Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Zehn Uhr war durch, als Lehnert, der inzwischen sein Gewehr an einem anderen Versteckort wieder untergebracht hatte, bei der Hampelbaude eintraf. Trotz später Stunde war noch Leben drin, sogar Tanz, zu dem zwei böhmische Harfenistinnen von mittleren Jahren und ein zwölfjähriger Geiger lustig aufspielten. Lehnert setzte sich und ließ sich ein Nachtessen geben, als es aber vor ihm stand, schob er es wieder zurück und sprach nur dem Bier zu. Was um ihn her tanzte, waren Sommergäste, darunter Mütter, die dicht vor der silbernen Hochzeit, und Töchter, die dicht vor der ersten Konfirmationsstunde standen. Auch die Väter waren, in Ermangelung anderen Tanzmaterials, mit herangezogen worden, behäbige Männer mit ängstlich kurzen Hälsen, die durch Bemerkungen wie »frei weg« oder »immer feste« jeder weiteren Legitimation hinsichtlich ihres Wohnorts entbehren konnten. Dazwischen trippelten die Backfische mit hohen Knöpfstiefeln und lang herabhängendem Haar, dessen letzte natürliche Welle dem voraufgegangenen sechsstündigen Marsch in Julihitze längst zum Opfer gefallen war. Zwei, die vierzehn und dreizehn sein mochten, hatten ernste Freundschaft geschlossen und gingen, während der Tanzpausen, um die Taille gefaßt, in dem mit Petroleumqualm gesättigten Saalzimmer auf und ab.

»Sieh, Ulrike, sieh bloß Hedwigen«, sagte der Vater der älteren, der jetzt als Cavaliere servente hinter dem Stuhl seiner Frau stand, »sieh bloß Hedwigen, wie sie die Augen schmeißt; ich glaube, die wird gut. Wahrhaftig, was ein guter Haken werden will ...«

»Ich bitte dich, Hermann, keine Unanständigkeiten ...«

»Aber, Ulrike, Haken ist doch nicht unanständig.«

»Nein. Aber besser ist besser. Ich kenne deine Anfänge und deine Schlüsse.«

Lehnert sah auf das Treiben, und mitunter könnt es fast den Anschein gewinnen, als freue er sich darüber, am meisten, wenn die jungen Dinger, von denen einige immer aus dem Takte heraus und andere noch gar nicht hinein waren, an ihm vorbeiwalzten. Dann aber schwand mit einemmal wieder alles, was um ihn her war, und er sah wieder Opitz um die Buschecke biegen und hörte, wie der Hahn aufschlug, und sah ihn zusammenbrechen. »Er hat es nicht anders gewollt ... Ob er tot ist ...? Er muß tot sein ...« Und während er noch so sann und in sich hineinredete, trat er aus dem heißen Saal ins Freie hinaus und sah nach dem Gehänge hinüber und dann hinauf in den gestirnten Himmel. Da stand die Sichel in aller Klarheit über ihm, aber über dem Toten am Wege stand sie auch.

Eine kalte Nachtluft ging, und Lehnert trat wieder in den Saal, der sich allmählich zu leeren anfing.

Als die letzten fort waren, erschien Lissi, seine gute Freundin, auch eine Böhmin, in der Tür und sagte: »Nun, Lehnert, was meinst? wenn ich der Bertha zurede, spielt sie noch einen Ländler auf, einen Ländler oder einen Schottischen.« Und die Harfenistin, die jedes Wort, das die beiden sprachen, gehört und guten Grund zur Freundschaft mit der Kellnerin hatte, fuhr auch gutwillig über die Saiten. Aber Lehnert wich aus und sagte, »daß er die fremden Herrschaften, die gewiß sehr müde seien, in ihrem Schlafe nicht stören wolle«.

»Was du da nur redest, Lehnert! Du willst halt nit. Das is alles. Aber gib acht, wenn du willst, will ich nit.« Und damit griff sie nach einer ganzen Anzahl von Seideln, die leer auf den Tischen umherstanden, und ging spöttisch und hochmütig an Lehnert vorüber. Zuletzt kam auch der Wirt. »Nu, Lehnert, ich sehe, du willst zu Nacht bleiben. Schlimm; alles voll bis unters Dach. Aber komm nur, ich weiß schon, was du gern hast.« Und dabei ging er voran und stieg, während Lehnert folgte, draußen am Giebel eine Leiter hinauf, die zunächst bis an eine Lukentür und durch diese hindurch nach dem Heuboden führte.

Lehnert machte sich's hier bequem und suchte zu schlafen. Aber es war zu schwül und der Heugeruch zu stark. So trat er denn wieder bis an die Lukentür heran und riß einen der beiden Flügel auf. Aber ebenso rasch schloß er ihn wieder. Schräg über ihm stand die Mondsichel und sah herab auf ihn und fragte.

Bald nach Tagesanbruch war Lehnert auf. Alles schlief noch, und nur das hübsche böhmische Mädchen, das er am Abend zuvor durch sein »Nein« erzürnt hatte, stand im Hof und spaltete Holz. Sie schien ihn nicht sehen zu wollen. Er trat aber an sie heran und sagte: »Laß gut sein, Lissi. Du weißt, ich bin kein Spielverderber und weiß, was sich paßt. Und wenn einem ein hübsches Mädel, und nun gar eins wie du, einen Kuß oder einen Tanz anbietet, da soll man nicht nein sagen. Das weiß ich so gut wie einer. Und hab ich dir schon was abgeschlagen? Nun, siehst du, du lachst. Also laß gut sein. Ich konnte nicht, mir war so schwindlig, und ich hätte von dem Bier nicht trinken sollen. Am Ende hast du was hineingetan, was einen behext. Und nun mache mir einen Kaffee, hörst du? Und vergiß nicht, wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Für die Berliner ist das andere gut genug.« »Pst.«

»Ach, die schlafen ja noch.« Und damit ging er auf einen Vorplatz zwischen Stall und Giebel und setzte sich in eine Gitterlaube, die an der windgeschützten Seite mit Convolvulus spärlich umwachsen war.

Und nicht lange, so kam der Kaffee mit Brot und Butter und einem Cognac; denn Lissi kannte seine Gewohnheiten. »Auf dein Wohl, Lissi! Und das nächste Mal tanz ich, bis ich umfalle.« Und als er das sagte, streckte er die Hand nach ihr aus. Aber sie gab ihm einen Klaps und sagte: »Du denkst halt, jede Stund ist gut zum Brezelbacken. Aber da irrst, das is nit wahr. ›Wer nicht kommt zur rechten Zeit ...‹ Und jetzt ist nicht rechte Zeit, und morgens ist nicht abends ... Aber mein Gott, da klingelt es schon und ruft auch schon. Ich wette, das ist die dicke Madame, die gestern tanzte, wie wenn ihre Hochzeit wär!«

Wirklich, es war drinnen im Hause lebendig geworden, und Lissi ging hinein und überließ Lehnert seinem Frühstück und seinen Betrachtungen, die nicht freundlich, aber auch nicht traurig waren. Gestern, als er hier ankam, war er in einer vollständigen Erschöpfung gewesen, und das Geschehene hatte noch mit all seinem Graus auf ihm gelastet. Das war aber über Nacht anders geworden, vier Stunden festen Schlafs hatten ihm seine Spannkraft und Energie zurückgegeben und ließen ihn jetzt das Behagen an einem gut besetzten Frühstückstische voll genießen. Was alles in allem überhaupt kein Wunder nehmen konnte. Denn wenn er schon, wie soviel andere, die Fähigkeit hatte, sich die Dinge, auch die schlimmsten, nach seinem Wunsch und Gebrauch zurechtzulegen, so war, im besonderen, alles, was sich gestern abend ereignet hatte, so wunderbar glücklich für ihn verlaufen, daß selbst ein zu Trugschlüssen und Spiegelfechtereien minder geneigter Charakter als der seine Veranlassung gehabt hätte, sich über Gewissensskrupel einigermaßen hinwegzusetzen. Was er vorgehabt hatte, nun, darüber mochte sich streiten lassen, was sich aber tatsächlich ereignet hatte, war nichts als ein Akt der Notwehr gewesen. Opitz hatte den ersten Schuß getan, und wenn dieser Schuß versagt und nun ihm das Spiel in die Hand gegeben hatte, so war das so recht ein Zeichen, das ihn in seinem Gemüt beruhigen durfte. Das Frühere, mit der Begegnung oder Nichtbegegnung und dem Gottesurteil, das darin liegen sollte, das war etwas Ausgeklügeltes gewesen, jetzt aber war Gott aus freien Stücken für ihn eingetreten und hatte gegen Opitz entschieden. Er seinerseits war nur Werkzeug gewesen, dessen sich die Vorsehung zur Abstrafung eines bösen Menschen bedient hatte.

Dies waren so die Vorstellungen, in denen er sich erging und die so stark waren, daß selbst die Stimme des Mitleids darin erstickte. Nur an die Frau dacht er mit Teilnahme. »Sie war immer gut gegen mich; aber sie wird sich trösten und nach Jahr und Tag dem vielleicht danken, der's tat und sie mit befreite. War sie doch eine Kreuzträgerin, und das tägliche Brot, das sie hatte, war ein Tränenbrot.«

Und nun war sein Frühstück beendet, und er trat eben aus der Laube heraus, um seinen Weg, er wußte noch nicht wohin, fortzusetzen, als dieselbe Madame, deren Stimme sich schon vor einer halben Stunde mit einem so scharfen Ton angekündigt hatte, in einer merkwürdigen Mischung von Nacht- und Morgenkostüm auf ihn zukam und ihn fragte, ob er sie vielleicht, über den Kamm weg, bis nach Schreiberhau hinführen und dabei das Gepäck tragen wolle.

Lehnert, der nie Führerdienst geleistet hatte, suchte noch nach einer möglichst artigen Form der Ablehnung, als ihn die plötzliche Dazwischenkunft eines in seiner Erscheinung die Dame noch weit in den Schatten stellenden älteren Herrn aller unmittelbaren Antwortsbenötigung überhob. Natürlich war es der Eheherr. Seine nach oben hin jeden Halts entbehrenden Beinkleider fielen, nach unten zu, ganz nach Art einer französischen Artilleriehose, faltenreich über den Spann und bedeckten hier die Mittelteile seiner Plüschpariser von ponceauroter Farbe. Sonstige Mängel verbargen sich hinter einer dunkelgelben, mit einem springenden Panther ausgestatteten Reisedecke, die königsmantelartig um seine Schultern geschlagen war.

»Ja, lieber Pfadfinder«, nahm der so plötzlich Hinzugekommene das Wort, »nach Schreiberhau hin. Selbstverständlich über den Kamm, und zwar mit allen Schikanen, worunter ich Aussichtspunkte verstehe. Was mich persönlich angeht, so bin ich entschieden für den ›Mittagsstein‹, ein Wort, das immer angenehm berührt, wenn auch schließlich nicht viel daraus wird, meine Frau, geborne Lezius, aber wird wohl für die ›Große Sturmhaube‹ sein. Oder wenigstens für die kleine. Nicht wahr, Ulrike?«

Lehnert hatte sich mittlerweile sein »Nein« zurechtgelegt und sagte, daß er's beim besten Willen nicht übernehmen könne, auch nicht einmal dürfe. Wenn er aber einem Führer begegne, so werd er ihn schicken. An der Riesenbaude gab's ihrer immer ein halbes Dutzend. Das Ehepaar schien damit einverstanden, und eine Zigarre, die der Lohn dieser Auskunft war, wurde von Lehnert dankend und lächelnd angenommen. Dann empfahl er sich und ging auf die Riesenbaude zu. Hier angekommen, entledigte er sich seines Auftrages und bog dann, an der Aupa hin, in den Riesengrund ein, sich berechnend, daß er um zehn in Trautenau sein könne. Da (das wußt er) fand er Freundschaft und Anhang und konnte leicht weiter, fort in die Welt, und war dann keine Not und Gefahr mehr. Aber mußt er denn fort? Um was war denn das alles geschehen? Doch nur, um nicht in die Welt hinaus zu müssen. Wenn er aber umgekehrt so ohne weiteres Platz machen wollte, dann konnte »der andere« auch bleiben und die Leute weiterquälen. Er durfte nicht gehen. Wenn er ging, war alles umsonst gewesen. So sann er auf seinem Wege hin und her, und als er bis Johannisbad gekommen war, war er entschlossen, den Weitermarsch bis Trautenau aufzugeben und in seine Wolfshauer Stellmacherei zurückzukehren. Es zog ihn mit einemmal wieder heim, und ein seltsames Verlangen regte sich in ihm, Zeuge zu sein, wie's nun wohl kommen werde.

Der Abstieg war bequem gewesen, jetzt aber ging es wieder steil bergan, und von Bequemlichkeit war keine Rede mehr. Indessen, er war ein guter Steiger, und schon um vier war er wieder auf dem Koppenkamm und um sechs in Wolfshau.

Die Mutter, die die Siebenhaarsche Predigt unten in Arnsdorf nicht versäumt hatte, stand am Herd und hielt just einen Bunzlauer Kaffeetopf und ein Stück Streuselkuchen in Händen, als Lehnert unter Kopfnicken eintrat.

»Guten Tag, Mutter!«

»Tag, Lehnert!«

»Weiter nichts, Mutter? Du bist doch sonst nicht so kurz. Nichts Neues? Nichts vorgefallen? Keine Menschenseele dagewesen? Der Streusel da kann doch nicht durch den Schornstein gekommen sein wie der Klapperstorch oder der Gottseibeiuns.«

»Ach, rede doch nicht von dem, der kommt doch, der kommt auch so.«

»Durch die Tür, meinst du?«

Sie nickte, tat einen Zug und starrte dann wieder schweigend vor sich hin, ohne Lehnert anzusehen. Der schwieg auch. Endlich sagte sie: »Opitz ist noch nicht da.«

»So?«

»Die Frau war hier und weinte.«

»Warum?«

»Weil sie glaubt, daß ihm was passiert sein könne.«

Lehnert lachte. »Dann muß eine Förstersfrau jeden Tag weinen.«

»Und dann fragte sie nach dir ...«

»So, so. Und was sagtest du?«

»Daß du nach dem ›Waldhaus‹ gewollt hättest und vom Waldhaus nach Arnsdorf ... vielleicht von wegen dem Has' ... zum Grafen. Aber ich wüßt es nicht genau.«

»Das ist recht, Mutter, daß du das gesagt hast, daß du gesagt hast, du wüßtest es nicht genau. Das ist immer das beste, das mußt du immer sagen. Und nun gib mir einen Schluck von dem Kaffee da. Nein, laß lieber, ein Teller Milch ist mir besser. Ich bin verhungert und verdurstet. Seit heute früh keinen Bissen und keinen Tropfen.«

Beide standen auf, Lehnert, um sich umzuziehen und die Gamaschen abzutun, die Mutter, um ihm die Milch zu holen, die nach Landesbrauch in einer vom Ufer aus vorgebauten Steinhütte stand, durch die nun die Lomnitz hindurchschoß und Kühle gab.

Als Lehnert wieder treppab kam, sah er, daß die Mutter ihm das Abendbrot vor dem Hause hergerichtet hatte, neben dem Rosenbusch, unter dessen überhängendem Gezweig er am liebsten saß. Drüben aber, in der Haustür der Försterei, stand die gute Frau Opitz und sah abwechselnd nach dem Gehänge hinauf und darin wieder in die tiefrot untergehende Sonne.

»Nicht hier, Mutter.«

»Aber es ist doch deine Lieblingsstelle.«

»Ja, sonst. Aber heute nicht.«

Und er hieß sie den Tisch mit anfassen, und beide trugen ihn mit leichter Mühe durch den Flur, bis vor die Küchentür. Da nahm er nun Platz und aß.

Als er damit geendet hatte, stand er auf und ging wieder in die Vorderstube, in der jetzt völlige Dämmerung herrschte. Die Mutter war noch draußen, und so schritt er auf und ab und überlegte, was werden würde. Mit einemmal aber war es ihm, als würde die Klinke leis geöffnet und wieder ins Schloß gedrückt, und als er sich umsah, sah er, daß Christine vor ihm stand.

»Da, Lehnert!« Und sie hielt ihm bei diesen Worten ein nach Art eines amtlichen Schreibens zweimal zusammengefaltetes Papier hin. Als er es auseinandergeschlagen und, ans Fenster tretend, einen Blick hineingeworfen hatte, sah er, daß es der Bericht war, in dem Opitz seinen Strafantrag gestellt hatte.

»Zerreiß es!« sagte Christine. »Ich hab es gefunden. Es lag auf seinem Schreibtisch.«

»Aber er wird es suchen, wenn er nach Hause ... wenn er wiederkommt.«

»Er kommt nicht wieder.«

Und damit war sie fort, und er sah nur, wie sie rasch über den Steg hinhuschte, wieder der Försterei zu.


 << zurück weiter >>