Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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21

Bald unterbrach Doxford das Schweigen.

»Riding House Street? Das ist doch die Straße, die Sie vorhin im Zusammenhang mit Paleys Verhalten in der Mordnacht erwähnten? Nicht, war?« fragte er.

»Wenn ich nicht irre, ging er dorthin.«

»Er eilte die Riding House Street hinunter, als er sein Auto am Ende von Portland Place verlassen hatte«, antwortete ich. »Riding House Street mündet in die Great Portland Street, und Little Custom Street ist dicht dabei.«

Doxford wandte sich zu den Beamten, die ihn angesprochen hatten.

»Sind Einzelheiten bekannt?« fragte er.

»Nicht, daß ich wüßte«, sagte der eine. »Wir wollen soeben hinfahren.«

»Das werden wir auch tun«, sagte Doxford. »Also zurück in den Wagen!«

Wir setzten uns eiligst auf unsere Plätze und fuhren wieder los. Keiner sprach, bis wir Trafalgar Square überquert hatten und die untere Regent Street hinauffuhren.

Dann begann Windover plötzlich: »Ich wette meinen Kopf, daß es einer von den beiden ist.«

»Das dachte ich mir auch schon«, bemerkte Doxford. »Aber welcher?«

»Sagen wir nicht ›welcher‹ sondern ›warum‹?« meinte Chaney. »Warum ist er erschossen worden? Aber wenn es wirklich einer von den beiden ist, möchte ich wetten, daß ich weiß, wer es ist.«

»Welcher denn?« fragte Doxford. »Sie scheinen Ihrer Sache ziemlich sicher zu sein?«

»Bin ich auch! Es wird Craye sein!«

»Warum Craye?«

»Weil Paley von den beiden der schlauere Bursche ist und ganz bestimmt weiß, wie er sein Leben retten kann«, erwiderte Chaney. »Da haben wir ja eine hübsche Aufgabe, Paley zu finden! Ich habe ihm vom ersten Augenblick an nicht getraut. Ist es nicht so, Camberwell? Habe ich es nicht gleich gesagt, daß er ein fauler Kunde sei?«

»Das stimmt«, gab ich zu. »Aber Sie wußten doch damals gar nichts von ihm?«

»Beweist nur, was für ein Menschenkenner ich bin«, sagte er lachend, »Ein ganz gemeiner Kerl, dieser Paley! Seitdem er Cheverdales Sekretär wurde, hat er den alten Lord völlig in den Händen gehabt, und ich gehe jede Wette ein: Finden wir einen von den beiden tot, so ist es sicher nicht Paley!«

»Das werden wir bald heraus haben«, brummte Doxford, der zum Fenster hinaussah. »Wir sind gleich da.«

Das Auto fuhr jetzt in die Riding House Street ein, und der Schofför, der keine bestimmten Weisungen hatte, hielt mit sicherem Instinkt bei einem Haus, vor dem ein paar Polizisten an der Tür Wache standen. Ein paar Nachtvögel lungerten hier herum, neugierig und spähend, ein anderer Polizist stand im Eingang und sprach mit einem Mann und einer Frau, offenbar den Hausverwaltern. Wir stiegen aus und eilten ins Haus. Die beiden Beamten, die mit Doxford gesprochen hatten und uns in einem zweiten Wagen gefolgt waren, gesellten sich jetzt zu uns.

»Wo ist es?« fragte einer von ihnen den Polizisten an der Tür. »Welche Wohnung?«

Der Mann zeigte auf eine Tafel, die an der Wand des Hausflurs hing.

»Nummer 8, Mr. Caldwell!« antwortete er. »Der Inspektor ist schon oben!«

»Ist hier kein Lift?« fragte Doxford.

»Nein, Sir«, erwiderte der Mann, der wie der Portier aussah. »Aber es ist gar nicht hoch. Der erste Treppenabsatz, dann rechts.«

Wir eilten die Treppen hinauf; fragende, erschrockene Gesichter sahen uns aus halb geöffneten Türen nach, als wir den Korridor entlang gingen. Die Tür der Wohnung 8 stand weit offen; in der kleinen Diele hielt sich ein Polizei-Inspektor auf und sprach gerade leise mit einem Polizisten und einem einfach gekleideten Mann. Als er Doxford erblickte, drehte er sich um, öffnete eine Tür und bedeutete uns, ihm in das Zimmer zu folgen. Schweigend traten wir alle hinter ihm ein. Es war ein luxuriöser Raum, weder ausgesprochenes Eßzimmer noch Wohnzimmer. Die weichsten und dicksten Teppiche gab es hier, die tiefsten und bequemsten Lehnstühle, die breitesten und schönsten Sofas; sanft gedämpftes Licht, herrliche Bilder, ein großes Klavier: alles, was sich ein Genußmensch an erlesenen Möbeln und geschmackvoller Einrichtung nur wünschen konnte, und über dem allen ein feiner Duft, wie von einem seltenen östlichen Parfüm. Quer über dem Kaminteppich ausgestreckt, lag die Leiche eines Mannes. Sein Gesicht war uns halb zugekehrt . . .

Chaney brach das Schweigen.

»Bei Gott, ich habe mich geirrt! Das ist ja Paley!«

Es war kein Zweifel, es war Paley! Paley, den wir erst vor zwei oder drei Stunden noch lebend gesehen hatten, lag nun da – tot!

»Kennen Sie ihn?« fragte der Inspektor.

»Verschiedene von uns kennen ihn«, erwiderte Doxford. »Er war Lord Cheverdales Sekretär. Aber – wer hat ihn erschossen? Was haben Sie herausgefunden?«

»Ich habe bis jetzt folgendes festgestellt«, erwiderte der Inspektor. »Diese Wohnung gehört einem Mr. Caldwell. Das ist jedenfalls der Name, den der Verwalter kennt, und der auch unten auf der Tafel steht. Mr. Caldwell benützte die Wohnung nur gelegentlich, vielleicht zwei oder drei Nächte in der Woche. »Dieser Mann«, fuhr er fort und zeigte auf Paley, »kam ganz regelmäßig hierher. Nach den Aussagen des Verwalters pflegten sie junge Damen hier zu bewirten und Abendgesellschaften in großem Stil und dergleichen zu geben. Wie ich gehört habe, führten sie ein ziemlich flottes Leben. Und ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen, als ich mich in der Wohnung umsah. Dort sind zwei Schlafzimmer – recht üppige Nester! Was sich vergnügungssüchtige Leute nur an irdischen Herrlichkeiten wünschen können, ist in dieser Wohnung: Weine, Schnäpse, ausgezeichnete Zigarren und lauter solche Dinge. Und jede Vorsorge ist getroffen, daß alles ohne Störung vor sich geht – Doppeltüren, Doppelfenster! Dieser Caldwell muß einen Haufen Geld in die Wohnung gesteckt haben, vielleicht hatte der Tote hier sich an den Ausgaben beteiligt – nach den Aussagen des Verwalters war er ebenso oft hier wie Caldwell.«

»Aber dieser Vorfall heute nacht?« fragte Doxford.

»Bisher konnte ich folgendes ermitteln«, fuhr der Inspektor fort, »der Verwalter sah diesen Mann – der, wie Sie sagen, Paley ist – mit Caldwell heute abend hierher kommen. Anderthalb Stunden später kam die Frau des Verwalters, die einen Schlüssel zu der Wohnung hat, herein und fand Paley tot da liegen, wo Sie ihn jetzt sehen; Caldwell aber war verschwunden. Sie rannte natürlich zu ihrem Mann hinunter, sie holten dann den nächsten Polizisten – und so weiter. Was aber Caldwell betrifft – so kommen Sie bitte einmal mit . . .«

Er führte uns durch eine andere Tür hinüber in eins der Schlafzimmer, die er vorhin erwähnt hatte. Seine Beschreibung war nicht übertrieben, aber ich hätte es niemals für das Zimmer eines Mannes gehalten; es war eher ein Raum, in dem sich eine vergnügungssüchtige Frau wohlgefühlt hätte. Was mir gleich auffiel, war, daß auf dem rosafarbenen Bettüberzug der Anzug lag, in dem wir Craye heute abend im Klub gesehen hatten.

»Sehen Sie«, sagte der Inspektor, »dieser Caldwell ist augenscheinlich hier hereingekommen, nachdem er den andern erschossen hatte, um sich umzuziehen. Alles legte er ab, was ihn verraten konnte – Hemd, Kragen, Krawatte, Anzug! Aber er tat noch mehr: sehen Sie hierher!«

Er öffnete eine zweite Tür und führte uns in ein prächtig ausgestattetes Badezimmer, in dem alle Lichter brannten.

»Hat einer von Ihnen eine Ahnung von der wirklichen Identität dieses Caldwell?« fragte er uns. »Eine Ahnung, wer es ist?«

»Ja«, erwiderte Chaney rasch. »Er ist ein Mann, der sich in London Francis Craye nannte, dessen wahrer Name aber Frank Crowther ist. Er war heute abend in Paleys Gesellschaft.«

»Trug er einen Bart und Schnurrbart?« fragte der Inspektor.

»Ja, beides, – warum?«

Der Inspektor führte uns zu einem Toilettentisch. »Weil er sich beides abgenommen hat«, sagte er. »Erkennen Sie jetzt sein Spiel? Nachdem er Paley erschossen hatte, wechselte er die Kleider, rasierte sich Bart und Schnurrbart ab, packte dann wahrscheinlich das Nötigste in einen Handkoffer und machte sich aus dem Staub. Aber wo sollen wir ihn jetzt finden? Hat einer von Ihnen eine Ahnung?«

»Sicher wird er nicht unter seiner gewöhnlichen Adresse zu finden sein«, sagte Chaney. »Im Augenblick ist er bestimmt ausgekniffen, wahrscheinlich hatte er sich – für den Fall einer möglichen Entdeckung – schon seinen Plan gemacht. Aber . . .«

In diesem Augenblick ließ ein leichtes Husten im anstoßenden Zimmer uns aufhorchen – wir sahen zu der offenen Tür. Dort stand, in die Betrachtung der Leiche Paleys versunken, Chippendale!

»Das ist Crayes Werk«, sagte er. »Ich hatte schon so einen Verdacht, aber ich weiß, wo Craye ist! Er ist uns sicher – Sie haben nichts zu tun, als hinzugehen und ihn festzunehmen.«

»Wohin denn?« rief Chaney aus. »Heraus damit, mein Junge! Wo ist er?«

»Im Langham Hotel!« erwiderte Chippendale im gleichen ruhigen Ton. »Ich denke, daß er uns sicher ist, jedenfalls für die Nacht. Er hatte keinen Schimmer davon, daß ich ihm nachgespürt habe. Bis hierher habe ich beide Spuren verfolgt. Dann Crayes Spur bis zum Hotel.«

»Von wo an?« fragte Chaney, »Los, erzählen Sie!«

Chippendale setzte sich auf den Tischrand und sah einen nach dem andern an.

»Ich bin ziemlich erledigt«, sagte er. »Ich will es also kurz machen. Ich sah, wie die beiden den Royal Automobile Club durch eine Kellertür verließen. Keiner von Ihnen war in der Nähe, ich konnte also niemanden verständigen. Ich folgte den beiden Pall Mall hinunter nach Waterloo Place. Dort nahmen sie ein Auto. Ich auch. Ich folgte ihnen bis ans Ende der Straße, zur Kirche und weiter Riding House Street hinab, bis hierher zu den Wohnungen. Ich sah sie hineingehen. Dann wartete ich und behielt die Eingangstür im Auge. Fast eine Stunde verging. Dann kam Craye heraus – allein. Obwohl er mich nicht sah, war ich ihm doch nahe genug, um zu erkennen, daß er sich Bart und Schnurrbart abrasiert, seine Kleider gewechselt und einen anderen Hut und Überzieher genommen hatte. Aber ich kenne ihn ja zur Genüge! Er hinkt auf dem linken Fuß, kaum merkbar, und die eine Schulter, die rechte, ist eine Idee höher als die andere. Ganz heimlich schlüpfte er heraus, in der Hand einen kleinen, schwarzen Stadtkoffer, und eilte die Straße hinunter. Ich folgte. Als er an das Ende von Portland Place gekommen war, ging er in das Langham Hotel Er kam aber nicht wieder heraus, und so tat ich das einzige, was zu tun war . . .«

»Und was war das?« fragte Chaney.

»Ich wartete eine Weile, ging dann hinein und fragte, ob ich für die Nacht ein Zimmer bekommen könnte«, erwiderte Chippendale schmunzelnd. »Zum Glück bin ich gut angezogen, sehe anständig aus und hatte auch eine Menge Geld bei mir, konnte ihnen also eine genügende Summe hinterlegen, da ich doch kein Gepäck hatte. Dann sah ich mir die Hotelliste durch. Crayes Eintragung stand gerade vor meiner: Mr. F. Cameron, Nummer 395. So, nun wissen Sie alles. Und jetzt ist er in seinem Zimmer.«

Der Inspektor und der Detektiv sahen sich an. Doxford sagte:

»Es wird verdammt schwer sein, den Burschen festzunehmen. Wahrscheinlich ist er bewaffnet und wird vor nichts zurückschrecken. Wenn wir ihn doch herausholen könnten!«

»Halt mal, einen Augenblick!« unterbrach der Inspektor. Er zeigte auf Chippendale: »Wer ist der junge Mann?« fragte er.

»Unser Sekretär«, antwortete Chaney.

»Durchaus zuverlässig?«

»Wie können Sie fragen«, erwiderte Chaney. »Er hat doch eben eine Probe seiner Befähigung gegeben!«

»Was ich sagen wollte«, fuhr der Inspektor fort. »Weiß der junge Mann auch bestimmt, daß Craye diese Nacht im Langham Hotel bleibt?«

»Oh, ich habe mich genau vergewissert, daß er in sein Zimmer gegangen ist«, sagte Chippendale. »Ich habe mit dem Zimmerkellner selbst ein bißchen Detektiv gespielt. Craye ging sofort auf sein Zimmer und ließ sich Brötchen, eine Flasche Whisky und Mineralwasser hinaufbringen. Bis morgen früh ist er uns sicher.«

»Ausgezeichnet! Ich schlage also folgendes vor«, sagte der Inspektor. »Wenn er zu der Sorte gehört, die sofort schießt, haben wir, meine ich, wirklich nicht nötig, ausgerechnet vor seiner Schlafzimmertür zu warten. Doxford, gehen Sie doch mit dem jungen Mann ins Langham Hotel, Sie haben Ihre Karte und wissen, was Sie zu tun haben. Kriegen Sie heraus, ob Craye Auftrag gegeben hat, am Morgen geweckt zu werden und so weiter . . . Lassen Sie diesen Auftrag ruhig ausführen. Und wenn Craye dann herauskommt, um das Hotel zu verlassen, nehmen wir ihn fest! Wie finden Sie das?«

»Kann ein oder zwei Leben ersparen«, brummte Doxford. »Wir müssen natürlich aufpassen, daß er nicht in der Nacht entschlüpft.«

»Das ist leicht«, sagte der Inspektor. »Also nun los, wir wollen zum Langham hinübergehen. Sie gehen hinein und erklären dort, was Sie vorhaben; wir warten vor der Tür auf Sie.«

Wir überließen die Wohnung den Polizeibeamten und gingen die Straße hinunter zum Portland Place. Dort verließen uns Doxford und Windover und gingen mit Chippendale ins Hotel. Nach zehn Minuten waren sie wieder zurück.

»In Ordnung«, sagte Doxford. »Er hat dem Nachtportier Auftrag gegeben, ihn um fünf Uhr dreißig zu wecken, ihm eine Tasse Tee zu bringen und Punkt sechs ein Auto bereitzuhalten.«

»Und er ist jetzt in seinem Zimmer?«

»Ja, das weiß ich ganz genau«, sagte Doxford. »Bis sechs Uhr ist er uns sicher. Es sei denn, daß er in der Nacht durchbrennt.«

»Da werden wir schon aufpassen«, sagte der Inspektor. »Und jetzt wegen der Wache! Niemand kennt ihn, außer diesem jungen Mann – wie ist doch sein Name?«

»Chippendale, Inspektor«, sagte unser Sekretär. »Obschon ich ziemlich müde bin, bin ich bereit, die ganze Nacht im Hotel aufzubleiben und Wache zu halten, wenn ich nur etwas zu essen und zu trinken bekomme. Sie passen hier draußen auf. So werden wir alle zu seinem Empfang um sechs Uhr früh zur Stelle sein.«

Der Inspektor sah auf seine Uhr.

»Es ist jetzt beinahe zwölf«, sagte er. »Gut, machen wir es so. Also Doxford, hören Sie zu . . .«

Chaney und ich überließen jetzt die Polizei und die Detektive ihrer Aufgabe und gingen zu Chaney, dessen Wohnung in der Nähe lag. Wir aßen etwas, versuchten auch zu schlafen – wie weit es ihm gelang, weiß ich nicht, ich jedenfalls verbrachte die Nacht in fiebernder Erwartung und war dankbar, als mich mein Sozius um fünf Uhr früh zu einer Tasse Tee holte.

»Der letzte Akt, Camberwell«, sagte er, als er den Kessel vom Feuer nahm. »Ich werde nicht böse sein, wenn der Vorhang fällt! Ein kaltblütiger Kunde, mit dem wir es da zu tun haben – man stelle sich vor, daß er ruhig mit Whisky und Soda und belegten Brötchen, nur ein paar Meter entfernt von der Leiche seines letzten Opfers, zu Bett geht!«

»Ich hoffe, es wird keine Opfer mehr kosten«, sagte ich.

»Seien Sie sicher, er wird es auf einen Kampf ankommen lassen, wenn man ihm Gelegenheit dazu gibt.«

»Sicher, aber ich glaube nicht, daß diese Burschen ihm Gelegenheit geben werden. Doxford ist ein erfahrener Mann; er hat schon manchen solchen Sturm erlebt, und er wird ihn schon beim Kragen nehmen, bevor Craye noch ahnt, daß er beobachtet wird. Das hoffe ich wenigstens.«

Der Morgen graute, als wir zu dem großen Häuserblock kamen, der das Südende von Portland Place abschließt. In den Straßen lag noch der seltsame, leichte Dunst, der eine so eigentümliche Begleiterscheinung des Londoner Tagesanbruchs ist. Niemand schien zur Stelle zu sein. Weder von Doxford, noch von Windover, noch von einem andern Polizeibeamten war eine Spur zu sehen.

Das schien Chaney nicht weiter zu stören, der ja selbst ein ehemaliger Yard-Beamter war. Er zog mich in einen benachbarten Torweg, von wo aus wir den Eingang zum Hotel sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden; dort blieben wir stehen und warteten.

Von der nahen Kirche schlug es dreiviertel sechs. Zehn Minuten später erschien eine Autodroschke und hielt vor dem Portal des Langham Hotels. Ein paar weitere Minuten verstrichen, dann öffnete sich die Eingangstür, und der Nachtportier erschien auf den Stufen.

»Jetzt«, flüsterte Chaney. »Passen Sie auf!«

Aber nichts geschah! Wenigstens nichts von dem, was wir erwartet hatten. Der Nachtportier stand auf den Stufen, ein paarmal sah er nach der Tür, als ob er erwarte, daß jemand herauskomme. Aber niemand kam – und schließlich sprach er mit dem Schofför ein paar Worte, drehte sich um und ging wieder ins Hotel hinein. Wiederum vergingen einige Minuten. Chaney, der neben mir stand, trat plötzlich aus unserm schützenden Versteck heraus.

»Etwas ist schief gegangen«, brummte er. »Kommen Sie, wir wollen hinübergehen. Großer Gott! Ich hoffe, sie haben ihn nicht entkommen lassen! Ich verließ mich so auf Chippendale.«

Er brach ab; schweigend überquerten wir die Straße und traten eilends ins Hotel. Dort begegneten wir Doxford, Windover und Chippendale. Sie standen zusammen an der offenen Tür eines kleinen Zimmers, links von der Halle. Doxford winkte uns heran.

»Wo bleibt er bloß? Was ist los?« fragte Chaney.

»Sechs Uhr . . .«

»Er ist nicht heruntergekommen«, flüsterte Doxford. »Der Nachtportier ist hinaufgegangen, um ihn noch einmal zu wecken. Aber über eins können wir beruhigt sein er hat sein Zimmer während der Nacht nicht verlassen! Das habe ich festgestellt und ebenso Ihr junger Mann.«

»Ja, ich kann das auch bezeugen«, sagte Chippendale. »Ich habe tatsächlich kein Auge von der Tür gewendet . . .«

»Haben Sie dort oben Wache gehalten?« fragte Chaney.

»Ja, die ganze Nacht«, erwiderte Chippendale. »Ich habe unten etwas gegessen und bin dann hinaufgegangen. Dort bin ich in seinem Korridor bis vor zwanzig Minuten geblieben. Und von dem Augenblick an, wo ich hinaufging, bis zu dem Moment, wo ich herunterkam, hat er sein Zimmer sicher nicht verlassen.«

»Der Nachtportier kommt eben zurück«, bemerkte Windover. »Und zwar allein!«

Der Nachtportier kam quer durch die Halle auf uns zu und schüttelte den Kopf.

»Ich bekomme keine Antwort«, sagte er, als er vor uns stand. »Ich habe geklopft und gerufen, es kam aber keine Antwort.«

»Warum sind Sie nicht hineingegangen?« fragte Chaney.

»Kein Schlüssel«, erwiderte der Nachtportier. »Ich kann aber einen vom Stubenmädchen bekommen, wenn sie schon auf ist. Gewöhnlich ist sie erst um sieben Uhr auf.«

»Jemand muß doch einen Hauptschlüssel haben«, sagte Doxford. »Holen Sie ihn! Oder schicken Sie nach dem Schlüssel des Stubenmädchens. Wir müssen in dieses Zimmer hinein. Wir wollen inzwischen hinaufgehen.«

Wir erreichten die Treppe, Doxford, Windover, Chaney ich und Chippendale. Auf dem Gang, in den uns Chippendale führte, war noch keine Seele. Und als wir vor der Tür des Zimmers standen, das uns soviel Umstände und Neugierde verursachte, war kein Laut zu hören.

»Er ist durchgebrannt«, murmelte Windover jetzt. »Ich wette fünf zu eins, daß das Zimmer leer ist!«

»Wie sollte er durchgebrannt sein?« platzte Chippendale heraus. »Ich sage Ihnen doch . . .«

». . .  Interessiert mich gar nicht, was Sie mir sagen, mein Freundchen«, sagte Windover gutmütig. »Er ist durchgebrannt! Wahrscheinlich ist er gleich wieder auf und davon, nachdem er hierher kam. Wie lange waren Sie denn unten, um Ihren Happen zu essen?«

»Eine Viertelstunde höchstens«, erwiderte Chippendale ärgerlich.

»Na ja«, sagte Windover. »Das erklärt alles! Eine Viertelstunde? Du lieber Gott – in der Zeit konnte er eine halbe Meile zwischen Sie und sich legen. Durchgebrannt, sage ich! Ich wette, es ist niemand drin!«

Der Nachtportier kam träge den Gang herunter, ein Schlüsselbund in der Hand. Er nahm einen Schlüssel, öffnete die Tür und machte sie weit auf.

»Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Windover triumphierend aus. »Leer!«

Er hatte recht: das Zimmer war leer! Aber ich hatte damals beruflich schon viel gelernt, und so war mein erster Instinkt, in dem Zimmer nach Beweisen dafür zu suchen, ob sich nicht doch bis vor kurzem jemand dort aufgehalten hatte. Das erste, was ich bemerkte, war, daß niemand im Bett geschlafen hatte: es war noch glatt und unberührt; auf einem runden Tisch, in der Mitte des Zimmers, standen verschiedene Gegenstände: ein Teller mit Brötchen, mit einer Serviette zugedeckt, eine Flasche Whisky, ein Syphon Mineralwasser, ein Glas, ein offenes A. B. C.-Kursbuch, ein Aschenbecher, auf dem die längere Hälfte einer Zigarre lag. Auf den ersten Blick fielen einem nur diese Gegenstände auf.

Aber Chaney war schon beim Tisch, den er genau untersuchte.

»Kein Brötchen ist angerührt«, sagte er vor sich hin. »Genau, wie man sie ihm gebracht hat. Ein ordentlicher Schluck Whisky ist aus der Flasche genommen worden, aber nur wenig Wasser aus dem Syphon. Das Kursbuch bei ›H‹ aufgeschlagen – aha: Harwich! Die Seite ist eingeknifft – ein Bleistiftzeichen beim Frühzug von Liverpool Street nach Harwich. Alles Bluff! Um den, der hereinkommt, glauben zu machen, daß er auf der Route Harwich-Hoek van Holland nach dem Kontinent hinüber ist. Alles fauler Zauber! Er wird nicht nach Harwich, sondern zur Hölle fahren!«

Chippendale hatte inzwischen im Zimmer herumgeschnüffelt – wie ein Terrier nach den Spuren einer Ratte. Ein lauter Ausruf von ihm veranlaßte uns alle, uns nach dem Toilettentisch, an dem er stand, herumzudrehen.

»Sehen Sie das an«, sagte er aufgeregt, »was soll das bedeuten?«

Bei diesen Worten hielt seine Hand etwas hoch, das wie ein zerrissenes, dunkles Stück Stoff, Sammet oder dergleichen, aussah, und eine Nagelschere. Chaney trat zu ihm und nahm ihm das Stück Stoff weg.

»Ach du lieber Himmel«, rief er aus. »Er hat sich eine Maske gemacht – nun sehen Sie bloß . . .«

Auf dem Toilettentisch lagen zwei ovale Stücke des Stoffes, den Chaney aus Chippendales Hand genommen hatte. Mit einer raschen Bewegung trat er vom Toilettentisch zum Fenster, ergriff einen der Vorhänge und hielt uns dessen Zipfel entgegen: ein Stück davon war grob mit der Schere abgeschnitten und hatte zerrissene, zackige Kanten hinterlassen.

»Da haben wir's!« fuhr Chaney fort. »Ehe er das Zimmer verließ, hat er sich eine primitive Maske für sein Gesicht gemacht. Er hat Augenlöcher ausgeschnitten, zweifellos auch Stücke Bindfäden festgemacht, um sich die Maske um den Kopf zu binden. An alledem ist kein Zweifel! Jetzt aber – wie kam er hinaus? Wie konnte er unbeobachtet entkommen?«

Windover ging zum Fenster hinüber, öffnete es und spähte ins Freie.

»Auf diesem Wege nicht«, bemerkte er lakonisch.

»Die Treppe kam er jedenfalls nicht herunter«, sagte der Nachtportier. »Das kann ich beschwören!«

»Ich ebenfalls«, sagte Chippendale. »Gegessen habe ich unten und konnte ständig die Haustür übersehen.«

»Trotzdem«, bemerkte Chaney, »ist er entkommen. Aber wie?«

»Es gibt noch einen Ausgang zur Nottreppe am Ende dieses Korridors«, sagte der Nachtportier.

»Ist er offen?« fragte Chaney.

»Er konnte ihn öffnen, das ist nicht schwer.«

Chaney steckte das Stückchen zerrissenen Stoff und die Schere in seine Tasche.

»Da haben wir's, er ist hier entschlüpft«, sagte Chaney. »Aber wann? Wer hat ihn zuletzt gesehen?«

»Der Kellner, der ihm das heraufgebracht hat«, erwiderte der Nachtportier.

Chaney ging zur Tür. »Los!« sagte er. »Wir wollen ihn sprechen. Holen Sie ihn sofort!«

Es brauchte einige Zeit, den Kellner aufzustöbern, aber schließlich kam. er.

»Sie haben gestern nacht einen Herrn in Nummer 395 bedient?« fragte Chaney, der hier den Wortführer machte. »Was haben Sie ihm gebracht?«

»Ich brachte ihm eine Flasche Scotch Whisky, einen Syphon Sodawasser und einen Teller belegte Brötchen«, antwortete der Kellner prompt.

»Was hat er gemacht, als Sie sein Zimmer betraten?« fuhr Chaney fort.

»Er las in einem Kursbuch.«

»Haben Sie bemerkt, ob er seinen Koffer ausgepackt hatte?«

»Der Koffer lag offen auf seinem Bett, er hatte noch nichts ausgepackt.«

»Haben Sie sich mit ihm unterhalten?«

»Nicht viel. Ich fragte ihn, ob er noch etwas wünsche, er sagte nein, er brauche nichts mehr.«

»Dann gingen Sie wieder?«

»Ja, dann ging ich wieder.«

»Hörten Sie, daß er nach Ihrem Weggang die Tür abschloß?

»Ja, ich hörte ihn den Riegel vorschieben.«

Chaney drehte sich um und bedeutete uns anderen, ihm zu folgen.

»Hier können wir nichts mehr ausrichten«, sagte er. »Ich weiß jetzt genug. Wahrscheinlich hatte er eine Ahnung, daß man ihm folgte. Er kam hierher und verschwand sofort wieder. Ich behaupte, daß er in der ersten halben Stunde nach seiner Ankunft im Hotel schon wieder abrückte. Jetzt müssen wir die Jagd nach ihm von neuem beginnen! So liegen die Dinge!«

Wir gingen zur Tür, jeder auf seine Weise enttäuscht, aber wir hatten sie noch nicht erreicht, als der Nachtportier uns zurückrief.

»Es ist ein Telefonanruf für Mr. Windover da«, sagte er und sah einen nach dem andern an. »Von Scotland Yard. Dort ist das Telefon, Sir.«

Windover eilte an den Apparat – ein oder zwei Minuten lang hörten wir seine, wie es schien, erregte Stimme; dann kam er kopfschüttelnd zu uns zurück.

»Schon wieder eine neue Verwicklung«, sagte er. »Wir müssen nach Cheverdale-Haus, ich werde dort verlangt. Es ist dort etwas los. Draußen wartet noch unser Wagen.«

Zehn Minuten später fuhren wir am Tor von Cheverdale-Haus vor. Es war natürlich noch sehr früh am Morgen, und die Zeichen von Aufregung und Verstörtheit im Haus waren daher um so bemerkbarer. Ein paar Autos fuhren gerade auf der Zufahrt vor; ich sah die erschrockenen und fragenden Gesichter der Dienstmädchen an den oberen Fenstern, und an der Tür standen – in der Eile nur notdürftig bekleidet – Walker, der erste Diener, und seine beiden Trabanten Harris und Smittson.

Walker empfing uns mit finsterem Schweigen. Auf Windovers kurze Aufforderung hin führte er uns in die innere Halle. Dann wendete er sich uns zu und sagte mit verhaltener Stimme:

»Heute morgen ist etwas Schreckliches passiert, meine Herren! Es war ungefähr um halb oder dreiviertel sechs, ich war gerade wach geworden, als ich einen Schuß, dann einen zweiten, dann einen dritten horte. Mein Schlafzimmer ist im Parterre, und zwar neben der Vorratskammer: die Schüsse schienen von irgendwoher unmittelbar über meinem Kopf, zu kommen, vom Gang über meinem Zimmer. Ich zog mir rasch etwas an und lief, so schnell ich konnte, hinauf. Das Zimmer meines Herrn liegt oben, ich ging zuerst dahin. Die Tür stand offen, aber Seine Lordschaft war nicht im Zimmer, nicht im Ankleidezimmer, auch nicht in seinem Badezimmer. Ich ging den Korridor entlang. Da sah ich, daß die Tür von Mr. Paleys Schlafzimmer, das zwei Türen weiter liegt, offen war. Ich wußte, daß Mr. Paley nicht hier war – er hatte die letzten zwei, drei Nächte nicht hier geschlafen. Ich ging hinein – das erste war, daß ich über einen Körper stolperte. Ich drehte das elektrische Licht an, denn die Jalousien und Vorhänge waren heruntergelassen, und das Zimmer war noch ziemlich dunkel. Da sah ich, daß es Seiner Lordschaft Körper war, über den ich gestolpert war. Er lag auf dem Fußboden – ich wußte nicht, ob tot oder nur besinnungslos. In seiner rechten Hand hielt er einen Revolver, in der anderen eine elektrische Taschenlampe. Auf einmal stöhnte er, es war also noch Leben in ihm . . .«

Hier machte der Diener eine Pause, schüttelte den Kopf und feuchtete sich die trockenen Lippen an. Wir empfanden alle, daß er eine schwere Erschütterung durchgemacht hatte.

»Das war aber nicht alles«, fuhr er fort. »Im Zimmer, auf halbem Weg zwischen Seiner Lordschaft und Mr. Paleys Schreibtisch, lag ein anderer Mann. Ich sah auf den ersten Blick, daß der tot war! Auf dem hellfarbigen Teppich im Zimmer war Blut! Da ich aber hauptsächlich um Seine Lordschaft bemüht war, ging ich nicht an den Fremden heran; dennoch fiel mir sofort etwas auf: er hatte sich eine Maske vor das Gesicht gebunden.«

»Eine Maske!« riefen wir wie aus einem Munde.

»Ja, eine Maske, meine Herren, – ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Aber ich bemerkte – und Sie werden sich auch gleich davon überzeugen – daß ein Totschläger seiner Hand entglitten war, als er hinfiel. Einer von den altmodischen, meine Herren.«

»Nun«, unterbrach Chaney, »was haben Sie gemacht? Haben Sie den Mann berührt?«

»Ich ging überhaupt nicht in seine Nähe«, erwiderte Walker. »Ich holte die beiden Diener – glücklicherweise ist Miß Chever gerade jetzt nicht in London, sondern verbringt ein paar Tage mit Freunden auf dem Lande, und so brauchte ich mich um sie nicht zu kümmern. Wir trugen dann Seine Lordschaft in sein eigenes Zimmer zurück. Ich überzeugte mich noch, daß er nicht verwundet war, telefonierte nach den Ärzten und in Ihr Hauptquartier. Es sind jetzt zwei Ärzte um Seine Lordschaft bemüht; sie sagen, daß er das Opfer eines furchtbaren Schrecks und eines Schlaganfalls geworden sei . . .«

»Und was ist mit dem Mann?« fragte Windover. »Haben die Ärzte . . .

»Einer von ihnen hat sich die Leiche des Mannes angesehen, Sir, nur um sicher zu sein, daß er tot war, aber er hat die Maske nicht entfernt«, antwortete Walker. »Ich habe Mr. Paleys Zimmer abgeschlossen, sobald wir Lord Cheverdale hinausgetragen hatten. Hier ist der Schlüssel, Mr. Windover.«

»Zeigen Sie uns den Weg«, sagte Windover.

Er trat zurück, als Walker zur Treppe ging und flüsterte uns zu: »Sie wissen wohl schon, was wir jetzt zu sehen bekommen werden.«

»Aber warum geschah das hier?«

Wir folgten dem Diener die große Treppe hinauf über einen mit dicken Teppichen belegten Korridor. Rechts wurde eine Tür geöffnet. Ein Mann – offenbar der Arzt – kam heraus. Er sah uns prüfend an, dann wandte er sich an Walker und sagte kurz:

»Lord Cheverdale ist tot!«

Ein Stöhnen und Ringen nach Luft kam als Antwort aus dem Mund des Dieners.

Chaney aber fragte den Arzt: »Sind Sie sicher, Sir, daß Lord Cheverdale nicht überfallen, nicht verwundet wurde?«

»Ja, ganz sicher«, erwiderte der Arzt. »Ein Schlaganfall! Er litt seit einiger Zeit an großer Herzschwäche.« Er hielt inne und sah uns fragend an. »Haben Sie den Mann, den er erschossen hat, gesehen – den Einbrecher?«

Windover verneinte. Der Doktor machte kehrt und ging mit uns den Gang weiter. Der Diener zeigte auf eine Tür. Windover steckte den Schlüssel hinein und öffnete. Wir traten ein. Die Rouleaus und Vorhänge waren hochgezogen, der Tote lag im vollen Licht der aufgehenden Sonne da. Ein Blick auf die Maske, die über die obere Gesichtshälfte gebunden war, überzeugte uns, daß sie mit dem abgerissenen Stück Stoff übereinstimmte, das Chaney in der Tasche hatte.

Zwei Stunden später fanden wir nach einer gründlichen Durchsuchung der verschiedenen Sachen in Paleys Schreibtisch endlich das, was uns Crayes Gegenwart in diesem Zimmer erklärte, wo er von der Hand seines Brotherrn den Tod gefunden hatte. Es war ein Schuldschein, auf dem sich Craye verpflichtete, Paley eine Summe von zweihundertfünfzigtausend Pfund binnen einem Monat nach Crayes Heirat mit Miß Chever auszuzahlen.

Und so war das Ende gekommen –!

Für mich aber wird eine Frage immer offen bleiben: Wußte Lord Cheverdale, wer es war, den er an jenem Morgen erschoß?

 

Ende

 


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