Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ruth und Toby war es nicht entgangen, daß Lehnert das Buch mit hinübergenommen hatte; beide hatten sich darüber gefreut und fast auch über die Heimlichkeit, mit der es geschah. Sie gestanden sich das, als sie tags darauf nach der Morgenandacht die Treppe hinaufstiegen, um oben in Ruths Zimmer noch ein kurzes vertrauliches Geplauder zu haben. Sie setzten sich einander gegenüber und sahen eine Weile Maruschka zu, die mit großen Holznadeln an einem mächtigen Wollshawl strickte, während ein Rotfink im Zimmer hin und her flog. Zuletzt folgten die Geschwister dem Hinundherfluge des schönen Tieres, und als es sich auf den Ecktisch setzte, darauf Ruth gestern das »Gertrud-und-Lienhardt«-Buch gelegt hatte, sagte diese:

»Sieh, Toby, da liegt das Buch wieder! So geschickt er es gestern mitgenommen, so geschickt hat er es heute wieder hingelegt. Es muß gewesen sein, als wir schon unten waren; er kam auch eine Minute zu spät, und der Vater sah ihn an. Gib das Buch her, vielleicht hat er ein Zeichen eingelegt oder gar ein paar Striche gemacht. Manche können das nicht lassen, und ich möchte beinahe sagen, er sieht mir ganz danach aus.«

Toby, gehorsam, holte das Buch, und Maruschka mit dem langen weißen Wollshawl, der aber längst aufgehört hatte, weiß zu sein, rückte näher heran, weil sie neugierig war. Und nun begann Toby zu blättern, während ihm Ruth, die sich von ihrem Platz erhoben hatte, neugierig über die Schulter sah.

»Siehst du«, lachte sie plötzlich auf, »da kommen schon die Striche; wie richtig ich meinen Mann erkannt habe! Das hätte nicht mit rechten Dingen zugehen müssen, wenn's anders gewesen wäre. Wer Bücher heimlich mit fortnimmt, der macht auch Striche hinein, und vielleicht sogar mit der Absicht, andere wissen zu lassen, was ihm am besten gefallen hat.«

»Woher weißt du so was, Ruth?«

»Einfach genug. Weil ich es selber ein paarmal so gemacht habe.«

»Wo denn? Hier?«

»Nein, in Halstead, in der Schule. Das ist aber gleich, laß uns lieber sehen, wieviel Striche wir finden. Hoffentlich nicht zu viele. Drei, vier, das geht; sind es mehr, so wird es albern und sagt gar nichts mehr. Wieviel Stellen sind es?«

»Du hast gut geraten, gerade vier. Und folgen alle rasch aufeinander.«

»Nun lies! Aber der Reihe nach.«

Toby blätterte wieder zurück und begann dann: «Es mißfiel ihr aber, daß ihrer so rühmend erwähnt wurde. Denn sie war bescheiden und demütig und grämte sich über den bloßen Anschein von Eitelkeit.«

Hier sah Toby Ruth an und sagte: »Da hat er an dich gedacht; das bist du.«

Ruth aber hielt ihm den Mund zu: »Rede nicht so, Toby, wer weiß, an wen er gedacht hat. Und es paßt nicht einmal; ich bin nicht demütig, und noch weniger bin ich bescheiden. Aber laß uns weitersehen!«

»Nun denn. ›Ich sehe dir's an, du Gute, du kannst dich nicht verstellen.‹«

»Das bist du wieder, Ruth.«

»Ja«, lachte diese jetzt. »Das kann ich wenigstens sein ... Aber nun laß uns nach einer etwas längeren Stelle suchen, das sind ja alles nur Zeilen ... Sieh hier, das ist länger, das wird sich verlohnen ...«

Und nun las Ruth selbst, während sie sich im Lesen immer weiter über Tobys Schulter vorbeugte: »›Von Kindesbeinen an stak ihm zuviel Feuer in Blut und Herzen, und die Mutter, anstatt dasselbe zu löschen und zu dämpfen, gefiel sich darin, es anzufachen.‹«

»Ach, das ist er«, sagte Ruth und fuhr dann im Lesen fort: »›Er war ein Trotzkopf und redete stundenlang kein Wort, wenn man ihm nicht tat, was er wollte. Und hier, meine Lieben‹... ah, nun wird es lehrhaft, und der Prediger und Erzieher kommt heraus ..., ›hier muß ich innehalten und den Vätern und Müttern meiner Gemeinde die große Lehre der Auferziehung sagen: Bieget eure Kinder, ehe sie noch wissen, was links oder rechts ist, zu dem, wozu sie gebogen sein müssen. Und sie werden's euch bis ins Grab danken, wenn ihr sie zum Guten gezogen und ins Joch des armen Lebens gebogen habt, noch ehe sie wissen, warum.‹«

»Nun sage selbst«, sagte Ruth, »ist es nicht, wie wenn der Vater spräche? Da dürfen wir uns nicht wundern, daß er so ganz besonders zu dem Buche hält und zu dem Manne, der es geschrieben: Pestalozzi! Sonderbarer Name und so gar nicht deutsch.«

»Nicht so deutsch wie Hornbostel«, lachte Toby. »Soviel kannst du nicht von jedem Namen verlangen ... Aber«, und dabei nahm er das Buch, das er einen Augenblick aus der Hand gelegt hatte, wieder auf, »jetzt kommt die letzte Stelle, die hat sogar zwei Striche und hier an der einen Stelle noch ein Nebenstrichelchen.«

»Nun gut. Nun lies du wieder!« sagte Ruth. »Und die Stelle mit dem Nebenstrichelchen mußt du betonen.«

»Versteht sich.«

Und nun las Toby wieder. »›... Der Menschen Herzen müssen in Ordnung sein, wenn sie glücklich sein sollen. Und zu dieser Ordnung kommen die Menschen eher durch Not und Sorgen als durch Ruh und Freude, Gott würde uns sonst mehr Freude gegönnt und gegeben haben. Aber weil die Menschen ihr Glück nur ertragen können, wenn ihr Herz zu vielen Überwindungen gebildet und stark und standhaft und geduldig geworden ist, so müssen wir's auch als notwendig erkennen, daß, als eine Staffel und Vorschule, soviel Not und Elend in der Welt ist.‹«

»Du hast schlecht gelesen, Toby; von Betonung keine Rede. Lies noch mal, lies die Stelle, wo der Nebenstrich steht!«

»›... Aber weil die Menschen ihr Glück nur ertragen können ...‹«

»Ah, ich weiß schon ... Ich dachte mir's , daß das die Stelle sein würde ...«

»Warum gerade die, Ruth? Und dabei bist du rot geworden. Aber ich will nichts gesagt und nichts gesehen haben ... Und nun rücke nur wieder näher an Maruschka heran und hilf ihr bei dem Shawl, sonst wird er erst fertig, wenn wir ihren achtzigsten Geburtstag feiern.«

»Unsinn, Torheit!«

»Oder deine silberne Hochzeit.« Und dabei gab er ihr einen Kuß und sprang rasch aus dem Zimmer.

»Was meint er nur?« sagte Maruschka. »Was will er sagen mit meinem achtzigsten Geburtstag?«

»Ach, liebe Maruschka, was er mit deinem achtzigsten Geburtstag sagen will, das ist nicht schwer, das kann jeder verstehen. Ein achtzigster Geburtstag ist ein achtzigster Geburtstag. Aber was will er sagen mit »silberner Hochzeit«? Was soll das?«

Maruschka kam auf sie zu, das Wollvlies wie eine Schleppe hinter sich her, und dabei gingen und klapperten die Nadeln: »Was das heißen soll, Ruth? Silberne Hochzeit! Nun freilich, dein Vater hat nie so lange gewartet, oder auch nicht gekonnt, weil der Tod immer dazwischenkam; aber du mußt doch wissen, was eine silberne Hochzeit ist?«

»Gewiß, Maruschka, gewiß weiß ich, was eine silberne Hochzeit ist. Aber er sprach ja von meiner silbernen Hochzeit, und da muß ich doch fragen dürfen, was soll das? Erst muß ich doch eine Braut sein und dann eine Frau ...«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte Maruschka. »Du wirst eine Braut sein und auch ein glückliche junge Frau. Und dann werden wir zuletzt auch eine schöne silberne Hochzeit haben. Ich bin dann fünfundachtzig oder etwas drüber ... Aber wenn man warten kann, kommt alles.«

Ruth nahm der Alten Hand. »Ach, Maruschka, ich will dir's nur gestehen, ich weiß alles, was Toby meinte ... Die Tage hier vergehen so still, und das Leben ist so gleich und arm.«

Und dabei seufzte sie.

»Nicht so, Ruth. Das kleidet dir nicht, dir kleidet bloß Fröhlichkeit und Lachen. Und die Heilige Jungfrau, die hilft. Aber das darfst du dem Alten nicht sagen, daß ich dir von der Heiligen Jungfrau gesprochen habe. Das mag er nicht.« Und nun lachte Ruth wieder.


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