Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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19

Ich wäre einigermaßen in Verlegenheit, wenn ich sagen wollte, was ich an jenem Abend gegessen und getrunken habe. Die Hauptschwierigkeit lag darin, daß ich während des ganzen Essens vermeiden mußte, nach den beiden Herren hinzusehen, für die ich doch regstes Interesse hatte. Und obwohl es schon damals mein Beruf war, Verbrecher und Geheimnisse aufzudecken, und ich kühl wie der sprichwörtliche Marmor hätte sein müssen, war ich weit nervöser und aufgeregter als mein Gastgeber. Tatsächlich mußte Halstead mich ein paarmal warnen.

»Sehen Sie bloß hierher, Camberwell«, murmelte er. »Sie irren ja mit Ihren Augen im ganzen Raum herum. Sie sind viel zu aufgeregt. Ich passe schon auf, daß die beiden uns nicht entkommen, jedenfalls nicht, solange sie hier im Klub sind. Essen Sie Ihr Dinner – die dort sind für den Augenblick ja beschäftigt.«

Ich befolgte seinen Rat so gut ich konnte. Aber mein Kopf war ein Wirbel widerstreitender Gedanken. Waren wir der Lösung des Geheimnisses nahe? War Craye wirklich Crowther? War er tatsächlich der Mörder von Hannington, Mrs. Crowther, Mrs. Goodge und dem Hindustudenten? Was bedeutete diese auffallende Verbrüderung mit Paley? Ich hatte nie während meiner Besuche in Cheverdale-Haus ein Anzeichen dafür bemerkt, daß Paley und Craye intime Freunde waren; was wir aber jetzt sahen, schien doch darauf hinzudeuten. Waren sie vielleicht Komplicen? Was würde der nächste Zug in diesem für mich so spannenden Spiel sein?

Den nächsten Zug machte Paley. Als er und Craye vom Tisch aufstanden, kam er durch den Saal auf mich und Halstead zu. In seinem Gebaren war eine gespielte Freundlichkeit, in seinem Blick lag eine Frage; aber auf das, was er jetzt sagte, war ich doch nicht vorbereitet.

»Hätten Sie und Ihr Freund Lust zu einer Partie Billard, Camberwell?« fragte er. »Craye und ich möchten gern ein Spiel zu vieren machen.«

Ich sah Halstead an. Er gab mir einen Stoß unter dem Tisch, und seine Augen deuteten sein Einverständnis an.

»Sehr liebenswürdig«, antwortete ich. »Ja, sehr gerne.«

Paley wandte sich um und rief Craye heran. Er kam, die Hände in den Taschen, und sah von einem zum andern.

»Ich kenne leider den Namen Ihres Freundes nicht, Camberwell«, sagte Paley. »Hier sind so viele Mitglieder . . .«

Ehe ich sprechen konnte, fuhr Halstead schnell dazwischen.

»Horton ist mein Name«, sagte er.

»Sehr angenehm«, antwortete Paley. Er übernahm die weitere Vorstellung, und dann gingen wir. Aber anstatt ins Billardzimmer, führte Paley uns in einer anderen Richtung.

»Oben ist ein Privatraum«, sagte er, »wir wollen lieber den nehmen, dort ist es gemütlicher. Hier, bitte!«

Wir gingen ein paar Stufen hinauf und kamen an eine geschlossene Tür. Plötzlich blieb Graye stehen.

»Ich will mein eigenes Queue aus dem Billardzimmer holen«, sagte er. »Einen Augenblick.«

Er rannte die Treppe wieder hinunter. Paley öffnete die Tür und führte Halstead und mich in ein großes, hübsch ausgestattetes Zimmer, in dessen Mitte ein Billard stand. Es war keine Bedienung da, und Paley drehte das Licht an.

»Hervorragend guter Tisch, der hier«, sagte er. »Und ein besonders gutes Tuch. Wenn Sie nicht mit Kegeln spielen wollen, wählen wir Karambolage. Ich liebe mit Kegeln, Craye auch. Ich werde lieber nach einem Markör klingeln.«

Er wandte sich vom Tisch weg, über den wir uns alle drei gebeugt hatten, und ging zu einer Klingel, die zwischen Kamin und Tür angebracht war. Aber mit drei schnellen Schritten war er an der Klingel vorbei und zur Tür hinaus, und im nächsten Augenblick hörten wir, wie der Schlüssel hinter uns umgedreht wurde. Wir waren in einer Falle gefangen!

Halstead und ich sahen uns an. Eine Sekunde verlegenes Schweigen. Dann lachte er kurz und scharf – ein zynisches Lachen!

»Schlau!« sagte er. »Verdammt schlau! An diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht. Das sind gerissene Burschen, diese beiden, Camberwell! Das haben sie beim Essen besprochen. Schön hereingefallen sind wir!«

»Was ist zu tun?« fragte ich. »Die sind natürlich ausgerissen.«

»Sie können sicher sein, daß Craye schon auf und davon ist und daß auch Paley unterwegs ist«, antwortete er. »Und beide werden es so schlau anfangen, daß Ihre Freunde und Helfer draußen keinen von ihnen zu sehen bekommen! Uns sind sie ja großartig losgeworden!«

»Aber wir können doch nicht hier eingeschlossen bleiben.«

»Nicht für immer«, antwortete er. »Doch es wird eine Weile dauern, bis wir herauskommen, und fünf Minuten Vorsprung ist für die beiden schon genug. Auf jeden Fall müssen wir zunächst mal klingeln!«

Er drückte den Finger fest auf den Knopf. Ich ging indessen zum Fenster, zog die Vorhänge auf und sah hinaus. Wir befanden uns hoch über Pall Mall. Ich vernahm das gedämpfte Rauschen des Verkehrs und sah den Widerschein der Straßenlampen. Und irgendwo da unten entkamen jetzt zweifellos Craye und Paley gänzlich unbehelligt . . .

Plötzlich ertönte ein heftiges Klopfen an der Türfüllung. Dann kam eine Stimme – sehr gedämpft, denn die Tür war stark, schwer und dicht schließend.

»Hallo, Hallo!«

Halstead ging nahe an die Tür heran.

»Hallo da draußen! Öffnen Sie die Tür!«

Ich konnte kaum die Antwort verstehen.

»Die Tür ist zugeschlossen, Sir!«

»Ist denn der Schlüssel nicht da?«

»Der Schlüssel ist weg, Sir!«

»Dann suchen Sie jemanden, der die Tür aufmacht. Wir sind eingeschlossen!«

Stillschweigen. Halstead wandte sich zu mir. »Das bedeutet warten«, sagte er, »Sind Sie ein Philosoph, Camberwell?«

»Was meinen Sie damit?« fragte ich.

»Wenn Sie keiner sind, ich bin es«, antwortete er. »Da dies ein Billardzimmer zu sein scheint, und das hier Queues und dies hier Kugeln sind, schlage ich vor, daß wir Billard spielen. Los – nehmen Sie ein Queue!«

Für Dilettanten waren wir beide ganz gute Spieler, und wir entdeckten, daß wir sehr gut zusammen paßten. Als das Spiel bei beiden ungefähr 30 stand, hörten wir vor der Tür Geräusche, die uns bewiesen, daß ein Schlosser am Werk war. Aber die Zahl der gemachten Punkte hatte bei Halstead bereits 150 und bei mir 139 erreicht, bis die Tür plötzlich aufsprang und eine ganze Gruppe erstaunter Menschen davor stand. Ein Klubbeamter trat ein. Er schien Halstead gut zu kennen.

»Wie kam es, daß Sie eingeschlossen wurden, Mr. Halstead?« fragte er beflissen. »Ein Streich, Sir? Ein schlechter Scherz? Wie?«

Halstead legte sein Queue beiseite und begann, seinen Rock anzuziehen.

»Ja, höchst wahrscheinlich!« sagte er. »Und ›schlechter Scherz‹ ist eine sehr gute Idee. Daran hätte ich nicht gedacht. Aber ein Spaßmacher würde doch den Schlüssel nicht mitgenommen haben, nicht wahr? Los, kommen Sie Camberwell!«

Er bahnte sich einen Weg an den Klubangestellten, den Kellnern und dem Schlosser vorbei und ging zur Treppe. Ich eilte ihm nach. Von jetzt ab übernahm Halstead Befehl und Leitung. Bevor wir die Haupteingangshalle erreichten, hielt er inne und wandte sich zu mir.

»Werden Ihre Leute auch draußen sein?« sagte er.

»Eigentlich müßten sie es«, antwortete ich. »Es sei denn, sie sind den beiden schon auf den Fersen.«

Er aber schüttelte den Kopf.

»Die beiden sind ihnen entkommen, todsicher!« sagte er. »Kommen Sie, wir wollen unsere Mäntel und Hüte holen.«

Es war etwas neblig auf Pall Mall; trotz der Lichter war es nicht leicht, weit zu sehen. Die üblichen Fußgänger gingen vorüber; Autos und Droschken standen in Reihen vor dem Klub; Menschen kamen herein und heraus. Einen Moment standen wir auf den Stufen im vollen Glanz der Lampen über dem Eingang. Ich spähte umher, sah aber niemanden von meinen Leuten. Als ich auf das Straßenpflaster hinunterkam und ein Stückchen gegangen war, fühlte ich plötzlich einen leichten Schlag auf meinem Arm, sah mich um und erkannte Chaney. Und im nächsten Augenblick stand Doxford da, dann Windover – und plötzlich war die ganze Gruppe wieder beisammen; Halstead und ich, Windover, Doxford, Chaney. Keiner sprach ein Wort, wir sahen uns erwartungsvoll an. Aber – einer fehlte! Wer war es? Plötzlich wußte ich es . . . wo war Chippendale?

 


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