Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenunddreissigstes Kapitel

Es war grad am Johannistage, daß dieser Brief Obadjas in Krummhübel eintraf und, nach einigem Schwanken, wer denn eigentlich als Adressat anzusehen sei (denn es gab keinen Kirchen- und Gemeindevorstand von Wolfshau), von dem neuen Arnsdorfer Pastor unter Herzuziehung von Exner und Gerichtsmann Klose geöffnet und gelesen wurde. Selbstverständlich in großer Aufregung, an der alsbald das ganze Dorf teilnahm, vor allem die Wolfshauer. Wer irgend konnte, nahm Abschrift von dem Brief, auch Exner und Klose, da das Original zu den Akten mußte.

Das war am Johannistag 1885.

Drei Tage später kam auf der Krummhübler Chaussee, von Schmiedeberg her, ein Zweispänner herauf, hinten mit einem auf die Pritsche geschnallten großen Reisekorb, vorn aber mit einem obeliskartig aufgerichteten Lederkoffer. Halb in Deckung dieses Koffers, und zugleich Schulter an Schulter mit dem Kutscher, saß ein kleiner Herr in einem modischen, grau- und braunmelierten Reiseanzug und sprach dann und wann lebhaft in den mit drei Damen besetzten Fond des Wagens hinein. Alle schienen heiter und ausgelassen. Aber wer sie waren, ließ sich nicht deutlich erkennen, da sich die Damen mit ihren Sonnenschirmen und der kleine Herr sogar mit einem graukattunenen Regenschirm gegen die Sonne schützten. Eins nur war gewiß, sie konnten nicht fremd an dieser Stelle sein; das sah man an ihren Bewegungen und lebhaft vorgestreckten Zeigefingern, wenn sie den einen oder anderen Punkt wiedererkannten.

So kamen sie bis an den ziemlich steilen Abhang, der von der Untermühle her zum Dorfe hinaufführt, und bogen nach Passierung dieser von allen Hauderern und Lohnkutschern gefürchteten Stelle glücklich an der Schmiede vorüber, in die Dorfstraße ein. Und nun hielten sie vor der »Schneekoppe«, wo sie schon erwartet zu werden schienen, denn alles stand in der Tür, um sie zu begrüßen, auch Marie, die seit den mittlerweile verflossenen sieben Jahren noch etwas korpulenter, aber, trotz aller Korpulenz, nur eleganter und hübscher geworden war. Endlich wurden auch die Schirme zugeklappt, die rotseidnen wie der kattunene, und jeder sah nun, daß es Espes waren.

Ja, es waren Espes, die, nach Begrüßung der gesamten Exnerfamilie, sofort auf die offene Halle zuschritten und hier an ihrem Stammtische Platz nahmen.

»Nun, Marie, da sind wir wieder. Alles unverändert; herrlich. Und Sie selber! Immer jünger geworden ... Wenn ich Sie bitten darf, Marie: vier Schnitzel und zwei Kulmbacher. Und zwei Himbeerlimonaden ;... Oder haben die Damen vielleicht andere Befehle? Geraldine, vielleicht Mosel und Erdbeeren?«

Espe sagte das alles sehr forsch und zeigte sich überhaupt verwandelt, sogar in seiner Haltung seiner Frau gegenüber, was ihm gut stand und als ein Resultat der großen Ereignisse der letzten zwei Jahre – er war »Geheimer« geworden – angesehen werden konnte. Das eigentlich Ausschlaggebende lag aber erst ganz kurze Zeit zurück und bestand darin, daß ihm, beim letzten Ordensfeste, die dritte Klasse behändigt worden war, bei welcher Gelegenheit (ein Glück kommt nie allein) der an ihn herantretende Kronprinz mit der ihm eignen Freundlichkeit gesagt hatte: »Was Tausend. Espe, auch hier? Wie geht es? Freue mich sehr« – Huldbeweise, zu denen sich bei Geraldine nach und nach die ganz richtige Betrachtung gesellt hatte, daß das Eheliche, bei maßvollen Ansprüchen, eigentlich angenehmer und besser als das »ewige Gehabe« sei, das, bei Lichte besehen, wenig Vergnügen und bloß viel Klatschereien einbringe. Sie lachte jetzt mitunter über die zurückliegenden Zeiten und sagte, wenn sie mit Espe, während Selma den Tee machte, eine Partie Besique oder Rabouge spielte: »Espe, du könntest mir wohl mal einen Kuß geben.« Das tat er denn auch und war glücklich über seine verbesserte Stellung, seine Frau und seine Kinder, die, beiläufig, seit sie groß und erwachsen waren, ihrem Namensgeber womöglich noch unähnlicher sahen als früher. Im übrigen hatte er, wie alle Leute, die mit vierzig schon fast wie Siebziger aussehen, nicht im geringsten gealtert und war beinah lebhafter und gesprächiger als früher. »Ach, da ist ja auch der Springbrunnen«, wandte er sich an die beiden Töchter. »Und da der Mittagsstein. Und da die Koppe. Sieh nur, Selma, wie scharf profiliert; welche Silhouette!«

Die Mädchen kicherten, weil sie die Schwäche des Vaters kannten, auf Reisen und an öffentlichen Orten immer zu Fremdwörtern zu greifen, waren aber sonst, was die »Silhouette« betraf, ganz derselben Meinung und suchten ihrerseits nach den Teichrändern und ob man, bei dem klaren Wetter, vielleicht die Schneegruben und die Große Sturmhaube sehen könne.

In dieser Weise setzte sich das Gespräch fort und ward erst unterbrochen, als Marie mit dem Tablett kam und die Couverts aufstellte, wie sich denken läßt, mit besonderer Artigkeit gegen die Rätin, deren dominierende Stellung ihr aus früherer Zeit her noch sehr wohl in Erinnerung war. Ebenso fand sie für die Fräuleins, die, weil beide sehr hübsch, seit lange schon ein Gegenstand hochfliegendster mütterlicher Pläne waren, die allerschmeichelhaftesten Worte. Marie verstand das.

Espe selbst wurde bei diesem Tischgespräch nur gestreift, was darin seinen Grund hatte, daß er – sonst ein guter und freudiger Esser – heute das sich vorbereitende Frühstück eigentlich nur als eine Störung ansah und fortfuhr, mit seinem Opernglas an den Bergen entlang zu suchen. »Ah, da ist ja auch das Gehänge. Und da rechts, wenn mein Glas mich nicht täuscht, steht so was wie ein Denkmal; das muß ungefähr die Stelle sein, wo sie damals den Opitz gefunden haben. Sagen Sie, Marie, wie steht es denn damit? Ist es noch immer nicht heraus? War es der Menz (so hieß er ja wohl), oder war er's nicht?«

»Ja, Herr Rat, er war es ... Oder Herr Geheimer ... Ich weiß nicht recht, aber ich habe gehört ...«

»Bitte, bitte, Marie.«

»Nun denn, Herr Rat, der Lehnert Menz war es. Seit drei Tagen wissen wir es gewiß. Und Herr Exner hat auch eine Abschrift genommen.«

»Eine Abschrift? Wovon?«

»Von dem Brief, der hier ankam. Aus Amerika. Den Namen hab ich vergessen.«

»Ei, da bin ich doch neugierig, Marie. Kann man den Brief nicht lesen?«

»O gewiß, gewiß. Ich werd es in der Küche der jungen Frau Exner sagen und Ihnen den Brief bringen, das heißt die Abschrift. Es ist alles sehr rührend, und alle sind wieder für ihn und gegen Opitz, und die alte Frau Böhmer hat sogar geweint.«

Eine Viertelstunde später waren Espes in alles eingeweiht. Der Geheimrat hatte klüglicherweise den Brief erst überflogen, weil man doch nicht wissen könne ... dann aber alles vorgelesen, Zeile um Zeile, und war, was ihm nicht leicht passierte, wenigstens vorübergehend, in eine nicht geringe Bewegung geraten, von der er sich erst, als er den Brief an Marie zurückgab, durch die Bemerkung frei zu machen suchte: »Ich sehe hier Namen und nehme an, daß es eine vidimierte Abschrift ist.«

Diesmal kicherten die Mädchen nicht und waren vielmehr ganz bei Lehnert und Ruth.

»Ruth«, sagte Selma zu Frida. »Welch hübscher Name!«

»Ja. Und wie geschaffen für eine Liebesgeschichte. Hättest du ihn nehmen mögen, Selma?«

»Gewiß hätt ich. Und noch dazu drüben in Amerika, wo man nicht das Aussuchen hat. Aber wenn auch, wer sich für einen Freund opfert, opfert sich auch für eine Braut. Und darauf kommt es an. Er muß ganz ungemein schneidig gewesen sein.«

Espe, der das plötzlich in ihm lebendig gewordene Mitleid längst wieder den Forderungen staatlich-gesellschaftlicher Sicherheit untergeordnet hatte, nahm Anstoß an diesen Gewagtheiten seiner Tochter, ganz besonders aber an dem Worte »schneidig«.

»Du weißt, Selma, daß ich das nicht liebe. Vor allem aber solltet ihr über das Nebensächliche die Hauptsache nicht vergessen. Es ist hier formell und materiell gefehlt und nichts in die rechten Wege geleitet worden. Soviel ich weiß, haben wir, wie mit anderen zivilisierten Staaten, auch mit Amerika Kartellverträge. Daraufhin mußte die Spur dieses Lehnert Menz verfolgt und auf seine Auslieferung bestanden werden. Er gehörte vor die Geschworenen und nach seiner Verurteilung (die wohl nicht ausbleiben konnte) vor Krauts, den wir ja jetzt, ich will nicht sagen auf Requisition, aber doch auf behördlichen Antrag, auch in den Provinzen haben können. Was heißt quitt? Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen; das ist ›quitt‹. Der Staat, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist in diesem Fall in seinem Recht leer ausgegangen, und die Justiz hat das Nachsehen. Und das soll nicht sein und darf nicht sein. Ordnung, Anstand, Manier. Ich bin ein Todfeind aller ungezügelten Leidenschaften.«

»Ach, Espe, laß das«, sagte die Rätin.

Und Bilder anderer Tage standen auf einen Augenblick wieder vor Geraldinens Seele.


 << zurück