Theodor Fontane
Jenseit des Tweed
Theodor Fontane

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Von Holyrood bis Edinburg-Castle

Aus Holyrood-Palace heraustretend und den mehrerwähnten Platz passierend, der unmittelbar vor dem Palaste liegt, treten wir jetzt in den untern Teil jener hügelansteigenden, malerisch gelegenen Straße ein, deren Profillinien ich im zweiten Kapitel bereits beschrieben habe. Der untere Teil der Straße, am Hügelabhang gelegen, heißt Canongate; der obere Teil, den Rücken des Hügels einnehmend, ist High-Street.

Canongate

Canongate

Canongate, so geheißen, weil die Chorherren (Canons) von Holyrood die ersten Häuser hier aufführten, war vor drei Jahrhunderten der Lieblingssitz der Reichen und Vornehmen des Landes. Die unmittelbare Nähe des Palastes machte es, daß man diesem Faubourg (denn das war Canongate damals) selbst den Vorzug vor der stattlicheren High-Street gab. Lange Zeit hindurch blieben diese Dinge unverändert, und noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten Herzöge, Grafen und Lords ihre Paläste hier. Wenn man sich jetzt in dieser Straße umsieht, so kann man freilich ein gewisses Staunen nicht unterdrücken, daß z. B. noch um 1750 herum fünfundzwanzig Grafen (der Lords und Barone zu geschweigen) ihre Paläste hier gehabt haben sollen. Unscheinbare Häuser zu beiden Seiten der Straße führen noch jetzt den Namen alter und berühmter Geschlechter und beweisen im innigsten Zusammenhange mit den Taten, die hier geschahen, welch Zustand verhältnismäßiger Roheit und Unkultur hier noch herrschte, als das übrige Westeuropa bereits unter dem Einfluß der wiedererwachten Künste war. Geschmack und Komfort fanden hier sehr spät eine Stätte. Als Schottland während des 16. Jahrhunderts in die nächste politische Beziehung zu Frankreich trat, waren die Zustände des Landes noch so arm und hoffnungslos, um in der Bevölkerung desselben nicht einmal den Gedanken an Mitbewerbung oder Nacheiferung aufkommen zu lassen. Den Rest tat der Puritanismus; was noch von Schätzen und Vorbildern guten Geschmacks übrig war, das brannte er nieder oder entkleidete es seiner Schönheit. Abgeschiedenheit, Armut und das ausschließlich aufs Innerliche gerichtete religiöse Leben des schottischen Volks vereinigten sich dahin, der Kunst und ihrem nie fehlenden Gefolge, dem Komfort und dem Luxus, die Niederlassung, das Bürgerrecht in diesem Lande zu erschweren. Das Haus blieb hier ein bloßer Steinbau mit kleinen Türen und dürftigen Fenstern, eine Schutzwehr gegen Wind und Wetter, ein Kastell, fest, eng, warm, aber- schmucklos.

Wer geneigt sein könnte, einen Zweifel hiergegen zu erheben, der sehe sich um in Canongate. Kein englischer Fisch- und Gemüsehändler würde jetzt Raum, geschweige Komfort genug in einem jener grauen Steinhäuser finden, drin noch vor 100 Jahren die Träger berühmter Namen sich's wohl sein ließen.

Nur einige Häuser zeichnen sich auch jetzt noch durch ihre Geräumigkeit oder durch jene Apartheiten in der Bauart aus, die uns sofort mutmaßen lassen, daß es nicht alltägliche Dinge gewesen sein können, die sich darin zugetragen haben. Da haben wir zunächst zur Linken »Queensberry-House«. Die ehemalige Wohnung der Herzöge gleichen Namens ist seit 50 Jahren und mehr zu einem Hospital und Armenhaus geworden, eine Umwandlung, der man es lassen muß, daß sie im Einklang steht mit dem spukhaften Mauerwerk und der finstren Geschichte, die sich daran knüpft. Diese Geschichte ist folgende. Es war am 1. Mai 1707, an demselben Tage, an dem die Union zwischen England und Schottland, die bis dahin nur als Personalunion bestanden hatte, durch Abgeordnete beider Länder zum Abschluß gebracht wurde. Die glückliche Beendigung der dahin abzielenden Schritte war das Werk und Verdienst des schottischen Herzogs von Queensberry. Der Herzog verließ früh das Haus, um beim Abschluß der Verhandlungen zu präsidieren. Ganz Edinburg war auf den Straßen. Auch die Dienerschaft von Queensberry-House hatte das herzogliche Palais verlassen; niemand war im Hause zurückgeblieben als des Herzogs ältester Sohn, wahnsinnig in seiner Zelle, und ein Küchenjunge hinterm Herd. Gegen Mittag waren die Verhandlungen geschlossen, Kanonenschüsse vom alten Schloß her rollten über die Stadt hin. Alles strömte heim, auch die Dienerschaft von Queensberry-House. Was fanden sie vor? Die Eisenstäbe der Zelle waren zerbrochen; in der Küche stand der Wahnsinnige und drehte den Spieß; an dem Spieß steckte der Küchenjunge. Das Grausige dieser Geschichte wächst noch durch den leisen Beisatz von Komischem, der unser Gefühl in einen gewissen Zwiespalt und uns vor uns selber fast unter die Anklage der Frivolität bringt.

Hundert Schritte aufwärts von Queensberry-House haben wir Moray-House an derselben Seite der Straße. Die blanken Fenster und die geputzten Messinggriffe sagen uns hier, daß noch Bewohner hinter diesen sauber gehaltenen Wänden leben, die, wenn nicht an Rang und Reichtum, so doch an Sitte und vornehmer Gewöhnung jenen königlichen Morays verwandt sein müssen, die vor zwei Jahrhunderten hier heimisch waren und dem Hause seinen Namen gaben. Im Vorübergehen gewahren wir an den Fenstern des ersten Stocks einen schmucklosen eisernen Balkon. Die Geschichte, die sich daran knüpft, erzähl' ich in einem späteren Kapitel.

Zwischen Queensberry-House und Moray-House, an der andern Seite der Straße, liegt die alte Kirche von Canongate. Die Kirche ist häßlich und interesselos, und selbst die Grabsteine, die nach allen vier Seiten hin sie umlagern, weisen keinen einzigen Namen von Bedeutung auf. Um den Namen Adam Smiths scheint diese Begräbnisstätte durch einen Zufall oder eine Laune gekommen zu sein. Das Grab des Schöpfers der Nationalökonomie befindet sich seitab in einiger Entfernung vom Kirchhof. Kirchlicher Rigorismus kann dabei nicht maßgebend gewesen sein, da Adam Smith auch in kirchlichen Dingen durchaus jene Harmlosigkeit zeigte, die ihm in allen Lebensbeziehungen eigen war. Von dieser Harmlosigkeit sei es mir gestattet, hier einen anekdotischen Zug als Probe einzuschalten. Der Verfasser des »Reichtums der Nationen«, der, beiläufig bemerkt, wie fast alle Nationalökonomen in der Verwaltung seiner eigenen Angelegenheiten hinter den bescheidensten Anforderungen zurückblieb, war unverheiratet, stand aber statt dessen unter der strengen Herrschaft einer Anverwandten, die ihm die Wirtschaft führte. Er hatte wenig Neigungen und Bedürfnisse, nur ein Stückchen Zucker liebte er dann und wann aus der Schale zu naschen. Diese Neigung zu befriedigen war aber nicht immer leicht, da die Zuckerschale unter der besonderen Aufsicht der Dame des Hauses stand. Er pflegte zu diesem Zwecke im Zimmer auf und ab zu gehen, die Anverwandte in ein Gespräch zu verwickeln und dabei abzuwarten, bis sie endlich der Schale den Rücken zukehrte; diesen Moment benutzte er dann, um seinen Überfall mit Mut und Geschicklichkeit auszuführen.

Unmittelbar neben der alten Kirche liegt das Gefängnis von Canongate, ein wenigstens um etwas bemerkenswerterer Bau, wenn auch nur seiner lateinischen Inschrift halber. Dieselbe lautet: »Sic itur ad astra«, als ob der Weg durch das Canongate-Gefängnis eine besondere Anwartschaft auf den Himmel böte. Niemand in Edinburg hat mir diesen Widersinn erklären können. Vielleicht, daß das Gebäude in alten Zeiten einem völlig verschiedenen Zwecke gedient hat.

Das Haus von John Knox

Das Haus von John Knox

Wir haben jetzt Canongate passiert, d. h. haben den am Hügelabhang liegenden Teil der großen Verbindungsstraße zwischen Holyrood-Palace und Edinburg-Castle hinter uns und treten jetzt da, wo die Straße den Hügelrücken erreicht hat und in horizontaler Linie sich fortzusetzen beginnt, in High-Street ein. An dieser Stelle nimmt die eigentliche Altstadt Edinburg ihren Anfang. Hier befand sich in früheren Jahren, wenn ich nicht irre, ein Tor, das die eigentliche Stadt von der Vorstadt schied, ähnlich wie sich Temple-Bar noch jetzt zwischen City und Westminster, oder die Porte St. Martin zwischen der Stadt und dem Faubourg erhebt. Gleich das erste Haus, das wir zur Rechten haben, wo Canongate sich plötzlich in die breitere High-Street erweitert und dadurch eine Art Eckhaus bildet, ist ein Gebäude von hohem Interesse. In diesem Hause lebte John Knox. »Und dies dieselbe High-Street«, so sagten wir uns, »die der mutige Mann so oft und so freudig entlang schritt, um in der alten St.-Giles-Kirche den Zorn Gottes auf die 'Gottlosen' herabzurufen!« - »Und dies dasselbe Canongate«, so setzten wir hinzu, »das er zögernd hinabstieg, wenn es andern Tags galt, die Drohworte von St. Giles vor der Königin in Holyrood-Palace zu entschuldigen oder – zu wiederholen!« Das Gebäude, wie es da ist, läßt an altem Ansehn nichts zu wünschen übrig, dennoch ist es, soviel ich weiß, eine Art Kunstprodukt, zu dessen Herstellung man im Lauf der letzten zehn Jahre geschritten ist. Man kam zu einer Art Kompromiß und behing sozusagen einen neu hergestellten Leib mit den alten Kleidern. Wie man von baufälligen Kirchen eine Reihe von Freskobildern loszulösen und diese Bilder dann neuaufgerichteten Wänden wieder anzufügen versteht, so hat man auch das alte Haus des John Knox einem unerläßlich gewordenen Umbau zu unterwerfen gewußt, ohne dadurch die Formen und Verhältnisse des Hauses zu zerstören oder gar gewisse Apartheiten und Ornamente desselben zu beseitigen. Die Weise, in der dabei von seiten der Bauverständigen verfahren wird, entgeht zwar niemals den Angriffen der antiquarischen Enthusiasten, aber wer könnte ihnen genügen? Hier in London hab' ich vor kurzem den Beauchamp-TurmDer Beauchamp-Turm ist unter den vielen Türmen und Plätzen, die im Tower gezeigt werden, so ziemlich der interessanteste. Er diente während des 16. Jahrhunderts (unter den Tudors) als Staatsgefängnis. Im Jahre 1852, als ich ihn zuerst sah, war er noch wohlerhalten und allem Anschein nach durchaus intakt; das Hauptzimmer mit seinen zahlreichen in den Kalk gekratzten Sprüchen und Wappenbildern (Inschriften von den Dudleys, den Pooles etc.) machte den Eindruck völliger Echtheit. Seitdem hat man das Innere des Turms ganz umgebaut und in die Mörtelbekleidung der neuen Wände basreliefartig alle die alten, mit mehr oder mindrer Sorgfalt losgelösten Stücke eingefügt. Gegen das Prinzip, das diesem Verfahren zugrunde liegt, läßt sich gewiß nichts Erhebliches sagen, aber das »wie«, die Art der Ausführung, hätte allerdings eine sorglichere und pietätsvollere sein können. Man hat die historische Patina hinweggeputzt, ohne welche diese Dinge aufhören, sie selbst zu sein. (im Tower) nach einem ähnlichen Prinzip, wie oben beschrieben, restaurieren sehen. Die von außen wahrnehmbaren Sehenswürdigkeiten des John Knoxschen Hauses bestehen aus drei Dingen: erstens aus dem kleinen Eckfenster im ersten Stock, von wo herab der Reformator häufig zu dem unten versammelten Volk gesprochen haben soll; zweitens aus einer Inschrift, die da lautet: »Love God above all and your neighbour as yourself« (Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst), und drittens aus einer bunt bemalten kleinen Holzpuppe, die sich unmittelbar neben jenem Eckfenster befindet und den Reformator selber, wie er zum Volke predigt, darstellen soll. Diese Puppe, wahrscheinlich nicht älter als 50 Jahre, ist das Produkt guten Willens und wenig Geschmacks. Sie hat nur das Gute, daß sie das Haus in unverkennbarer Weise markiert und dem Fremden ein Führer oder Fingerzeig wird, ohne dessen Hilfe das ziemlich unscheinbare Haus unter einer Masse ähnlicher Baulichkeiten verschwinden würde.

High-Street weiter hinaufgehend, haben wir jetzt, zumal wenn wir uns auf der rechten Seite der Straße halten, einen Überblick über die drei Kirchen, die den Weg von Canongate bis Edinburg-Castle in drei fast gleiche Teile teilen und, ohne selber besonders schön zu sein, nicht wenig zu dem malerischen Effekt der ganzen Stadt beitragen. Vom Monumente Walter Scotts aus (siehe das zweite Kapitel), wo High-Street und Canongate im Profile vor uns liegen und eine Seiten-Vue gestatten, ist dieser Effekt freilich am größten, aber auch en face die Straße hinansteigend, so bald wir nur die eine Linie vermeiden, auf der die erste Kirche (Tron-Church) die beiden andren deckt, genießen wir eines prächtigen Anblicks.

Blick auf die Altstadt von Edinburg

Blick auf die Altstadt von Edinburg

Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit Tron-Church, haben diese alte, nichts Besonderes bietende Kirche unmittelbar zu unserer Linken und blicken nun, die Strecke bis zur St.-Giles-Kirche hinüberschauend, in den schönsten und historisch berühmtesten Teil von High-Street hinein. Die Dinge unterscheiden sich hier wesentlich von dem, was wir in Canongate gesehen. Die Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße erheben, sind ebenso alt oder noch älter als dort; die Leute, die drin leben, haben ebenso wenig oder noch weniger irgend etwas gemein mit jener Aristokratie, die hier wie dort einst ihre Paläste hatte; Schmutz, Armut und Hökerkram haben hier wie dort ihre Wohnung aufgeschlagen. Aber was den Unterschied macht, das ist das Massenhafte der Bauart, der wir hier begegnen. Die grauen Quaderhäuser mit breiten, vielfenstrigen Fronten steigen sechs und sieben Stock hoch in die Luft und geben der ganzen Straße das Ansehn einer Reihe von Palästen. Daß diese Paläste räuchrig und schmucklos, zum Teil schmutzig und halb verfallen sind, reicht nicht aus, der Straße diesen ihren Charakter zu nehmen. Die Häuser von Canongate gleichen vernachlässigten Sommerresidenzen, in denen der Adel früherer Jahrhunderte seinen temporären Aufenthalt nahm, hier auf dem Rücken des Hügels aber haben wir wirkliche Schlösser; hoch, fest, imposant. Diesen Charakter des Schloßartigen hat die Straße in so hohe Maße, daß die stattlichen Neubauten (Bank, Börse, Rathaus, Parlament) , die man hier und dort zu beiden Seiten der Straße aufgeführt hat, nicht imstande gewesen sind, den imponierenden Eindruck des Ganzen zu steigern – gegenteils. Ich komme später auf diesen Punkt zurück.

Die einzelnen Häuser, selbst die besten, zu beschreiben, ist nicht möglich. Was über sie zu sagen ist, das ist gesagt. Eines gleicht dem andern. Grau, steinern, schmucklos steigen sie in die Luft, unmalerisch einzeln, aber pittoresk als Ganzes und immer wirksam durch Masse und Proportion. Was ihnen bei genauerem Einblick einen aparten Zug verleiht, das sind die sogenannten »Engen«, jene wunderlichen Kreuzungsprodukte von Hof, Mauergang und Sackgasse, die unter dem Namen der »Closes von Edinburg« in ganz England eine Art von Notorität erlangt haben. Diese »Closes«, wie schon aus meiner obigen Umschreibung hervorgeht, sind nicht geradezu etwas Neues und Besondres. Neben jenem Mischlingscharakter, der sie allerdings eigentümlicher erscheinen läßt als sie sind, verdanken sie ihren Ruf wohl zumeist dem Umstande, daß es in ganz England wenig alte Städte gibt, d. h. Städte, die sich noch in ihrem ehemaligen alten Aufzuge der Welt präsentieren. In unseren alten deutschen Städten ist an solchen Closes kein Mangel; unsre »Höfe« in Wien, Augsburg, Leipzig, Danzig, sind im wesentlichen dasselbe. Noch ähnlicher sind ihnen die »Courts« in den alten Stadtteilen Londons: besonders am Strand, um Drury-Lane herum und in Fleet-Street. Die letztere Straße ist so reich daran, daß man sie der High-Street von Edinburg fast an die Seite setzen könnte. Aber was diesen Closes, weit über ihren eigentlichen Anspruch hinaus, wenigstens den Schein von etwas Besonderem leiht, das ist ihre ganz aparte Enge. Man passiert zuerst einen schmalen, überwölbten, leider oft als Rinnstein dienenden Gang, der sich durch die ganze Tiefe des Hauses zieht, etwa wie ein Festungstor durch die ganze Tiefe der Mauer läuft. Hat man, nach vorsorglicher Applizierung eines Taschentuches, diesen im Dunkeln fließenden Schleichbach hinter sich, so steht man auf einem mal stein-, mal fliesenbedeckten Hofe, der bei der Höhe der Häuser, die ihn dicht umschließen, mehr einem Rauchfang als einem Hofe gleicht. Treppen münden hier aus, unbeschreiblicher Schutt und Hausrat liegt in den Winkeln umher, und durch alle Etagen hindurch hängt Wäsche an Stöcken und Stangen zum Fenster hinaus. Wieviel Tage die letztere braucht, um hier ohne Luft und Licht zu trocknen, hätt' ich gern erfahren. Das sind die Closes von Edinburg. Sie zu betreten ist mißlich; aber von der Straße aus durch den dunklen schmalen Gang hindurch in den Hof und sein Getreibe hineinzublicken, verlohnt sich doch der Mühe. Neben manchem bloß Pikanten bietet sich auch Malerisches und durch Reiz und Schönheit Fesselndes dar. Ich entsinne mich einzelner Häuser, in denen der schmale Gang des Vorderhauses sich über den Hof fort noch durch die ganze Tiefe des Hinterhauses zog. In einem anderen Falle lief neben dem letzteren eine offene, als Garten benutzte Passage her. Dieser Gartenstreifen, kaum vier Fuß breit, hatte nach vorn hin eine Gittertür; ein dahinterstehender Rosenstrauch reichte seine Rosen durch die Eisenstäbe hindurch in den Hof hinein, über Gitter und Strauch aber schwebte ein Stück Himmel, auf dessen blauem Hintergrunde sich das bunte Leben von Princes-Street wie ein Camera-obscura-Bild auf und ab bewegte. Auf dem Wege von Tron-Church bis St. Giles haben wir das eigentliche High-Street-Leben um uns her. Wenig Fuhrwerk auf dem Straßendamme, aber desto mehr Verkehr auf dem Trottoir und dem Bürgersteige. In den Mittagsstunden und beim Dunkelwerden, wenn »Feierabend« begonnen hat, gesellt sich zu diesem Tages- und Geschäftsverkehr noch eine andere Art von öffentlichem Leben, das, soweit ich es kenne, in dem nördlichen Europa nichts Gleiches hat und durchaus an das Treiben italienischer Städte erinnert. Die Buntheit, die Heiterkeit des Südens fehlt, aber das Stehen und Schwatzen vor den Türen ist allgemein und geht rasch in jenes stille, behagliche Auf und Ab, in jene mußevolle Bewegung über, die kein Ziel verfolgt und sich selber Zweck ist. Die armen Leute von Edinburg gehen allabendlich auf ihrer High-Street spazieren. Das klingt nicht viel, ist aber eine große Sache und gibt jedenfalls der ganzen Straße einen Charakter, der uns durch seine Neuheit völlig frappiert. Unsre nordischen Straßen haben aufgehört, Versammlungsplätze zu sein, sie dienen ausschließlich dem Verkehr und gleichen abgesteckten Rennbahnen, auf denen nur gelaufen wird.

Aber selbst die Buntheit des Südens sollten wir nicht lange vermissen, als wir High-Street entlangschritten. An allen Ecken standen Hochlandssöhne mit Kilt und Plaid, nicht genau in die Farben ihrer Clans gekleidet, aber immer noch bunt genug, um das Bild zu beleben. Es waren Werbeunteroffiziere von den Highlanders, »Kameraden von der hohen Nummer«, was in England einen stolzen Klang hat, wo die Nummern 72. und 93. auf den Hochlandsschultern zweier berühmter Regimenter stehen. Vieles ist gegen die Hochlandstracht im allgemeinen gesagt und geschrieben worden, und gewiß mit Recht, aber malerisch ist und bleibt sie. Selbst das Zwitterkostüm der Hochlands- Regimenter, die oben den abgeschnittenen roten Frack der Engländer adoptiert, nach unten hin aber den Kilt und die Nacktbeinigkeit in aller Integrität bewahrt haben, ist immer noch eine Schöpfung von relativer Geschmacksfülle. Unter allen Umständen fehlt – die Hose, dieser Triumph des Praktischen über die Schönheit. Kurz vorher, eh' wir nach Schottland aufbrachen, hatten wir in London die Straßen und Plätze besucht, auf denen der englische Werbeunteroffizier sein Wesen treibt. Es war uns somit eine vortreffliche Gelegenheit zum Vergleich gegeben. Der Vergleich fiel sehr zugunsten Schottlands aus. In beiden Fällen, hier wie dort, war das Bierhaus Station und Sammelplatz; aber der echte Hochländer, der, wie das Sprichwort sagt, sich schon die Muttermilch mit Whisky verdünnt, scheint dem Werbegeschäft besser gewachsen zu sein. Er bleibt nüchtern. Breakfast und Lunch (zweites Frühstück) waren längst vorüber, doch unangefochten, fest, gradlinig, gravitätisch schritten ein paar Sergeanten vom Sutherland-Regimente auf und ab, uns musternd und dann grüßend, als wir an ihnen vorübergingen. Sie hatten in meinem Gefährten den »alten Offizier« herauserkannt. Dasselbe passierte uns in Stirling ein paar Tage später. Das Ganze gab ein schönes Bild; auf dem dunklen Hintergrunde hoben sich die bunten Trachten trefflich ab, gegenüber stiegen die grauen Häuser turmartig in die Luft, und aus der Ferne, nur leise von Nebel umhüllt, grüßte Edinburg-Castle.

Dieser Gruß mahnt uns zur Eile. Zunächst erreichen wir die Börse, die sogenannten Exchange-Buildings. Vor derselben, den Rücken gegen das Gebäude, machen wir halt, um Umschau zu halten. Wir blicken zunächst gegenüber auf die linke Seite der Straße. High-Street buchtet sich hier, nach Süden hin, platzartig aus; die St.-Giles-Kirche indes, die sich inmitten dieser Ausbuchtung (Parlaments-Square geheißen) erhebt und mit einer ihrer Seitenfronten bis in High-Street vorspringt, stellt dadurch die unterbrochene Straßenlinie wieder her. Wir befinden uns angesichts dieses Platzes im Mittelpunkte von High-Street und in mehr als einer Beziehung am wichtigsten Punkte Edinburgs überhaupt. Den ehrwürdigen Bau, in dem Knox predigte, unmittelbar vor uns, übersehen wir zu gleicher Zeit die Mehrzahl der Gebäude, die sich hakenförmig um diese Kirche herum gruppieren: das Rathaus, das Parlamentsgebäude und die Gerichtshöfe. Alle diese Häuser, einschließlich des Börsengebäudes, an das wir lehnen, sind entweder neu oder doch neuerlichst so gründlich repariert, daß sie den Eindruck von Neubauten machen. Es soll damit kein Tadel ausgesprochen sein, um so weniger, als die Änderungen, die vorgenommen wurden, aus Verkehrs- und Gesundheitsrücksichten dringend geboten erschienen. Auch wär' es unbillig, in Abrede zu stellen, daß der Platz, wie er da ist, immer noch den Eindruck des Stattlichen, des Großstädtischen macht. Das alles sei zugegeben. Aber andrerseits freilich trägt dieses Rathaus, das z. B. den athenischen Tempel des Erechtheus kopiert, ein völlig fremdes Element in die alte High-Street von Edinburg hinein und erzeugt notwendig den Wunsch in uns, daß es auf eine kurze halbe Stunde wieder so sein möchte wie vordem. Da war alles aus einem Guß; eckig, winklig, verbaut, aber malerisch. Links vor uns an der Nordostecke der Kirche erhob sich das Wahrzeichen der Stadt, das »City-Kreuz«, während rechts an der Nordwestecke das alte Tolbooth-Gefängnis mit seinen Erkern und Türmen aufwuchs und die High-Street beinah absperrte. Nichts von Säulen und Pilastern zog sich damals an den Steinfassaden der alten Gerichts- und Parlamentsgebäude entlang, und statt der ängstlichen Sauberkeit des frisch abgeputzten St. Giles, präsentierte sich der alte Bau im Schmuck seiner Buden und Kramläden, die sich eng und niedrig unter die gotischen Fenster gekauert oder in voller Breite zwischen den Strebepfeilern etabliert hatten. Das Mittelalter hatte doch recht, und unsere Purifikation, wo immer sie sich breit macht, hat oft herzlich wenig von dem guten Geschmack an sich, den sie in großen Buchstaben auf ihre Fahne schreibt. Die alten Kirchen wuchsen wie aus dem Leben des Volks hervor, und deutungsreich war es, wenn Bürger und Händler am Mauerwerk ihrer Kirche ihr Nest zu bauen liebten. Es war eine Verwachsenheit da, die jetzt fehlt. Kalt, sauber, sonntäglich erheben sich unsere Kirchen neben uns, und wir sehen uns in ein festtägliches Verhältnis zu jenen Plätzen gebracht, wo sonst der Umgang, die Liebe, die Vertraulichkeit, auch wohl die Ungeniertheit des alltäglichen Lebens war.

Mit der St.-Giles-Kirche und ihrer Umgebung haben wir den Höhepunkt des Interesses erreicht, das uns die High-Street gewähren kann. Weiter hinauf werden die Häuser wieder baufälliger und kümmerlicher, und die paar Ausnahmen, die uns begegnen, bieten nicht Stoff genug, um bei ihnen zu verweilen. Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit der dritten und letzten der High-Street-Kirchen (der sogenannten Assembly-Hall, in der alljährlich die General-Synode sich zu versammeln pflegt), biegen aber, anstatt den kahlen Wänden einer neugebauten schottischen Kirche einen bloßen Anstandsbesuch zu machen, lieber in die gegenübergelegene Gasse und ein dicht daran anstoßendes Gärtchen ein, um der Poetenwohnung Allan Ramsays, dieses nordischen Hans Sachs, einen Blick zu gönnen. Aber auch nur einen Blick; die Stille, die Abgeschlossenheit, die Lieblichkeit des Orts, die uns zu einer andern Zeit gewiß auf längere Minuten gefesselt hätte, hält uns heute nicht, denn immer näher hören wir militärische Musik die Wege und Windungen des Hügels heraufkommen. Die Neugier treibt uns zu sehen, was es gibt. In demselben Augenblick, wo wir den Platz erreichen (Esplanade genannt), der vor dem Mauer- und Festungswerk von Edinburg-Castle sich ausdehnt, erscheinen auch, Musik vorauf, die ersten Sektionen eines englischen Regiments zu unsrer Rechten und marschieren, den Platz in seiner Breite überschreitend, dem geöffneten Festungstore zu. Es sind dies die Sussex-Milizen unter Führung ihres Obersten, des Herzogs von Richmond. Bis vor wenig Tagen in Dover garnisoniert, hat eine vielleicht unerwünschte Ordre sie aus dem Süden Englands plötzlich nach Edinburg geführt. Edinburg-Castle tritt an die Stelle von Dover-Castle, Scharen von Volk, jung und alt, Weiber und Kinder, folgen ihnen nach, um an den »Southrons« (d. h. die Südlichen) ihren Witz und ihre Malice zu üben. Auch wir schließen uns dem Zuge an, und während das »Britische Grenadiere« lustig weiter klingt und die Schloßwache ins Gewehr tritt, ziehen wir durch allerhand Tor- und Gitterwerk lachend mit ein in Schloß Edinburg.


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