Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Nach dem Begräbnis von Gunpowder-Face, das noch mehrere Tage lang ein bevorzugtes Gesprächsthema bildete, wurde die frühere Lebensweise wieder aufgenommen und durch den ganzen November hin fortgesetzt. Obadja fehlte selten an den nach wie vor stattfindenden Gesellschaftsabenden und war dabei von einer Freudigkeit und Frische, die jeden, am meisten aber die Kinder in Erstaunen setzte. Scherzworte wurden nicht nur gestattet, er erging sich sogar selber darin. Einmal sprach Toby von der verwundersamen Vorliebe, die Monsieur L'Hermite für Gunpowder-Face gehabt habe. »Nicht zu verwundern«, sagte Obadja, »sie waren wie Ordensbrüder, und ihr gemeinsames Gelübde war das Groteske.« Bald danach kam auch auf Kaulbars die Rede, der bei dem Begräbnis gefehlt habe. »Wir wollen ihn zum Häuptling vorschlagen«, sagte Obadja. »Mistress Kaulbars gibt eine gute Squaw.«

So vergingen, wie herkömmlich, die Abende, bis mit der Adventszeit ein plötzlicher Wandel eintrat und Weihnachten auf die Tagesordnung kam. Nichts mehr von Musizieren, noch weniger von Lesen, denn mit »Gertrud und Lienhardt« hatte man längst geendet. Ja, Buch und Notenblatt verschwanden, und statt ihrer lagen große Flanellstücke durch die Stuben hin zerstreut, Flanellstücke, daraus Kappen und Kapuzen, und daneben bunte Lappen und Federn, aus denen Puppen für die Arapahokinder unter Bruder Krähbiels und für die Cherokeekinder unter Bruder Nickels Leitung angefertigt werden sollten. Alles war in Aufregung, am meisten L'Hermite, der jetzt jeden Abend kam und nicht bloß einen großen Eifer, sondern auch eine große Geschicklichkeit in Herstellung aller Arten von »German Toys«, also von Hampelmännern, Stehaufs und Sägebirnen an den Tag legte, nicht viel anders, als ob er jahrelang Obermeister in einer thüringischen Spielwarenfabrik gewesen wäre. Nicht minder gab er, weil er als Franzose dergleichen wissen mußte, für die Puppen die Moden an, und wenn Maruschka eben erst eine à l'Empire gekleidete Puppe bewundert hatte, erschienen auch schon andere mit Krinolinen à la Eugénie oder mit Tournuren à la Zouave. Eine besonders hübsche, mit einer Kasawaika und einer viereckigen polnischen Mütze, führte natürlich die Bezeichnung à la Maruschka, bei deren feierlicher Überreichung der miteingeweihte Toby das Klavier aufschlagen und den Anfang von »Noch ist Polen nicht verloren« zum besten geben mußte.

Das ging so bis zum elften Dezember. An diesem Tage trafen die beiden Kaulbarse vom Vorwerk her ein, und wiewohl ihr Kommen im ersten Augenblick eine Störung und fast einen Schreck verursachte, denn sie waren um ihrer Neunmalweisheit willen bei niemand recht beliebt, so fand man sich doch schnell ins Unvermeidliche und zog sie wohl oder übel mit in die kleine Tafelrunde hinein. Ihr Erscheinen, das eigentlich außer aller Berechnung gelegen hatte, hatte seinen Grund in einem zufälligen Ereignis, und zwar in einem Briefe, der am zehnten Dezember vormittags bei Martin Kaulbars eingetroffen war und von seiner in Berlin an einen Pantoffelmacher Hecht verheirateten Schwester Ida herrührte, bei deren Verheiratung es beiläufig auf gut berlinisch geheißen hatte: die Kaulbars, nunmehrige Hecht, habe sich über ihren Stand verheiratet. Das alles lag jetzt dreizehn Jahre zurück, aus dem Pantoffelmacher von damals war – übrigens ohne irgendwelche Veränderung des Lokals, eines multrigen Berliner Kellers – eine sogenannte »Puppen-Schuhfabrik« geworden, und aus eben dieser »Fabrik« schrieb Schwester Ida unterm siebenundzwanzigsten November einen längeren Brief an ihren Bruder Martin, darin es gegen den Schluß hin wörtlich lautete: »Beinah, mein lieber Martin, hätt ich vergessen, Dir von den Kindern zu schreiben. Alle sind gut; es ist so was Kaulbarsiges drin, so was, ja, wie sag ich, so was Eigentümliches und Apartiges, was wir ja alle haben und beinah auch Deine Frau. Ulrike, unsere Alteste, ist so gut wie erwachsen und kann jeden Tag heiraten; in Amerika soll es ja schon mit zwölfe passieren, so sagt wenigstens Hecht, was aber doch wohl zu früh ist und selbst in der Freiheit nicht vorkommen sollte. Sophie, die zweite, hantiert am geschicktesten und is ein Daus im Geschäft und wird es wohl mal übernehmen. Und Philippinchen, die nun erst vier ist und die wir Püppi nennen, klebt auch schon, und ich sage Dir, alles sauber und akkurat, daß es eine Freude ist, und ganz flink. Eigentlich war ich dagegen, ich meine das mit ›Pippi‹, mit dem Namen, der mir ein bißchen genierlich vorkam, aber Hecht sagte: ›Warum nicht, Ida? Drüben die bei Geheimrats heißt Lolo, warum soll unsere nicht Pippi heißen?‹ Und seitdem heißt sie so. Recht hat er. Aber nun muß ich schließen, denn wir haben alle Hände voll zu tun, weil wir zum Fest diesmal eine Weihnachtsbude haben wollen, und Ulrike soll in der Bude sitzen und verkaufen. Und bis dahin sind bloß noch vierzehn Tage. Denn den elften fängt ja der Weihnachtsmarkt an, das wirst Du wohl noch wissen, auch wenn Ihr drüben keinen habt. Denn wenn der Bußtag in Sachsen auch anders liegt als bei uns (wobei ich die Sachsen eigentlich nich recht begreife), so denk ich mir doch: Weihnachten ist überall gerade zu Weihnachten und auch in Amerika. Eben kommt Pippi und will Goldpapier. Gott, mir brummt der Kopf, wie wenn schon Marcht und Weihnachten wäre ... Am elften, wenn wir die Bude aufmachen, dann denkt an uns. Es ist doch ein wichtiger Schritt, auch wegen Ulrike. Deine ewig unveränderte Schwester Ida Hecht geb. Kaulbars.«

Dieser Brief, der trotz seiner in mehr als einem Stück anfechtbaren Adresse: »Herrn Martin Kaulbars aus Preußen (Kreis Ost-Havelland), zur Zeit in Nogat-Ehre bei Darlington; Indien Trottoiry, Amerika ...« glücklich angekommen war, hatte die bei dem Hinweis auf den elften Dezember ganz natürlich von einem weihnachtsmarktlichen Gefühl ergriffenen Kaulbarse sofort mobil gemacht und nach Nogat-Ehre hinübergeführt, wo sie, wenn auch keinen Weihnachtsmarkt, so doch ein paar weiße Christenmenschen vorfanden, in deren Gesellschaft es am Heiligen Abend immerhin besser war als auf dem Vorwerk und sich, wenn weiter nichts, wenigstens ein paar Nüsse vergolden und ein paar Lichter anzünden ließen.

Kaulbars und Frau waren nun also wieder in Nogat-Ehre, verträglicher und umgänglicher als gewöhnlich, was in einer gewissen Weihnachtsstimmung seinen Grund hatte. Trotzdem war man im Oberstocke froh, sie nur an den ersten zwei, drei Abenden erscheinen und sich bald danach auf ihr Küchen- und Wirtschaftsdepartement beschränken zu sehen. In Wirtschaft und Küche war ihnen am wohlsten, weil sie sich hier am nützlichsten machen konnten.

Frau Kaulbars, die bei der alten Pfefferküchlerin Winkler in Neu-Ruppin ihre Anlernejahre durchgemacht hatte, war in diesem Dienstverhältnis eine gute Küchen- und Pfefferkuchenbäckerin geworden, die, wenn es sein mußte, sogar französische Zitronat-Gewürzkuchen backen konnte, was ihr schon beim vorjährigen Weihnachtsfeste, trotzdem Maruschka aus der Thorner Pfefferkuchengegend war, einen Oberaufsichtsposten auf diesem Gebiete eingetragen hatte. Das wiederholte sich jetzt, während er, Kaulbars, von der Mitte des Monats an, den Post- und Reisedienst übernahm und aus Halstead, und selbst aus Denver, alles herbeischaffte, was zu Geschenken und Bewirtung noch fehlte. Zugleich war ihm aufgetragen, sich um Tischplatten, Ständer und Holzböcke zu kümmern, für den Fall, daß der große Tisch in der Halle nicht ausreichen würde.

So war die eigentliche Festwoche herangekommen; nur noch vier Tage standen zur Verfügung, und doch fehlte noch immer die Hauptsache: der Baum. Ihn zu beschaffen war jetzt höchste Zeit und führte zu Verhandlungen, in denen der von seinen verschiedenen Missionen eben zurückgekehrte Kaulbars kategorisch erklärte: So wie früher ginge das nicht, und von einer Zypresse, »bloß weil sie auch Nadeln habe«, könne diesmal keine Rede sein. Er habe schon das vorige Jahr zu Obadja gesagt, Zypresse sei ganz gut und er habe nichts gegen Zypressen, aber das Zypressige sei nun mal für die Dodigen und nich für die Lebendigen, und Weihnachten sei kein Kirchhof. Es müßte partout eine propre Tanne sein, so was Schlankes wie Miss Ruth, und wenn es eine Tanne nicht sein könne, na, denn eine Kiefer oder eine Kussel. Irgendwas werde sich doch wohl finden lassen, vielleicht schon drüben im Park, und wenn nicht da, so doch oben im Gebirge.

Es bedarf keiner Versicherung, daß die Rede Kaulbars' (Obadja war nicht zugegen) unter allseitiger Zustimmung aufgenommen und dabei festgesetzt wurde, sofort ans Werk gehen zu wollen. Und wirklich, eh noch die Fluruhr zehn schlug, fuhr auch schon ein auf niedrigen Rädern gehender, im übrigen aber langgestreckter und mit zwei starken Pferden bespannter Korbwagen vor, auf den die schon in der Halle Wartenden aufstiegen. Es waren ihrer vier, zunächst Ruth und Toby, die vorn auf einem Häckselsack Platz nahmen, dann Kaulbars und Lehnert. Hinter und zwischen ihnen lagen Axt und Grabscheit und ein paar starke Stricke zum Umwuchten, denn man hatte vor, nicht ein Bäumchen, sondern einen wirklichen Baum nach Hause zu bringen. Der fünfte von der Partie war Uncas. Er sollte, nach aller Wunsch und Plan, eigentlich mit aufsteigen, denn der Weg war weit; Uncas zog es aber vor, nebenherzutrotten, mutmaßlich, um auch heute wieder, wie das seine Art war, einen Vorsprung zu gewinnen und dann Ruth, unter Gebläff und Freudengewinsel, an sich vorbeipassieren zu lassen. Obadja, nachdem er übrigens erst nach einigem Zögern seine Zustimmung zu der Fahrt gegeben hatte, war mit auf die Rampe hinausgetreten, küßte Ruth und gab Toby Verhaltungsregeln. Er solle nicht zu hoch in das Gebirge hineinfahren und überhaupt sich mit der Rückkehr beeilen, das Barometer sei stark gefallen, und irgendwas wie Regen oder Sturm stehe mutmaßlich in Aussicht. Toby wisse ja, daß dergleichen oft schnell komme. Vor allem aber solle er nicht eigensinnig, unter Zeitverlust und Fährlichkeit, nach einer Tanne suchen; wenn solche nicht gleich da sei, so solle er nicht vergessen, Kiefer oder Fichte täten es auch. Und damit Gott befohlen. Und nun trat er wieder in den Flur zurück, und während Uncas, überglücklich, mit dabeizusein, an den Pferden in die Höhe sprang, fuhr der Wagen von der Rampe hinunter und mit einer kleinen Biegung nach rechts auf das Waldgebirge zu.

Das Wetter war prachtvoll, dabei milde wie ein Frühlingstag, und ein von der Wintersonne durchleuchtetes Gewölk, das über den Kamm zog, steigerte nur die Schönheit des Bildes und den Genuß der Fahrt. Man sprach wenig, den wie gewöhnlich so auch heute ziemlich redseligen Kaulbars ausgenommen, der über die Küchenmädchen schimpfte, von denen eine gestern abend ein ganzes Blech voll Pfeffernüsse habe verbrennen lassen; seine Frau habe sich denn auch über solche »Veraasung« gar nicht beruhigen können. Aber das komme davon, wenn man lauter spielrige Indianergören in die Küche nähme und keinen richtigen Backofen habe. So bloß, mit Eisenblech und Steinkohlen, womit sie jetzt alles machen wollten, damit ginge so was nich – so 'n richtiger alter von Lehm, der aussah, als ob er keinen Tag mehr leben könne, das sei die beste Sorte, da sei Verlaß drauf, und von gleich Verbrennen und Schwarzwerden sei keine Rede nich. Aber das seien so die verdammten Verbesserungen, die, bei Licht besehen, nie keine nich wären; immer was Neues und dann wieder was Neues, und schon sein Vater selig habe gesagt: »Glaube mir, Martin, die Bockmühlen sind doch besser als die holländischen.«

In demselben Augenblicke, wo Kaulbars seinen Vater selig zitierte, stieß er mit dem Fuß an das Grabscheit, das gerade vor ihm lag und mit seiner Spitze zwischen Sohle und Oberleder eindrang. Das war ihm gar nicht recht, und er sagte: »Merkwürdig! Voriges Jahr hatten wir die Zypresse, heute haben wir das Grabscheit. Immer wie Kirchhof und Dotengräber. Is doch wahrhaftig, als ob wir aus so was gar nicht mehr rauskommen sollten.«

Die Geschwister hörten das alles, trotzdem sich die Rede nur an Lehnert gerichtet hatte. Toby nahm Anstoß daran und wandte sich und sagte:

»Nicht so, Mister Kaulbars. Die Dinge sind das, wofür wir sie nehmen, in dem Glauben hat der Vater uns großgezogen, und Aberglauben und Vorbedeutung oder auch Stunden- und Tagewählerei gehören nicht unter die Mennoniten und am wenigsten nach Nogat-Ehre.«

»Na«, sagte Kaulbars, »wenn es man wahr ist. Unser alter Rüthnick war auch gegen Aberglauben, und jeder gebildete Mensch is gegen Aberglauben. Aber die Geschichte mit dem Anno 13 über Eck gebrachten und dann heimlich unten in 'n Keller eingebuddelten französischen Tambour, der, wenn was los war, immer rumorte und trommelte, die hat er doch nich wegpriestern können, und die Geschichte von ›Rotmützeken‹, der immer auf's Dach saß, wo Feuer kommen sollte, ja, sehen Sie, Mister Toby, die hat er auch nich wegpriestern können.«

»Dummheit«, sagte Toby.

»Nein«, antwortete Kaulbars gereizt. »Nich Dummheit. Man bloß zu klug sein ist Dummheit.«

So sprach man noch eine Weile weiter, bis Lehnert beschwichtigend einfiel und lachend sagte, Rübezahl habe sich in Nogat-Ehre nicht halten können und sei verbrannt worden, und wo sich Rübezahl nicht habe halten können, da war auch kein Platz für den französischen Tambour und für Rotmützeken und auch nicht einmal für den Glauben an sie.

Daraufhin wurde denn wieder Friede geschlossen, und die Fahrt ging weiter, bis man nach anderthalb Stunden an dem ins Gebirge hineinführenden Eingange hielt, keine tausend Schritt von dem hügelartigen Abhang entfernt, auf dem das verfallene Fort O'Brien aufragte, dasselbe, das Lehnert noch zur Sommerzeit besucht und von dem aus er seinen ersten Ritt ins Gebirge gemacht hatte. Lehnert und Kaulbars stiegen ab, nahmen Axt und Spaten und wollten eben, am Wagen vorbei, den schluchtartig ansteigenden Pfad weiter hinaufklettern, als Toby von der Lust erfaßt wurde, mit dabeizusein.

»Ich möchte doch mit«, wandte er sich fragend an Ruth. »Ängstigst du dich, wenn du eine halbe Stunde allein bleibst?«

Ruth lachte. »Vor wem sollt ich mich ängstigen? Am hellen lichten Tag. Es muß gerade Mittag sein. Und Uncas ist bei mir. Der schützt mich besser als ihr alle zusammengenommen, du und Mister Kaulbars ... und Lehnert«, setzte sie zögernd hinzu.

Toby gab ihr die Leinen. Aber von einer merkwürdigen Furcht erfüllt, oder vielleicht auch, weil er sich Vorwürfe machte, drang er lebhaft in sie, nicht von der Stelle weichen zu wollen, damit man sicher sei, sie hier wieder zu finden, gerade hier. Und nun trennte man sich.

»In einer Stunde sind wir wieder da«, sagte Toby. »Sagen wir lieber zwei«, setzte Kaulbars vorsichtig hinzu.

Sie stiegen nun einen schmalen, tief eingeschnittenen Weg hinauf, der ziemlich parallel mit dem lief, der auf Fort O'Brien zuführte. Toby schritt voran, weil er am besten Bescheid wußte, Lehnert und Kaulbars folgten. Sehr bald verbreiterte sich die Schlucht, wenn auch nicht viel, und zeigte zu beiden Seiten allerlei Laubholz. Kaulbars, kein Bergsteiger und bald außer Atem, bat, eine kleine Rast machen zu dürfen, und so setzte man sich denn auf einen Eichenstamm, der abgebrochen am Wege lag. Der Weg selbst war immer noch schmal genug, und die Buchen, die bis dicht heran standen, wölbten mit ihrem kahlen Gezweig beinah eine Laube. Aber überall waren offene Stellen, und als Lehnert mit Hilfe derselben Umschau hielt, sah er, daß der Mittagshimmel seine Bläue verloren hatte; die Sonne war fort, Wolken zogen, und in den hohen Kronen war ein Wiegen und Wehen.

»Ich denke, wir eilen uns. Wenn mir recht ist, ist ein Wetter im Anzug; ich schmecke Regen.«

Kaulbars, der immer widersprach, widersprach selbstverständlich auch diesmal. Alles in der Welt sei trügerisch und ohne Verlaß, aber das Unverläßlichste sei doch das Wetterglas, und er seinerseits glaub an Regen immer erst, wenn er schon da sei.

Trotz dieser Rede brach er auf, weil er nicht hören wollte, er sei schuld.

Der Weg blieb so ziemlich derselbe, und erst als man abermals tausend Schritt oder mehr höher hinauf war. kam nach links hin eine große Lichtung, eine Waldwiese, darauf Gras und Huflattich und hohe Farnkräuter standen, alles winterlich vergilbt. Jenseits dieser Lichtung aber, die nicht breiter als fünfhundert Schritt sein mochte, begann der eigentliche Hochwald, mächtige Tannen, in die, soviel sich erkennen ließ, Kiefern und auch einzelne Birken eingesprengt waren. Auf diesen Hochwald wollte man jetzt zu; bevor man aber die Lichtung, geschweige den jenseitigen Wald erreichen konnte, fielen schon einzelne Flocken aus dem überallhin grau gewordenen Himmel. Noch federten sie leicht über die Bäume hin, sprang aber, was oft geschah, der Wind um und trieb die Schneewolkenmassen von der Ebene her an das Gebirge heran, so konnte sich's ereignen, daß in einer halben Stunde Wald und Wege verschneit waren.

»Laßt uns umkehren«, sagte Lehnert, der mit den Wettertücken im Gebirge am besten vertraut war. Aber Toby hatte den Leichtsinn und Übermut der Jugend, und auch Kaulbars, als er erst wahrnahm, daß Toby die Verantwortung übernehmen wollte, mochte sich's nicht versagen, sich Lehnert gegenüber mal wieder auf den superioren Mann aus dem Glien hin auszuspielen, und erging sich in Bemerkungen, in denen Worte wie »feuerfest« und »man nich ängstlich« wiederholentlich und mit einiger Anzüglichkeit vorkamen.

So ging es denn wirklich weiter, schräg über die Lichtung hin, und einige Minuten später, so hatte man den Waldrand erreicht, um den sich's handelte. Aber es waren lauter starke Stämme, Stämme wie Masten, alles Jungholz fehlte, und so blieb nichts übrig, als ein Stückchen weiter waldeinwärts nach etwas Paßlicherem Umschau zu halten . Richtig, da stand eine, wie man sie brauchte, schlank und nur zweimannshoch und doch schon ein Baum, doch schon eine wirkliche Tanne. Toby, der gern einen lebendigen Baum mit heimbringen wollte, begann emsig zu graben, aber die großen Wurzeln umherstehender älterer Bäume ließen ihn nicht recht von der Stelle kommen, so daß Lehnert, der wohl wußte, daß das eigentliche Schneetreiben in jedem Augenblick beginnen könne, heftig und fast gewaltsam dazwischenfuhr.

»Darauf können wir nicht warten, Toby. Wir müssen den Baum umhauen; das spart Zeit. Von uns will ich nicht sprechen. Aber Ruth.«

Und dabei hieb er auch schon mit der Axt auf den Baum ein, während er dem Verdutzten und deshalb plötzlich zu Gehorsam geneigten Kaulbars zuschrie, den Strick um das untere Gezweig zu legen und den Stamm mit aller Kraft niederzuwuchten, was auch gelang. Schon beim fünften Axtschlage brach der Baum dicht über der Wurzel ab, und nun griff Lehnert zu, legte den Stamm über die Schulter und setzte sich, während Kaulbars und Toby folgten, auf die Waldwiese hin in Bewegung, über die man den Rückweg nehmen wollte, wie vorher den Hinweg. Aber von der Waldwiese war nichts mehr zu sehen, und nur an dem bis dahin durch die dichten Baumwipfel gehinderten, jetzt aber massenhaften und undurchdringlichen Flockentanze ließ sich erkennen, daß man an der schräg zu passierenden Lichtung angekommen sein müsse.

»Vorwärts«, kommandierte Lehnert. »Solange wir die Flocken um uns her haben, sind wir im Freien, und haben wir erst drüben die Bäume wieder, so finden wir uns schon zurecht. Wo der Schnee durch den Wald hin am tiefsten liegt, da läuft der Weg. Vorwärts!«

Und die Tanne, die für einen Augenblick zu Boden geglitten war, wieder auf die linke Schulter nehmend, begann er aufs neue seinen Laufschritt und zog das grüne Gezweig durch den Schnee hin nach. Die Furcht war nur, in dem Flockentanze die Richtung über die Wiese hin zu verlieren; aber die Findigkeit, die Lehnert von Jugend auf in derlei Dingen gelernt und geübt hatte, sorgte dafür, daß der Waldrand drüben glücklich erreicht und bald auch die bergab steigende, durch ihre Schneemasse leicht erkennbare Straße gefunden wurde. Hier freilich brach er, erschöpft vor Anstrengung und Aufregung, auf einen Augenblick wie ohnmächtig zusammen. Aber schon im nächsten Momente stand er wieder da, rieb sich die Stirne mit Schnee und ließ nun Kaulbars und Toby gemeinschaftlich anfassen, die jetzt nach dem Beispiel, das er ihnen gegeben, die Baumspitze nachschleiften. An dem immer steileren Abfall merkten sie mit einer Art Sicherheit, daß sie nicht fehlgingen und in einer Viertelstunde, vielleicht noch schneller, wieder unten am Abhang sein mußten. Und wirklich, nicht lange mehr, so sahen sie's lichter werden (das Unwetter hatte nachgelassen) und hörten, trotzdem der Schnee den Ton dämpfte, wie Uncas mit immer lauter werdendem Gebläff ihre Hoihorufe beantwortete.

»Gott sei Dank!« so klang es jetzt von ihrer aller Lippen, und zwei Minuten später, so war man aus dem Schluchtwege heraus und erblickte Ruth und das Gefährt, ohne daß man lange danach gesucht hätte. Denn es fielen jetzt keine Flocken mehr, die Luft war klar geworden, und nur an der Schneemasse, die bis hoch über die Radachsen lag, sah man, wie mächtig eine halbe Stunde lang der von der Ebene kommende Wind den Schnee gegen das Gebirge getrieben hatte.

»Gott sei Dank!« wiederholte Toby, während er die Schwester umarmte. »Das war uns beinahe ein teurer Baum geworden – ein teurer Baum und ein teures Fest. Und welch ein Glück, daß du tapfer ausgehalten hast! Wie hätte ich vor den Vater hintreten sollen! Aber das soll nicht wieder vorkommen, daß ich dich so allein lasse. Hast du dich geängstigt?«

»Nein! Wenigstens nicht um mich. Wir hätten den Weg gefunden, nicht wahr, Uncas? Aber ihr, du! Nun, Gott sei Dank, es ist vorüber.«

Inzwischen waren auch Kaulbars und Lehnert herangetreten und luden den so mühsam eroberten Baum auf den Wagen. Es war aber noch zu früh dazu, ja, man mußte den Baum wieder herabnehmen, weil man sich überzeugte, daß der Schnee, drin der Wagen stak, erst fortgeschaufelt werden müsse. Das bot Schwierigkeiten genug, und um so mehr, als man in der Eile und Erregung das Grabscheit oben im Walde hatte liegenlassen. Indessen Lehnert wußte auch hier zu helfen. Er nahm ein paar Bretter heraus, welche die Rückenlehne des Wagens bildeten, und begann mit Hilfe derselben die Räder freizuschaufeln, wobei Kaulbars und Toby natürlich halfen. Und nun konnte man das Gefährt mit verhältnismäßiger Leichtigkeit wenden und ihm die Richtung auf den Rückweg geben. Einen Augenblick noch, so setzte sich Uncas an die Spitze, den Weg durch den Schnee hin ausspürend, und ihm folgend, mahlte das Fuhrwerk langsam heimwärts auf Nogat- Ehre zu.


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