ich mich der Strapazen jenes Reisetages wie einer durchgemachten Kampagne entsinne, so muß ich doch der Wahrheit gemäß einräumen, daß mein und meiner Kameraden Position noch immer nicht zu den schlimmsten zählte. Sie war wenigstens luftig, und da man nach der Fallseite hin räumlich nicht behindert war, so konnte man sich's durch allerhand Balancier- und Schwebekunststücke relativ bequem machen. Wie anders dagegen die Mittelplätze! Die Sicherheit, die sie boten, war teuer erkauft, und der wahre Reiz des Lebens hing hier wie überall »überm Abgrund der Gefahr«. Aber ich eile in meiner Darstellung voraus. Während ich schon die Schrecken und Gefahren des Weges schildere, halten wir noch auf dem Marktplatz von Perth, und jetzt erst, wo vom alten St. Johannisturm die Mittagsstunde schlägt, knallt die Peitsche des Kutschers über die vier langgespannten Braunen hin, und unser Wagen rasselt durch Straße und Tor in die lachende Landschaft hinaus. Die nächste Station ist Dunkeld, ein alter Bischofssitz, etwa drei Meilen nördlich von Perth gelegen. Der breite, vom Tay durchflossene Talgrund, der sich zwischen beiden Städten ausdehnt, zählt mit zu den vorzüglichsten Schauplätzen schottischer Geschichte. Wir sind hier im eigentlichen Macbeth-Land, und während wir die Grafschaft Fife im Rücken, Schloß Glamis aber zur Seite lassen, fahren wir, unmittelbar an Scone-Palace vorbei, jenem Stückchen Erde zu, das durch die zwei Namen Birnam-Wald und Schloß Dunsinan eine Berühmtheit über die Welt erlangt hat.

Scone-Palace, der alte schottische Königssitz, von dem es am Schluß des »Macbeth« heißt:

Und uns gekrönt zu sehn mit unsrer Krone,
Erwarten wir euch im Palast zu Scone,

liegt kaum eine halbe Meile rechts von dem chaussierten Wege ab, den unsere Braunen jetzt rasch entlangtraben, und die Sehnsucht könnte über uns kommen, einem Platze von solchem Alter und so historischer Bedeutung einen kurzen Besuch zu machen. Aber der Scone-Palast, der zu Shakespeares Tagen noch in aller Wirklichkeit dastand, existiert nicht mehr, und die weißen Steinwände, die mit Mauerkrone und Normannenturm aus einer Gruppe alter Ulmen zu uns herüber grüßen, sind keine 50 Jahre alt und enthalten vielleicht keinen Stein mehr von dem alten Königshause, das einst hier stand. Der Scone-Palast unserer Tage ist ein Besitztum, ein Sommeraufenthalt der Grafen von Mansfield geworden, und der alte Stein, der hier einst lag und als Stuhl bei der Krönung schottischer Könige diente, ist nach London geschafft, wo er jetzt deutungsreich unter dem Sitz des englischen Thronsessels liegt.

Etwa zwei Meilen nördlich von Scone-Palace, an derselben rechten Seite des Weges, liegen Dunsinan-House und Dunsinan-Hill, in deren Nähe sich die Ruinen des alten Macbeth-Schlosses befinden, das den Birnam-Wald auf sich zukommen sah. Dieser Birnam-Wald liegt links von der Straße, verbirgt sich aber unserem suchenden Auge hinter dem 1500 Fuß hohen Birnam-Hill, der seine Felsmauer zwischen uns und den Wald schiebt.

Dieser Birnam-Hill ist bereits wie ein Torwächter von Dunkeld anzusehen, und in demselben Augenblick, wo wir ihn passiert und, statt seiner selbst, seine reich bewaldeten Ausläufer zur Linken haben, hören wir auch schon den lauter werdenden Hufschlag der Pferde, der uns sagt, daß wir die elastische Tenne der Landstraße mit dem harten Straßenpflaster der Stadt vertauscht haben. Von beiden Seiten grüßen jetzt tausend Fuß hohe, mit Laubholz und Schwarztannen besetzte Bergwände in die Stadt hinein, und ehe wir uns noch in dem reizenden Bilde völlig zurecht gefunden haben, hält unsere Kutsche bereits vor dem ziemlich in der Mitte des Städtchens gelegenen »Birnam-Hotel«.

Die Frage »absteigen oder sitzen bleiben« schlägt jetzt an unser Ohr, aber drei Meilen sind erst gemacht und die engagierten Körperhälften noch bei verhältnismäßiger Kraft. So ergibt sich die Antwort von selbst. Kommt uns doch auch die Höhe unseres Sitzes zustatten, um mit größerer Muße und Leichtigkeit das reizende Bild dieser Talstadt überblicken zu können. Aus dem Grunde der Bergabhänge hervor grüßt die alte, bis in die Piktenzeit zurückreichende Kathedrale, fesselnder aber erscheint uns das Bild unmittelbar zu unseren Füßen, wo wir, neben dem üblichen Durcheinander eines Gasthofs, noch das bunte Treiben und die Vorbereitungen zu allerhand Jagdausflügen ins Hochland sehen. Denn Dunkeld ist Rendezvous-Platz; hier finden sich von allen Seiten die Jagdliebhaber, die Freunde des Sports zusammen, um dann, die einzige Hochlandsstraße benutzend, die von Dunkeld aus über den Kamm der Grampians führt, auf den großen Jagdrevieren zwischen Balmoral und Inverneß die Sommermonate bei »deer stalking« und »grouse shooting« zu verbringen.

An den Gasthof lehnt sich eine säulengetragene Veranda; das Gebälk ist in Grün versteckt und die eine Seite des Vorbaues mit aufgeschichteten Reisekoffern, wie ein Repositorium mit Foliobänden, gefüllt. In der Veranda steht ein junges Paar und reicht sich zum Abschied die Hand. Die zurückbleibende Dame, groß und schlank, trägt einen breiten italienischen Hut mit weißer Feder, und die allgemeine Teilnahme an der schönen Erscheinung bekundet sich durch die halb frageweis gesprochenen Sätze: »She is his sister« oder »she is his wife.« Der Kondukteur indes, an den sich diese Worte richten, ist mit wichtigeren Dingen beschäftigt als mit der Beantwortung solcher Bagatellen, und sich durch ein »yes, Sir« das jeder zu seinen Gunsten deuten mag, aller weiteren Fragestellung entziehend, gibt er zwei jungen Hochländern, von denen jeder einen Jagdhund an der Leine hält, ein Zeichen, das auch alsbald mit zustimmendem Kopfnicken erwidert wird. Inzwischen sind an beiden Seiten unseres Wagens Leiter und Tritt gestellt worden, und ehe wir noch die Gefahr erkennen und energisch dagegen protestieren können, stehen beide Hochländer bereits mit ihren Jagdhunden unterm Arm auf der höchsten Leitersprosse, und die geängstigten Tiere wie zwei Scherbeutel unterm Arm hervorlangend, lassen sie jetzt auf das dichtverfahrene Defilee unserer Beine niederfallen. Ein Schrei der Entrüstung schallt über den Platz fort, auf dem wir halten, aber die im trockensten Ton gesprochenen Worte des Kondukteurs: »They are kind beasts, you may take them as foot-stools« stellen mit einem Schlage unsere gute Laune wieder her, um so mehr, als die Versicherung des Kondukteurs eine Wahrheit wird und die anfangs unruhigen Tiere sich wirklich wie eine Fußbank zu unsern Füßen legen.

Aber eine Überraschung drängt die andere. Auf derselben Leiter, auf der eben noch einer der Wildhüter stand, um seinen Überfall auszuführen, steht jetzt der Gentleman, dem die Hunde zugehören, und trotz der schönen Dame, die immer noch unter dem grünen Dach der Veranda verweilt, läuft jetzt ein nicht mißzuverstehendes Murren durch unsere Reihen. Es ist wahr, der Gentleman, der vor uns steht, hat das einnehmendste Gesicht von der Welt und lüftet seine schottische Mütze allerfreundlichst zum Gruß, aber wenn er noch viel freundlicher grüßte und dreinblickte, so können wir ihm nicht geben, was wir selbst nicht haben. Ich zeige auf mein rechtes Bein, das völlig in Lüften schwebt, und bemühe mich, ihm anzudeuten, daß dem Unmöglichen gegenüber auch der beste Wille zuschanden wird. Er nimmt meine Andeutungen freundlich auf, zeigt aber statt aller weiteren Erwiderung auf den Kondukteur hin, der eben den Deckel eines hinter uns befindlichen Wagenkastens auf- und zurückschlägt und im nächsten Augenblicke in die Tiefe dieser Versenkung hinabsteigend, allerdings den Platz frei läßt, auf dem er selbst bis dahin gesessen hatte. Ehe noch unser Staunen vorüber, knallt die Peitsche und ziehen die Pferde an, und über das Pflaster Dunkelds hintrabend, rasselt und lärmt der aufgeklappte, wie ein Bedientenbrett dastehende Wagenkastendeckel und scheint unserer geängstigten Phantasie die Frage vorzulegen: »Wann werd' auch ich meinen Passagier finden?«

Hinter Dunkeld zieht sich der Weg am rechten Ufer des Tay entlang und zeigt uns außer Landhäusern, die hier und da aus dem Grün hervorblicken, nichts, was unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen könnte. Etwa eine deutsche Meile hinter Dunkeld verlieren wir den Tay aus dem Auge, und statt seiner wird nunmehr der Garry-Fluß, der von den Grampians kommt, auf viele Meilen hin unser Begleiter. Seine Ufer sind nirgends lieblich, aber überall bedeutend und charakteristisch und gleich zu Anfang von imposanter Schönheit. Nachdem wir kaum tausend Schritt an der rechten Seite des Flusses bergan gefahren sind, passieren wir jenes Felsentor, das uns nunmehr zu dem berühmten Passe von Killiecrankie führt.

Der Paß von Killiecrankie hat eine dreifache Bedeutung, als Verbindungsstraße, als Punkt von hervorragender landschaftlicher Schönheit und drittens durch die blutige Schlacht, die hier am 27. Juli 1689 zwischen den Anhängern der Stuarts unter Claverhouse und den Truppen Wilhelms von Oranien geschlagen wurde. Das landschaftliche Bild, das der Paß bietet, erinnert sehr an die Trossachs. Diese haben den Ruf größerer Schönheit und werden jährlich von Tausenden um ihrer selbst willen besucht, während den Paß von Killiecrankie nur derjenige kennen lernt, den Neigung oder Geschäfte in den eigentlichen Norden Schottlands führen. Man passiert ihn, weil man ihn passieren muß; er ist Weg, nicht Ziel. Dies nicht wegzustreitende Faktum basiert auf einer Ungerechtigkeit. Der Killiecrankie-Paß ist imposanter als die Trossachs. Der Grund dafür scheint mir darin zu liegen, daß die Felswände sich noch näher und schroffer gegenüber stehen, daß der Garry, der ganz den Charakter eines lauten und reißenden Bergwassers hat, die romantische Szene mehr belebt als das unbedeutende Wässerchen, das die Trossachs mehr durchschleicht als durchschäumt, und daß drittens und letztens das Vorwiegen des Laubholzes über das Nadelholz den Wettstreit zugunsten des Killiecrankie-Passes entscheidet. Auch der blutige Kampf, der hier stattfand und von ungleich größerer Bedeutung war als ein halbes Dutzend Clanschlachten der Rinder und Schafe stehlenden MacGregors, sollte füglich diesem mehr nördlich gelegenen Punkte zugute kommen; aber die Schilderungen Walter Scotts, der es nun mal für gut befand, den Schauplatz seiner Dichtung an die Ufer des Loch Katrine zu verlegen, haben ein für allemal zugunsten der Trossachs entschieden, und solange die »Jungfrau vom See« begeisterte Verehrer an aller Welt Ecken und Enden haben wird, so lange wird auch der Killicrankie-Paß darauf Verzicht leisten müssen, die Rechte seiner Erstgeburt gegen den bevorzugten jüngeren Bruder geltend zu machen.

Ich stand (versteht sich auf einem Fuße) aufrecht im Wagen, als wir den Paß hinauffuhren. Das ganze Bild war so reizend, daß ich begierig war, nichts von seiner Schönheit zu verlieren. Dann und wann entzog sich der unten schäumende Garry unserm Blick, und nur unser Ohr vernahm ihn; dann wieder sahen wir ihn in breiten Wasserfällen über das felsige Terrain wie über eine Steintreppe herniederschäumen. Als wir fast den Nordausgang des Passes erreicht hatten, legte der Kondukteur aus der Tiefe des Wagenkastens her seine Hand auf meine Schulter und rief, nach rechts hin mit dem Kopf nickend: »Look, there's the battlefield«. Da lag es denn halb vor, halb neben uns, nicht größer als eine Gemeindewiese oder der Spielplatz einer englischen Schule. Die Form des Platzes ist ein Oblong; an der einen Längsseite fuhren wir hin, die drei anderen Seiten waren dicht mit Laubholz umstanden. Ziemlich am nördlichsten Punkt der Wiese gewahrten wir einen Stein, aufrechtstehend und von der Größe eines gewöhnlichen Mauerpfostens. An dieser Stelle fiel der Sieger des Tages, William Graham, Herzog von Claverhouse und Marquis von Dundee. Über diesen Sieg und die Person des Siegers sei mir gestattet, hier folgendes einzuschalten.

Unter den Parteigängern, die nach der Entfernung Jakobs II. (1688) die Sache der Stuarts zur ihrigen machten, steht Graham von Claverhouse, Graf von Dundee, oder »bonnie Dundee«, wie er in jakobitischen Liedern heißt, obenan. Was der große Montrose 40 Jahre früher in den Tagen Karls I. gewesen war, der Champion für Loyalität und Königtum gegen Whiggistischen Puritanismus, das war jetzt bonnie Dundee nach der Vertreibung der Stuarts. Schon während der Regierungszeit Jakobs II. hatte er sich rücksichtslos auf die Seite des wenig geliebten Königs gestellt, und jetzt nach seinem Sturze war er der erste, der die Hochlands-Clane um sich sammelte und dem neuen Regiment in London den Krieg erklärte. Wie Montrose gehörte er zum Clan der Grahams, ein Name, an den sich während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ebenso sicher die Vorstellung einer unerschütterlich royalistischen Gesinnung knüpfen durfte, wie an den Namen Argyle die Überzeugung eines unveräußerlichen Puritanismus. Der Sieg schwankte damals fünfzig Jahre lang zwischen den von tödlichem Haß erfüllten Parteien, und die Häupter beider fanden nur zu oft Gelegenheit, ihre Hingebung und Treue mit dem Tode zu besiegeln. An derselben Stelle, wo die Häupter der Argyles in der Treue gegen den Puritanismus fielen, fiel auch das Haupt des großen Montrose im Dienste des Königtums; bonnie Dundee aber, glücklicher als die Mehrzahl der Parteihäupter jener Epoche, starb den Heldentod auf dem Felde von Killiecrankie, in demselben Augenblick, als der Sieg zugunsten seiner Sache entschieden war. Als er mit erhobenem Arme vorsprengte, um die Fliehenden zu verfolgen, traf ihn eine Kugel in die Armhöhle und tötete ihn auf der Stelle. Der aufrechtstehende Stein, von dem ich sprach, bezeichnet den Ort, wo er fiel. Mit ihm lag vorläufig die Stuartsche Sache am Boden. Der Sieg, den er gewonnen, hörte auf, ein Sieg zu sein. Die Whigs triumphierten; ihr bitterster Feind, der ihnen bis dahin als unbesieglich und unverletzlich gegolten hatte, war nicht mehr. Der Glaube an seine Unverletzlichkeit (wie sich von selbst versteht, infolge eines Paktes mit dem Teufel) war damals allgemein verbreitet im schottischen Volke. Es hieß, daß kaltes Wasser zu dampfen und zu zischen beginne, so oft er seine Füße hineinstecke, und die Kugel, die ihn endlich getroffen, sei überhaupt keine Kugel, sondern ein silberner Knopf gewesen, den einer seiner Diener vom Rocke seines Herrn losgelöst und auf ihn abgeschossen habe. Nur was von ihm selber kam, konnte an ihn. Der Degen Dundees befindet sich im Besitze von Lord Woodhouselee; das Lederwams aber, das er bei Killiecrankie trug, wird zu Penicuik-House in der Nähe von Edinburg aufbewahrt. Das Gedächtnis an seine Siege lebt noch bis diesen Augenblick im schottischen Volke fort, und für allerhand bedenkliche Situationen, die einen Helfer wünschenswert machen, existiert die sprichwörtliche Redensart: »Nur eine halbe Stunde Dundee.«

Kurze Zeit nachdem wir die Nordspitze des Killiecrankie-Passes passiert hatten, erreichten wir Blair Atholl, ein Dorf mit etwa 300 Einwohnern, das nichtsdestoweniger auf allen Karten mit großen Buchstaben verzeichnet ist. Wir nähern uns nämlich jetzt dem großen Berg- und Heideterritorium der Grampians, das, ein paar hundert Quadratkilometer groß, wie eine unwirtbare Fläche sich zwischen das fruchtbare Land des Tay- und des Moray-Busens hineinschiebt, und, wie wir bald sehen werden, von solcher absoluten Öde und Kahlheit ist, daß das an seinem Südrande gelegene Dörfchen Blair zu einer unbestrittenen Residenz dieser Gegenden wird. Unter Blinden ist der Einäugige König. Wir wechseln hier die Pferde und unsere Plätze, machen die erste Bekanntschaft des echten, unverfeinerten Haferbrotes (oat-cake) und fahren nun weiter nordwärts immer am Garry-Fluß entlang, der noch bis zum Kamm der Grampians hin unser Begleiter bleibt. Die Zeichen menschlicher Kultur ersterben allmählich; kein Dorf mehr, das wir passieren, nur von Viertelmeile zu Viertelmeile begegnen wir einem Weiler hart am Wege, elenden Hütten, weniger dazu da, um darin zu wohnen, als um den Weg zu zeigen, der aus dieser Öde in bessere Gegenden führt. Aus Torf und Rasen bauen sich diese Wohnungen auf, und das Stroh- und Lehmhaus unserer ärmsten Gegenden kommt dieser Armut gegenüber wieder zu Ehren. Aber so kümmerlich die Reste sind, die sich einem hier bieten, es sind doch immer noch Reste, und der Wanderer, der hier des Weges kommt, erfreut sich dieser Zeichen, wie sich der verschlagene Schiffer der harten Brotrinde freut, die seinen Tag und vielleicht sein Leben fristet.

Der weit vorgeschobenste Punkt heißt Dalnacardoch-Inn; nördlich von ihm beginnt die Grampian-Wüste. Ich habe nie Einsameres durchschritten. Und doch machten wir die Fahrt zur guten Jahreszeit, an einem heiteren Tage. Das Leben war über diese Gründe wenigstens hingeflogen und hatte seinen Lichtstrahl auf sie fallen lassen. Uns zur Linken schäumte der Garry, rechts von den hohen Berglehnen sickerte das Schneewasser herab, an den Wasserrinnen entlang leuchtete das Grün und Rot des Heidekrauts, und aus dem moosigen Gestein flog von Zeit zu Zeit ein Bergvogel oder auch ein Volk Hühner auf. Wie muß es hier sein, wenn der Sommer seine warme Hand von diesen Feldern nimmt und der Wind das schwache Lebensflämmchen ausbläst, das hier still und geschäftig wirkt? So fragt' ich, und als ob die Grampians mich verstanden hätten, gaben sie Antwort auf meine Frage. Wolken zogen über den Himmel hin, und das warme Blau verwandelte sich in ein schwüles Grau, der Garry hörte auf zu schäumen, Moos und Heidekraut verschwanden, auch das Wasser schwieg, das von den Bergen gekommen war – wir hatten den großen Friedhof dieser stillen Gegenden erreicht. Ein meilenweites Blachfeld lag vor uns, über das der Tod – wenn nicht ein Schlimmerer - im Grimme hinweggegangen schien, mit zorniger Hand die Felsenzacken abreißend, wie der Sturm die Ähren von den Halmen reißt, und sie ausstreuend weit über das Feld hin. Es graute uns, als wir an diesem Saatfeld des Schreckens vorüberkamen, und das Gespräch stockte, das bis dahin so munter von allen Lippen geflossen war.

Wie einer, der einen finstern Traum gehabt und mit einem »Gott sei Dank« erwacht, weil eben alles ein Traum gewesen, so fiel es wie eine Last von uns ab, als, plötzlich fast, das Steinfeld sein Ende erreichte und nur noch das bequem zur Hand liegende Material gewesen zu sein schien, um ein steinernes Gasthaus mit steinernen Scheunen und einer hohen steinernen Mauer um beide herum daraus aufzuführen. Wie jubelten wir, als wir unter den blühenden Lindenbäumen dahinfuhren und aufspringend unsere Köpfe in die Blatt- und Blütenfülle hineinsteckten; keine Orangerie auf Terrassen und Freitreppen hatte uns je so herrlich gedünkt wie diese Lindenbäume, die das Wirtshaus Dalwhinnie umstanden. Mit einem Gefühl unverstellter Freude sahen wir über die hohe Gartenmauer in den Obst- und Küchengarten hinein, wo rot schillernde Kohlköpfe die Beete einfaßten und selbst ein paar Kirschen im Laub der Bäume steckten. Und nun das Haus selbst erst! Die alten Eckschränke mit Rokokoschnitzwerk und verschossenen Gardinen, das steinalte Mütterchen im Lehnstuhl, der Kamin, drin jahraus jahrein das Feuer prasselt, als gäb' es keinen Sommer hier, wie tut das alles wohl, und es hätte kaum noch »des Einzugs der Prinzessin Friedrich Wilhelm in Berlin« bedurft, der (den Illustrated London News entlehnt) in Buntfarbendruck an den Wänden hing, um uns, unter dem Vorteil des Kontrastes, den kurzen Aufenthalt in Dalwhinnie-Inn zum Glanzpunkt des Tages zu machen. Es hat einen Sinn, wenn sich auf den schottischen Hochlandskarten die Hütten und Weiler dieses Plateaus mit einer größeren Gewissenhaftigkeit verzeichnet finden als die Städte und Dörfer südlicher Distrikte. Denn im Süden können wir eines Dorfes, einer Stadt entbehren; die allernächste schon läßt uns den Verlust kaum noch als solchen empfinden; aber das einsame Haus an unwirtbarer Küste, in der Einöde des Gebirges, läßt uns erkennen, was es mit einer Menschenwohnung auf sich hat.

Halben Weges zwischen Dalnacardoch-Inn und Dalwhinnie-Inn, ziemlich genau da, wo man aus Perthshire in die Grafschaft Inverneß eintritt (ein Wechsel, den man nur an den verschieden verfärbten Wegweisern wahrnimmt), befindet sich auch die Wasserscheide der Grampians, und an die Stelle des Garry, den wir stromaufwärts verfolgten, tritt nun der Spey-Fluß, der seinen Abfluß nach Norden hat und uns fast bis an die Tore von Inverneß begleitet. Von Dalwhinnie-Inn bis Inverneß sind noch zehn bis zwölf deutsche Meilen. Je mehr wir uns Inverneß nähern, oder mit andern Worten, je mehr wir von der Steinöde der Grampians loskommen, desto fruchtbarer wird wieder das Land. Es ist, als ob der Norden seinen alten Charakter verlöre und statt ein Sitz der Öde ein Sitz des Lebens und der Freude würde. Eine Niederung ist es und ein Küstenland, in das wir jetzt hineinfahren, und die natürlichen Segnungen, die ein flußdurchströmtes Küstenland bietet, machen sich auch an dieser Stelle geltend und fallen schwerer ins Gewicht, als der Breitengrad, der wir, wie eine Stufe gegen Norden hin, eben hinansteigen.

Dalwhinnie-Inn war nur erst ein Haus; eine Meile nördlicherhaben wir schon eine Gruppe von Häusern, die Häuser werden zum Dorf und das Dorf endlich zu einem Städtchen. Wir haben Newtown (Neustadt) erreicht und traben über das Pflaster des Städtchens hin, als war' es das einer Residenz. Und was ist es? Zwei Reihen Häuser, die zwischen gelben Haferfeldern liegen. Ohne Aufenthalt fahren wir hindurch und sind mit untergehender Sonne in Kingussie. Kingussie ist ein altes Hochlandsdorf, eine Art Hauptstadt der Macphersons, die hier herum ihre Sitze haben. Hier, in unmittelbarer Nähe, lebte auch James Macpherson, der Herausgeber des »Ossian«, für dessen völlige Echtheit oder völlige Unechtheit ein halbes Jahrhundert lang so viele kritische Lanzen gebrochen worden sind.

Als wir vor Kingussie-Inn hielten, sahen wir, daß Jahrmarkt im Dorfe war. Hochlandssöhne, zum Teil noch in die Farben ihrer Clans gekleidet, standen in Gruppen vor einer aufgestellten Drehorgel, an deren Hinterseite sich, wie auch auf unseren Jahrmärkten, eine bemalte Leinwand erhob. Allerhand Szenen aus dem Krimkrieg waren darauf abgebildet, zumal die Kavallerieattacke von Balaklawa und das Hochlandregiment (Sir Colin Campbell), an dem sich der Angriff der russischen Reiterei brach. Dazu spielte der Leierkasten eine Arie aus Flotows »Martha«, und die heiseren Kehlen der Umstehenden stimmten mit ein. Es mochten hundert oder hundertundfünfzig Menschen sein, die sich hier vergnügten, auf mein Gemüt aber übten sie die Wirkung, als hätt' ich nie ein größeres Menschengedränge gesehen, so frisch und so stark noch waren die Eindrücke, die das öde Steinfeld der Grampians auf mich gemacht hatte.

Gern hätten wir uns in dieses Treiben hineinbegeben, aber eine andere Stimme machte sich geltend, die von gebieterischem Klange war. Es waren nun fast zwölf Stunden, daß wir im Englischen Hotel zu Perth unser Frühstück eingenommen hatten, und mit Ausnahme eines Stückchens oat-cake und eines Glases Toddy (Whisky und Wasser) war den ganzen Tag über nichts über unsere Lippen gekommen.

Das erzeugte denn freilich Stimmungen, in denen einem ein Hammelschlegel aus dem Clan der Macphersons weit über die Art und die Bedeutung ihrer Volksfeste geht, zumal wenn man im Hochland reist und durchaus nicht weiß, was die nächste Stunde bringen wird und was nicht. Wir eilten in das Gasthaus hinein, dessen Flur und Eingänge mit allerhand Laubgewinden festlich geschmückt waren, und fanden uns ins Unvermeidliche, als wir unseren Imbiß, ein Stück Hammel mit einem Glase Bier, mit fünf Schilling bezahlen mußten.

Es war schon spät Abend und die Augustsonne längst unter, als wir mit jenem süßen Gefühl des Gekräftigtseins, das man auf Reisen von jeder Mahlzeit mitbringt, unsere Turmplätze wieder erkletterten und in die Sommernacht hineinfuhren. Die abendliche Kühle lief uns wie ein Bad wohltuend über den Rücken, und alles war heiter und gesprächig, als ein Feuerwerk eigener Art unsere Fahrt unterbrach. Aus der Achse des einen Vorderrades schoß und sprühte es hervor wie ein zischender Schwärmer. Ich hatte das Schauspiel gerade vor mir und rief dem Kutscher zu: »Stop, the wheel burns!« Jeder sah das Sprühfeuer, das hell in die Nacht hineinleuchtete. Der Wagen hielt, der Kondukteur sprang aus dem Wagenkasten, goß allerhand rätselhafte Flüssigkeiten, über die wir nie aufgeklärt worden sind, auf die Schraubenmutter und erklärte dann mit mehr Gleichmut als Wahrheit, daß alles in Ordnung sei. Aber es war nicht alles in Ordnung, und eine Fahrt begann, wie ich sie vorher nicht durchgemacht habe und auch nicht wieder durchzumachen wünsche. Zwischen Brennen und Löschen ging es vorwärts. Der Kondukteur nahm seinen Stand auf einem Wagentritt unmittelbar neben dem Feuerrade, und jedesmal, wenn die Funken wieder zu sprühen begannen, erschallte sein »stop!« Dann kurze Pause, etwas Gespräch, etwas Flüssigkeit, und wieder ging es weiter in die Nacht hinein. Unsere gute Laune hätte schwerlich ausgehalten, wenn wir nicht gewußt hätten, daß die nächste Station binnen einer guten halben Stunde erreicht werden mußte. In der Tat, wir kamen wohlbehalten an und hielten vor dem Wirtshaus von Aviemore. Inzwischen war es völlig Nacht geworden, und jeder kennt das komisch-romantische Treiben, das auf einsamen Posthöfen auf eine Viertel- oder halbe Stunde zu herrschen pflegt, wenn ein verspäteter Kutschwagen die Ruhe solcher Höfe unterbricht. Aus Verschlafenheit und Holzschuhen, aus Stallaternen und Wichtigkeit setzt sich ein wunderliches Bild zusammen, das natürlich an Reiz und Interesse wächst, wenn »etwas vorgefallen ist«, und jeder glaubt, durch seinen Rat und seine Laterne die Sache bessern zu können. Ein solches Bild hatten wir auf dem Wirtshaushof von Aviemore. Nachdem mit Hebebäumen und Schraubstöcken, mit Raten und Taten eine halbe Stunde vertrödelt, endlich aber mit Hilfe von aufgestreutem Schwefel die Frage »Feuer oder Nicht-Feuer« zugunsten von »Nicht-Feuer« beantwortet war, trieb uns der Kondukteur mit einem ermutigenden »all safe« wieder auf den Wagen, und aufs neue ging es in die Nacht hinein. Schlaftrunken saßen wir auf unsern Plätzen, gleichgültig dagegen, ob das Vorderrad abermals brennen oder ein Nicken nach der Fallseite hin uns aus dem Unkomfort unserer Lage, freilich auf Kosten gesunder Glieder, ein für allemal befreien werde. Nur als die Mitternachtsnebel neben uns über die Heide zogen und der Kondukteur, der bemerkt haben mochte, daß es mit unsereinem nicht ganz richtig sei, mir vertraulich ins Ohr flüsterte: »Look, Culloden-Moor«, rafft' ich mich auf, um mit poetischem Grauen auf das Blachfeld zu blicken, das neben uns lag. Dann wieder siegte die Müdigkeit, bis das Gerassel auf dem Straßenpflaster uns weckte und wir alsbald beim Schimmer zweier Gaslaternen die Worte lasen: »Union-Hotel«. Wir waren in Inverneß. Es war drei Uhr morgens.


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