Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Sechzehntes Kapitel

Am Tage nach Lehnerts Verschwinden, über das nicht nur die Krummhübler, sondern auch ihre Sommergäste sich des breiteren unterhielten, saßen auch Rechnungsrat Espes wieder an ihrem Exnerschen Stammtisch. Die schöne Frau hatte sich, was seihst Espe nicht entging, unter dem mehrwöchentlichen Einfluß der Gebirgsluft wo möglich noch verschönt; ihr gegenüber saß aber nicht mehr Lieutenant Kowalski – dieser war vielmehr abgereist, um den Rest seines Urlaubs auf der Hohen Tatra zu verbringen –, sondern Assessor Doktor Unverdorben, ein feiner, kluger Herr, der seine Klugheit neben anderm auch darin zeigte, daß er eine gegen ihn gerichtete Laune der Natur – er war nämlich ein Kakerlak – sich dienstbar gemacht und das, was ihn ridikülisieren sollte, recht eigentlich zum Schemel seiner Macht erhoben hatte. Schon als Knabe gehänselt und immer nur das »weiße Kaninchen« genannt, war er auf den Einfall gekommen, sich durch Übertrumpfung zu helfen, wozu die Sommerferien in besonders heißen Jahren ihm mehr als einmal eine günstige Gelegenheit geboten hatten. Auch in diesem Jahre erschien er wieder ausschließlich in weißem Pique, Rock, Beinkleid und Weste, samt weißem Strohhut und beschränkte sich im übrigen in seinem gesamten Anzuge, seine Lackstiefel abgerechnet, auf zwei schmale schwarze Streifen, von denen der eine als Schlips, der andere als Monokelband figurierte. Diese seine Kühnheit verhalf ihm, wie allerorten, so natürlich auch in Krummhübel, zu einem vollständigen Triumphe, den allerdings, wie nicht geleugnet werden soll, umgehende Gerüchte von seiner günstigen Vermögenslage nicht unerheblich steigerten, Gerüchte, die, zwischen hunderttausend und dreihunderttausend schwankend, selbstverständlich auf letzter Zahl festgesetzt und ebenso prompt aus Mark in Taler erhoben wurden.

Seine Bekanntschaft mit den Espes war jetzt genau zwei Wochen alt und hatte sich, gleich nach Kowalskis Abreise, ganz natürlich gemacht. Espes waren auf der Annakapelle gewesen, um dort Forellen zu essen, bei welcher Gelegenheit Selma ihr rot und schwarz kariertes Plaid – das sie (bei dreizehn Jahren etwas vorzeitig) als eine mit einem Riemen festgeschnallte Außentournure trug – verloren hatte. Seitens des bald nach den Espes auf der Annakapelle erscheinenden und daselbst seinen Nachmittagskaffee nehmenden Assessors war unschwer in Erfahrung gebracht worden, wem das Verlorengegangene gehöre (waren doch »Rechnungsrats« so gut wie Stammgäste dort oben), und am nächsten Vormittage schon war, in weiterer natürlicher Entwicklung der Dinge, das Plaid in der Espeschen Wohnung abgegeben worden, zugleich mit einer großen goldgeränderten Karte, darauf Stand und Name lautete:

Dr. Sophus Unverdorben
Kammergerichtsassessor und Lieutenant der Reserve
im 2. Garde-Grenadier-Regiment Kaiser Franz.
Berlin W. Lützow-Ufer 7 a.

Wie sich denken läßt, wurde das Wiedereintreffen des von dem etwas rätselhaften »Onkel« herrührenden rot und schwarz karierten Plaids – der Onkel beschenkte seine Nichten regelmäßig zu Weihnachten und Kaisers Geburtstag – von der ganzen rechnungsrätlichen Familie mit aufrichtiger Freude begrüßt, aber soweit Espe persönlich in Betracht kam, verschwand diese Freude doch neben einem sozusagen auf staatlicher Grundlage ruhenden Wohlgefühl, womit der Anblick einer so korrekt abgefaßten Karte den Rechnungsrat erfüllt hatte.

»Seht, Kinder, so muß dergleichen aussehen«, waren seine mehr als einmal wiederholten Worte, während die Rätin ihrerseits sich ausschließlich mit Feststellung der Personalfrage beschäftigte. Wer war dieser Assessor Unverdorben? Alle, die beim Abstieg von der Annakapelle ihnen begegnet waren, wurden durchgenommen, und für Geraldine stand es alsbald fest, daß es der distinguierte Herr mit dem aufgesetzten Schnurrbart und dem schwarzen, etwas gekräuselten Haar gewesen sein müsse, der so verbindlich gegrüßt und sie, so flüchtig die Begegnung auch gewesen sei, doch ganz eminent an Hendrichs erinnert habe. Die Rätin führte dann diese Lieblingserinnerung, die sich, wie selbst Selma schon wußte, bei jeder mit einem brünetten Herrn gehabten Begegnung unweigerlich wiederholte, des weiteren aus und schloß damit, daß Espe die Pflicht habe, den Assessor behufs Dankeserstattung aufzusuchen, und zwar heute noch, denn es gäbe jetzt so viele, die bloß Passanten wären und nur einen Tag blieben. Espe schien anfänglich das Rangverhältnis zwischen Rechnungsrat und Assessor abwägen und danach langsam und mit einer sich und seiner Stellung schuldigen Reserve seine Entscheidung treffen zu wollen, gab aber schließlich doch nach und versprach, am Nachmittag um die fünfte Stunde nach dem Assessor fragen und, wenn er noch da sei, sofort seine Visite bei demselben machen zu wollen.

Damit war die Rätin denn auch einverstanden, nicht ahnend, daß das Schicksal eine viel schnellere Lösung der Frage beschlossen hatte. Denn kaum daß die Mitglieder der Familie nach Zurücklegung des kurzen Weges vom Tannicht (wo sie wohnten) bis zum Exnerschen Gasthaus an dem ein für allemal für sie reservierten Ecktisch glücklich placiert waren, als auch schon ein Herr auf sie zuschritt, der sich, während er eben noch die Lachlust aller weiblichen Espes wachgerufen hatte, gleich danach als Assessor Unverdorben vorstellte. Die Verlegenheit konnte nicht wohl größer sein, und der einzige, der in dieser schwierigen Lage volle Contenance bewahrte, war Espe selbst. Er bat den Assessor, Platz nehmen zu wollen, und sprach in der ihm eigenen würdigen und gewählten Weise den Dank für soviel Liebenswürdigkeit aus, denn von der Annakapelle bis nach Krummhübel hinunter sei doch ein ziemlich weiter Weg, und die ganze Zeit über ein rotes Plaid zu tragen oder doch wenigstens ein Plaid mit eingemusterten roten Karos ...

Er stockte hier und brach ab, weil er plötzlich fühlen mochte, daß ihm das ewige und noch dazu ganz nutzlose Hervorheben des Rot und wieder Rot als etwas politisch Absichtliches gedeutet werden könne. Dies war ihm aber fatal, denn Espe war ein korrekter Mann und sehr ängstlich dazu.

Die Rätin ihrerseits hatte, während dieses Gespräch andauerte, sowohl Lachen wie Verlegenheit überwunden, was nicht wundernehmen durfte, weil sie mittlerweile Zeit gefunden hatte, das, was den Assessor in allem übrigen auszeichnete, sowohl zu bemerken wie zu würdigen. Und zwar lag dies ihn Auszeichnende nach einer ganz bestimmten und den meisten Menschen immer wieder imponierenden Seite hin, nach der Seite der tadellosesten weißen Wäsche. Beide, Rat und Rätin, hielten auch auf weiße Wäsche, sie von Sauberkeits, er von Ordnungs wegen, aber was waren ihre vereinten Anstrengungen auf diesem Gebiete neben einem Manne wie Unverdorben. Und neben dem allen her lief die Betrachtung: So ganz zweifelsohne, wie dieser Piquerock war, war er selber, und unwillkürlich wiederholte sich Geraldine den Inhalt seiner bis dahin nicht genug gewürdigten Visitenkarte, ganz besonders aber die Schlußzeile: »... im 2. Garde-Grenadier-Regiment Kaiser Franz.« Selbst die Kaninchenaugen hörten auf, ihr zu mißfallen, sahen sie doch mit einer merkwürdigen Mischung von Klugheit und Selbstbewußtsein und dazu mit einem Anfluge von Ironie in die Welt. Geraldine verstand sich aus zurückliegenden Tagen her auf feine Leute, und kein Zweifel, der Assessor gehörte dieser Gruppe zu.

Unverdorben blieb bei Gelegenheit dieser ersten Vorstellung nur etwa zehn Minuten, aber diese zehn Minuten hatten doch ausgereicht, ein vorzügliches Verhältnis herzustellen. Espe war einfach entzückt, die Rätin war es beinah, und selbst Selma versicherte, sie begriffe nicht, wie sie habe lachen können, eine Bemerkung, der sie, mit einer ihr kleidenden Wichtigkeit, hinzusetzte, sie würde sich von Stund an nicht genieren, unmittelbar an seiner Seite durch ganz Krummhübel zu gehen. Und wenn es sein müsse, durchs Leben.

»Selma, sprich nicht so!« bemerkte tadelnd Espe. »Das ist über deine Jahre.« Die Rätin aber sagte: »Espe, das verstehst du nicht! Selma hat ganz recht: sie hat sich, um eines Höheren willen, in ihrem ersten Gefühl überwinden gelernt, und darauf kommt es an. Formen entscheiden.«

Espe wiegte den Kopf, was ebenso Zustimmung wie Zweifel ausdrücken konnte.

Von jener ersten Begegnung an sahen sich Espes und Unverdorben täglich, wobei sich des letzteren Verhältnis zur Rätin immer intimer gestaltete, trotzdem er ihr, darüber war kein Zweifel, den auf der Hohen Tatra weilenden Kowalski nicht voll ersetzen konnte. Sie fühlte das namentlich an einem gewitterschwülen Tage, wo eine an sie gerichtete Hotelpostkarte mit aufgedruckter Landschaft (Tannen inmitten von Burgtrümmern) eintraf, darauf nichts stand als »Eljen Geraldine« und darunter in geschnörkelter altdeutscher Schrift: »Ein Fichtenbaum steht einsam ...« Die Rätin liebte dergleichen Dunkelheiten, besonders wenn sie sich in poetischer Geheimsprache gaben, andererseits aber – und das sorgte für Balancierung dessen, was dem Assessor fehlen mochte – war sie zärtliche Mutter und als solche bei jenem Lebensabschnitt angelangt, wo die hinsterbende »große Passion«, ohne übrigens ganz zu schweigen, in der verklärten Gestalt einer umschauhaltenden Mutterliebe wieder aufzuwachen pflegt. Selma freilich war noch ein halbes Kind, aber was tat das? Es war ja keine Sache von heut auf morgen, und es verdroß Geraldinen ernstlich, ihren ewig rechnenden Espe bei Behandlung dieser Frage zu beharrlich den Kopf schütteln zu sehen.

Dies Kopfschütteln Espes indes, wie durchaus gesagt werden muß, galt nur dem vorzeitigen und überhasteten Schlachtplane seiner Frau, keineswegs dem, an den dieser Plan anknüpfte. Diesem, eben unserem Assessor, war Espe vielmehr mit Aufrichtigkeit zugeneigt, besonders nachdem sich ein paar kleine Unebenheiten, auf deren eine wenigstens an dieser Stelle hingewiesen werden mag, rasch wieder beglichen hatten. Unverdorben nämlich (so war die Sache gekommen), in dem sich von Zeit zu Zeit das ganze Selbstbewußtsein eines vom mündlichen Examen dispensierten Primus omnium mit dem größeren Hochgefühl eines Trienniums in Göttingen, Bonn und Heidelberg und dem selbstverständlich größten eines Garde-Reserve-Offiziers mischte, hatte sich in einem im übrigen rein akademisch und jedenfalls ganz unpersönlich geführten Gespräche zu der Bemerkung hinreißen lassen, daß der alte Blücher, all seiner Meriten unerachtet, eigentlich doch nur eine »subalterne Natur« gewesen sei, welchen Ausspruch der von dem großen Worte »subaltern« allemal höchst unangenehm berührte Espe mit vieler Geistesgegenwart, ja, wie zugestanden werden muß, sogar mit einer gewissen Würde dahin beantwortet hatte, daß er dem preußischen Staate viele »Subalternen« à la Blücher wünsche, demselben preußischen Staate, von dem es, beiläufig bemerkt, weltkundig sei, daß er zwar nicht die »großen Männer«, die fänden sich überall, wohl aber die Dorfschulmeister und ähnliche »subalterne Leute« vor anderen Staaten voraushabe. Denn worauf es allezeit ankomme, das seien die Fundamente, nicht aber die Krönung des Gebäudes – ein Ausdruck, bei dem die Rätin immer in ähnlicher Weise zusammenzuckte wie Espe bei dem Worte »subaltern«.

Dies kleine Rencontre. wenn man der Szene diesen Namen überhaupt geben durfte, hatte gleich in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft stattgefunden. Seitdem war längst wieder Friede geschlossen, und die Rätin, wenn sie mit Espe spätabends im Fenster ihrer kleinen Wohnung lag und, sentimental angeflogen, nach den Sternen hinaufsah und an die Hohe Tatra dachte, pflegte dann wohl zu sagen: »Ja, Lieutenant Kowalski. Denken muß ich seiner. Er war, wenn er aus den Redensarten heraus war, eigentlich gemütlicher und ungenierter als Unverdorben, ja fast könnte man sagen, zu gemütlich. Aber Unverdorben ist ihm doch sittlich überlegen und hat es nicht bloß in seinem Namen, wiewohl der Name auch viel bedeutet, sondern ist wirklich ein höchst anständiger Mann.«

Espe teilte diese Meinung vollkommen und erging sich in Lobsprüchen; das eigentlichste Bindeglied in dem freundschaftlichen Verkehr beider Parteien blieb aber doch Selma, die seitens des Assessors ganz als Kind und Backfisch und doch zugleich mit sichtlicher Vorliebe behandelt wurde, was die Rätin Mal auf Mal mit einem auf Espe gerichteten und nicht mißzuverstehenden Blick der Überlegenheit und Siegeszuversicht begleitete. »Du siehst, ich werde recht behalten.«

Solche Blicke waren auch heute, gleich zu Beginn der Mahlzeit, über den Tisch geflogen, denn man hatte, wie herkömmlich, gemeinschaftlich diniert, was man so in Sommerfrischen dinieren nennt, und eben erschien wieder die hübsche Marie mit dem großen Tablett, um die Kalbsbratenreste samt einigen übriggebliebenen Kartoffeln in der Schale abzuräumen, blauschalige, von denen der Rechnungsrat nicht mit Unrecht bemerkte, daß sie mehr durch ihre Farbe wie durch sonstige Vorzüge wirkten, als sich das seit Minuten um Opitz und seinen mutmaßlichen Mörder drehende Tischgespräch plötzlich unterbrochen sah, und zwar durch Selma und Frida, die mit dem Jubelrufe »Sie kommen« auf den Eßtisch zurückstürzten. Wer diese »sie« waren, wußte zunächst niemand zu sagen, aber im nächsten Augenblick gab ein seltsames Trommeln und Pfeifen jede wünschenswerte Aufklärung. Unter Vorantritt einer überaus zahlreichen Dorfschuljugend, in die sich, allen Residenzhochmut und alle Standesunterschiede vergessend, auch kleine Berlinerinnen mit Kiepenhüten und roten Jacketts gemischt hatten, erschien ein dunkeläugiger Italiener, zwei Bären hinter sich, von denen der eine mit seinem wie von Motten zerfressenen Pelz nur noch als Tummelplatz für zwei blaujackige Affen diente, während unmittelbar daneben ein großes wohlkonditioniertes Prachtexemplar, der unzweifelhafte Held der Kavalkade wie der ganzen Situation, einhertrottete. Zwischen den beiden Bären aber, und für die tanz- und musiklustige Jugend von annähernd gleichem Interesse, wurde man eines auf einem zweiräderigen Karren ruhenden mächtigen Leierkastens gewahr, neben dem eine phantastisch gekleidete schwarze Person einherschritt. Einen Augenblick schienen Selma und Frida von der Angst erfüllt, den Zug an dem Exnerschen Lokal, als einem zu vornehmen, vorüberziehen zu sehen, dieser Angst jedoch machte der Abruzzenmann ein rasches Ende, denn kaum war er bis in die Höhe des gerade lebhaft plätschernden Springbrunnens gekommen, als er auch schon anhielt und tambourmajorartig mit seiner Pickelflöte ein Zeichen gab, auf das hin der Musterbär sich erhob und, einen Stock über Hals und Rücken, seinen Tanz begann. Seine glänzende Leistung würde allein schon genügt haben, eine Welt von Entzücken wachzurufen, aber wer beschreibt den Jubel aller und ganz besonders der Espeschen Mädchen, als eben jetzt das mit allerlei roten Tüchern drapierte Zigeunerweib die Leierkastenkurbel zu drehen und dem Prachtbären – für den Trommel und Pfeife ganz augenscheinlich als nicht gut genug erachtet worden waren – zum weiteren Tanz aufzuspielen begann. Dazu kam noch, daß der Leierkasten selbst keine gewöhnliche Drehorgel, sondern ein höheres Kunstinstrument mit Janitscharenmusik war, dessen Becken und Pauke, ja selbst Trompete durch Strippeziehen und eine spinnradähnliche Tretvorrichtung in beständiger Aktion erhalten wurden. Und damit nicht genug, sprangen in eben diesem Augenblick auch noch die beiden Affen von ihrem Mottenpelzbären plötzlich auf den Exnerschen Staketenzaun, also mitten in die Krummhübler Zaungäste hinein, was, als diese laut aufschrien, das Entzücken aller derer noch steigerte, die, weil zurückstehend, diesem unerwarteten Überfall entgangen waren.

Jung und alt waren erheitert, nur Espe konnte dergleichen nicht ertragen. Was sich allen andern einfach als Mummenschanz, als ein Stück poetischer, mit dem Zauber des Fremdartigen ausgestatteter Welt darstellte, war ihm nur eine Welt der Unordnung, der Unsitte, der Faulenzerei, durchsetzt mit Keimen, aus denen allerlei Verbrechen über kurz oder lang aufgehen müsse. »Selma ... Frida!« rief er zwei-, dreimal, ohne daß die Kinder hörten, und als die darüber mehr und mehr in Verlegenheit geratende Rätin ihm schließlich zuflüsterte, daß er doch auf die Nachbartische Rücksicht nehmen und sich seiner Erziehungsphilistereien enthalten möge, wurd er unwirsch und beinah heftig, wie immer, wenn das Kapitel der Ordnung in Frage kam, und mit dem Zeigefinger auf den Tisch schlagend (er traf leider die Gabel, die nun in einem Bogen aufflog und dann erst zur Erde fiel), fuhr er in spitzem Tone fort: »Liebe Geraldine, das sind Prinzipienfragen, und Prinzipienfragen sind nicht deine Stärke ...«

»Nein«, sagte diese.

»Nun wohl. Es gibt aber Prinzipien, und es gibt Erfahrungssätze. Was da herumzieht – den großen Bären nehm ich aus; der Bär ist der einzig Anständige von der Gesellschaft –, was da herumzieht, sag ich, ist Gesindel, und ich mag nicht alles auf der Seele haben ...«

»... und ich noch weniger auf dem Körper«, ergänzte Sophus ...

»... was sich da drüben bei dem seinwollenden Ehepaare, das doch natürlich keines ist, vorfindet ...«

»Es gibt so viele Ehepaare, die keine sind«, sagte Geraldine gereizt. »Ich bitte dich, Espe, wenn du nur nicht immer verbessern und die Menschen so vortrefflich machen wolltest, wie du bist. Du verlangst lauter Espes. Das hilft dir aber nicht. Der liebe Gott hat es anders gefügt, und die Menschen gehen nun mal ihrer Lust und ihrem Vergnügen nach.«

»Meinetwegen. Ich will sie dabei nicht stören, und ich bin selber sogar, was du vielleicht nicht glauben wirst, für Lust und Vergnügen, wenn das alles eine zulässige Basis hat. Aber dies, was wir hier vor uns haben, ist Verbrechervolk und Mörderbande. Das zieht nun bis auf die Koppe hinauf, und morgen ist es in Böhmen, und in vier Wochen ist es in Galizien oder in Ungarn.«

»Oder wohl gar auf der Hohen Tatra«, warf Unverdorben ein, und Geraldine verfärbte sich sofort und schoß einen erzürnten Blick auf den Sprecher ... Aber es dauerte nicht lange, ja, die böse Miene ging sogar rasch in ein Lächeln über, als ihr der Gedanke kam, daß dies alles der Ausdruck einer aufkeimenden Eifersucht sein könne.

»In Galizien oder in Ungarn«, nahm Espe seine Rede wieder auf, »oder meinetwegen auch auf der Hohen Tatra. Und dann sind es nicht mehr zwei, sondern mutmaßlich drei, und der dritte, der sich dann eingefunden hat und sich auf falsche Bärte versteht und es gewiß nicht unter einem anderthalb Fuß langen Sappeurbart tut und der dann vielleicht abwechselnd mit der schwarzen Hexe da den Leierkasten dreht oder auch an der Beckenstrippe zieht – dieser dritte Galgenvogel ist dann unser Freund Lehnert Menz ... Ein fixer Kerl, gewiß, und das Weibervolk ist um ihn rum und starrt ihn an und bestaunt ihn, weil er einen so schönen Bart hat, falsch oder nicht. Und ein Glück für ihn, daß er ihn hat, ich meine den falschen, der ihn unkenntlich macht und ihn den Händen der Gerechtigkeit entzieht ... Aber ich hoffe, sie fassen ihn noch.«

»Und ich hoffe, sie fassen ihn nicht«, sagte Sophus.

»Sie belieben zu scherzen ...«

»Ich glaube, der Herr Assessor spricht in vollem Ernst«, triumphierte Geraldine.

»Vollkommen«, bestätigte dieser. »Ich bin kein Anhänger der Abschreckungstheorie. Die Leute von Fach, Doktoren und Gerichtsleute, glauben selten an die gang und gäben Heilmittel, auch wenn sie gezwungen sind, sie zu verordnen. Wenn sie den Lehnert fassen, so kommt er ein halbes Leben lang ins Zuchthaus und zupft Lumpen und wird selber ein Lump. Wenn er aber, wie der Herr Rat eben zu bemerken die Güte hatte, den Händen der Gerechtigkeit entschlüpft, so wird er ein Mohrenkönig oder ein chinesischer Admiral oder ein Robinson. Und Leute, die das Zeug dazu haben, die sind mir immer zu schade, um hinter Schloß und Riegel zu verkommen, bloß um fiat justitia willen. Gerechtigkeit! Was heißt Gerechtigkeit? was war hier Gerechtigkeit? Dieser Opitz, der für seiner Sünden Schuld hat zahlen müssen ...«

»Er war ein Mann im Dienst ...«

»Gewiß. Aber er soll ein wunderbarer Heiliger gewesen sein in jedem Betracht. Und wer will sagen, wie's stand und wie sich Schuld und Unschuld in diesem Falle verteilt haben? Ich habe mir im Gerichtskretscham gestern abend den Fall erzählen lassen und habe dann auch nach dem Lehnert gefragt und ob er was tauge oder nicht. Und da hab ich nicht eben viel Schlimmes gehört. Im Gegenteil. Ein bißchen wirr wie alle Halbgebildete, die viel Zeitungen und Freiheitsbücher lesen. Aber trotzdem nicht übel. Meinen Segen hat er, und ich wollte, daß ihm ein Paß aus meinem Segen würde; den kann er brauchen, Bärenführer! Der wird kein Bärenführer und zieht an keiner Beckenstrippe ...«

Und Unverdorben, während er so sprach, ließ das Monocle fallen, und seine Kaninchenaugen waren noch röter geworden als gewöhnlich. Das alles sah Geraldine. Sie war nicht für Kakerlaken, und Kowalski blieb ihr unersetzt, aber sie hätte trotzdem aufspringen und dem Sprecher vor aller Welt Augen einen Kuß geben mögen. Denn sie war eine Frau, die, wie die meisten, die sich einer Vergangenheit rühmen dürfen, ein gutes und starkes Herz und jedenfalls eine Verachtung gegen alle Tugend- und Offiziositätsphrasen hatte.


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