Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Lehnert war derart getroffen, daß er unfähig war, das Gespräch weiterzuführen, und bald danach sich erhob, um in sein Zimmer hinüberzugehen. Da schritt er nun auf und ab und kam schließlich zu dem Resultat, daß alles ein Zufall gewesen sei. Sehr bald aber war es mit diesem Trost vorbei. »Nein, nicht Zufall. Er hat mich wissen lassen wollen: ›Ich weiß.‹ Nicht aus böser Absicht (ist er doch selber mit drin), aber aus Laune, vielleicht auch aus Teilnahme.«

So sann er noch weiter nach, und Mitternacht war heran, als er sich, halb angekleidet, auf das aus Bambusstäben leicht zusammengefügte Ruhebett streckte; das Bett selbst aufzusuchen widerstand ihm. Was geschehen war, geschehen vor manchem Jahr, war ihm seit einer Stunde wieder mit vollem Gewicht auf die Seele gelegt worden, und lebhafter noch als gleich am ersten Tage bei seinem Erscheinen in Nogat-Ehre beklagte er es, daß Obadja keine Beichte von ihm verlangt habe. »Warum verlangte er sie nicht? Weil er's wohl mit mir meinte. Nun aber quält es mich und belastet mich. Was gebeichtet wird, das kann verziehen werden, aber die verborgene Schuld, vor niemand eingestanden, das ist die schwerste der Strafen.«

Und erschöpft schlief er endlich ein und nahm seine selbstquälerischen Gedanken mit in seinen Traum. Er schlief noch nicht lang, als ein Klopfen ihn weckte. Wer es sein könne, war ihm kaum zweifelhaft, und er ging auf die Tür zu und öffnete. Wirklich, es war L'Hermite, nur in Slippers und weitem Beinkleid und sein Käppi wie gewöhnlich im Nacken. In der Linken hielt er einen Blaker, drin ein Lichtstümpfchen, mit einem Dieb am Docht, rußig qualmend hin und her flackerte. Das Groteske ging unter in dem Schmerzlichen der Erscheinung. Er mühte sich, überlegen dreinzuschauen, und schien sich und die Welt ironisieren zu wollen, aber ein mächtigeres Gefühl hielt seinen Spott im Bann, und er sah aus wie der Tod auf der Maskerade, der tanzen will. Endlich nahm er Platz, während Lehnert sich ihm gegenübersetzte.

»Ihr könnt nicht schlafen, Monsieur L'Hermite. Was gibt es?«

»Es sah wer in mein Fenster.«

»Wer?«

»Ich sah ihn nicht. Aber er hielt ein Kreuz vor der Brust.«

»Das war das Fensterkreuz und der Mondschein dahinter.«

L'Hermite lächelte. Lehnert aber, der das Grauen, das ihn mit erfaßt hatte, dem Freunde wie sich selber wegreden wollte, suchte bei seinem zwangsweis angeschlagenen Heiterkeitstone zu beharren und sagte; »Sinnestäuschung, Monsieur L'Hermite. Wer Euch ins Fenster sehen will, muß von unten her eine Leiter anlegen.«

»Oder von oben.«

Er sprach das so, daß Lehnert verstummte. Und nun saßen sie sich einander gegenüber, und zwischen ihnen schwebte das Licht, dessen Flackerschein in dem Spiegelchen reflektierte.

So verging eine Weile. Dann sagte Lehnert: »Es gibt eine Himmelsleiter, und die Engel steigen hernieder, so steht geschrieben ... Und vielleicht auch die Engel des Gerichts. Glaubt Ihr solche Dinge?«

»Nein. Aber das Ammenmärchen hat nun mal Gewalt über uns, das Eiapopeia, das uns schon von der Wiege her gesungen wird. Die pfäffische Lüge verdirbt alles. Da liegt es. Statt, wie jetzt, in der großen Lüge großgezogen zu werden, müssen wir großgezogen werden in der Idee. Bis dahin zittern wir vor dem Spuk und haben kein Mark in der Seele.«

Lehnert schwieg. Endlich sagte er: »Monsieur L'Hermite, drüben vor Eurem Fenster steht der Mond, und der Mond ist nicht jedermanns Sache. Bleibt hier, legt Euch auf das Ruhebett!«

L'Hermite aber erhob sich wieder von seinem Platz, legte seine Hand auf Lehnerts Schulter und sagte: »Nein, wir wollen lieber in die Kapelle gehen; ich will da das Kreuz vom Altar nehmen und es hochhalten und den Geist anrufen, den Saint-Esprit. Denn der Geist ist die Idee. Die Kapelle soll mal etwas anderes hören als die Geschichte von Pharaos Traum und den ewigen sieben Kühen. Obadja persönlich ist eine fette Kuh, aber seine Predigt ist eine magere. Kommt! Ich will sein Tabernakel in einen Tempel der Idee verwandeln und will bloß vor zweien sprechen. Vor Euch und dem Mond. Das ist mir genug.«

Es war nicht leicht, Monsieur L'Hermite von seinem Vorhaben ab- und in sein Zimmer zurückzubringen. Endlich gelang es, und nachdem Lehnert, des noch immer draußen stehenden Mondes halber, die Läden des einen Fensters geschlossen hatte, ging er in sein eigenes Zimmer zurück, um hier wieder sein Lager aufzusuchen. Er war nun selber Zeuge gewesen von der gelegentlichen Geistesgestörtheit L'Hermites, von der er schon gehört hatte. »Wenn es nicht sein Gewissen ist«, hatte Toby damals hinzugesetzt. Und Lehnert wiederholte jetzt Tobys damalige Worte.

Der andere Tag war ein Sonntag. Lehnert erschien zur Morgenandacht, beurlaubte sich aber gleich danach für den ganzen Tag, um ins Gebirge zu reiten, in die Ozark-Mountains, deren viele Meilen langen Zug er nun seit einer Reihe von Wochen in beinah nächster Nähe vor sich sah, ohne daß es ihm bisher möglich gewesen wäre, sie zu besuchen. Die Woche gehörte der Arbeit und der Sonntag der Betrachtung und Ruhe, worauf Obadja mit einer ihm sonst nicht eigenen Strenge hielt. Ausnahmen waren aber statthaft, und Lehnerts musterhafte Innehaltung aller Hausgesetze während seiner jetzt mehr als zweimonatlichen Anwesenheit in Nogat-Ehre ließ es Obadja nicht schwerfallen, heute solchen Ausnahmefall eintreten zu lassen.

Es war der zweite September, und Lehnert, als er eben eine leis ansteigende Ebereschenallee hinaufritt – er hatte sich für einen kleinen Umweg entschieden –, entsann sich mit einer gewissen Freudigkeit, daß es der Sedantag war.

Er versenkte sich wieder in die Vorgänge von damals und sah wieder den Angriff der Chasseurs d'Afrique und wie die Säbel und roten Käppis der attackierenden Schimmelschwadron in der Sonne blitzten.

Solche Bilder vor der Seele, ritt er weiter, allmählich aber bog die Ebereschenallee wieder nach links ein und ging in einen Birkenweg über, der sich alsbald in geringer Entfernung von dem in Trümmern liegenden Fort O'Brien ins Gebirge hineinzog. Als er in Höhe dieser Stelle war, stieg er ab und band sein Pferd an einen Baum, um, ehe er weiterritt, erst dem interessanten Trümmerhaufen, auf den sich, von seinem Fenster aus, sein Auge manches liebe Mal gerichtet hatte, einen Besuch zu machen. Fort O'Brien war, vor kaum mehr als zwanzig Jahren, in einem der vielen kleinen Kämpfe mit den Indianern von diesen erstürmt und zerstört worden, wobei Dach und Inneres total verbrannt, der Wallgang aber samt seinen Palisaden und vor allem ein an einer Ecke stehender abgeflachter Steinturm in leidlich gutem Zustande verblieben waren. Lehnert, als er das Fort erreicht hatte, kroch überall umher, erstieg den Turm auf einer noch wohlerhaltenen Wendeltreppe und sah nun zurück nach Nogat-Ehre hin. Die Entfernung mochte fast zwei Wegstunden sein, aber die wundervolle Klarheit der Luft ließ ihn alles aufs bestimmteste erkennen. Das Eckfenster zur Linken, das war seine, und das an der anderen Ecke, da wohnte Ruth. Es war ihm, als sähe er sie, und indem er ihrer gedachte, gedacht er auch schon des Moments der Rückkehr und sah sich die Treppe hinaufsteigen und vernahm andächtig den Choral, den sie mit klarer Kinderstimme sang. Und nun bog er in den Korridor ein und hörte wieder deutlich, wie die Tür ins Schloß fiel und wie sich Monsieur L'Hermite wie herkömmlich von seinem Lauscherposten zurückzog. Und während er das alles im Geiste vorwegnahm, trat er, sich wieder erinnernd, wo er war, an die Brüstung des alten Turmes heran und pflückte, sich bückend, allerlei kleine Blumen, die hier aus dem zerbröckelten Gestein reichlich aufsproßten, und band einen Strauß, den er mitnehmen und Ruth überreichen wollte.

Das Pferd nagte noch ruhig an den Birkenzweigen, als er nach einer Weile zurückkam, um wieder in den Sattel zu steigen. Der Weg aber, der immer steiler anstieg, erschien ihm jetzt mehr und mehr wie die Krummhübler Straße zwischen dem »Goldenen Frieden« und dem »Waldhaus«, und der Gebirgsbach, der da neben ihm schäumte, das war die Lomnitz, die vom Mittagsstein und den Teichen herunterkam. Und unwillkürlich sah er auch nach dem Inselchen aus und ob er das Haus sähe, sein Haus, mit den zwei Brückenstegen und dem Schindeldach und dem erst sich am Hause hin und dann bis aufs Dach hinaufrankenden gelben Rosenstrauch. Er sah aber nichts als Tannen und wieder Tannen und dann und wann eine Lichtung, und dabei wurde der Weg immer enger und steiler, bis zuletzt ein Quell kam, der aus einer niedrigen, aber senkrechten Felswand sprang und dicht darunter in einen aus vier mächtigen Steinen gebildeten Kessel fiel. Und an dem Kessel hin lief ein Pfad, und dahinter kam ein Moorstreifen und verdorrtes Gras und Huflattich ... Und dann kam ein Kusselgebüsch ... Und da lag wer ...

Und Lehnert hielt an und fuhr mit der Hand über Stirn und Auge, wie wenn er das Bild verscheuchen wolle. Aber es wich nicht. Und zuletzt gab er dem Pferde die Sporen und ritt, so rasch es der Weg zuließ, immer höher bergan.

Nur einmal noch sah er nach der Stelle zurück.

»Das ist der, der bei L'Hermite ins Fenster sah.«


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