Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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5

Diese Nachricht wurde von den zwei Detektiven alles andere als freundlich aufgenommen. Windover machte ein Gesicht, das deutlich sein Mißfallen ausdrückte; Doxford aber gab sich gar keine Mühe, ein Riesengähnen zu unterdrücken.

»Ich wollte gerade nach Hause und tüchtig schlafen«, brummte er. »Jetzt müssen wir uns da hinauf schleppen.«

»Müssen Sie gar nicht«, sagte Miß Hetherley; »Lord Cheverdale schickt uns nämlich einen Wagen, in ein paar Minuten wird er vor der Tür stehen.«

»Das ist gut«, meinte Doxford, »dann kann alles noch bei Tage erledigt werden.«

Er erhob sich träge aus seinem Stuhl und wandte sich zu Chaney.

»Nach meiner Meinung müssen wir vor allem eines tun«, fuhr er fort. »Lord Cheverdale wird sicher diesen Paley, seine rechte Hand, bei sich haben. Ich würde aber gern ein oder zwei Worte mit Seiner Lordschaft privat sprechen, ohne daß Paley dabei ist! Was meinen Sie dazu, Chaney?«

»Einverstanden!« antwortete Chaney. »Wir können ja darum bitten. Und was bezwecken Sie damit?«

»Von Lord Cheverdale selbst zu hören, ob es zwischen Hannington und Paley etwas gegeben hat«, antwortete Doxford. »Vielleicht ist doch etwas vorgefallen.«

»Gut, ich halte mit«, sagte Chaney. »Wir wollen Seine Lordschaft bitten, ob wir mit ihm allein sprechen können.«

»Da können Sie aber von Glück sagen und müssen es als besondere Vergünstigung betrachten, wenn er Ihre Bitte erfüllt«, bemerkte Miß Hetherley. »Lord Cheverdale empfängt stets nur in Paleys Gegenwart.«

»Na«, rief Doxford, »wir wollen mal sehen, Miß Hetherley. Sie glauben also, daß Paley dort allmächtig ist?«

»Ich sagte ja schon, daß Paley der Hauptmacher hinter den Kulissen ist«, erwiderte Miß Hetherley. »Sie werden das schon noch merken. Aber wir wollen jetzt lieber hinuntergehen; der Wagen wird da sein, und Lord Cheverdale liebt es nicht, wenn man ihn warten läßt. Er ist – das sollen Sie auch gleich wissen – ein richtiger Autokrat.«

Wir verließen das elegante Zimmer, in dem diese Unterhaltung stattgefunden hatte, und gingen zum Haupteingang hinunter, wo ein prächtiger Wagen mit Schofför und Diener in Livree unser harrte. Höchst vornehm fuhren wir von dem ›Morning Sentinel‹-Haus weg und wurden nach zwanzig Minuten vor der Tür von Cheverdale-Haus abgesetzt, wo uns ein sehr feierlich aussehender Haushofmeister mit sichtlicher Herablassung in Empfang nahm.

»Seine Lordschaft erwartet Sie im Morgenzimmer«, verkündete dieser würdige Herr, indem er ein paar Lakaien in Bewegung setzte, uns Hüte und Mäntel abzunehmen.

»Wollen Sie mir, bitte, folgen?«

Unter Führung von Miß Hetherley zogen wir durch die große Vorhalle, überquerten dann eine zweite kleinere und wurden schließlich (Chaney flüsterte mir zu: »Wie Gefangene, die auf die Anklagebank geführt werden!«) in ein etwas düsteres Gemach geleitet, wo am Kopfende eines langen Tisches Lord Cheverdale saß, betreut von drei Personen, die seiner Befehle gewärtig schienen. Lord Cheverdale sah furchtgebietend aus wie der oberste Lordrichter selbst. Wir blieben an der Schwelle stehen und hatten Zeit, ihn und seine Umgebung zu betrachten und einzuschätzen. Paley hatten wir schon kennengelernt, Miß Chever ebenfalls; aber Lord Cheverdale war uns neu – mir wenigstens – und ebenso der Mann neben ihm, obwohl ich eine dunkle Vorstellung hatte, ihm schon mal in Bond Street oder Piccadilly begegnet zu sein.

Ich sah mir zuerst Lord Cheverdale genau an; er war ein ältlicher Mann von massiver Gestalt mit einem ernsten, feierlichen Gesicht. Man merkte sofort, daß er ohne jeden Sinn für Humor war und daß ein Puritanismus schlimmster Sorte ihn beherrschte. Er gehörte zu der Sorte von Menschen, die man in Kirchen und Kapellen, in schwarzes Tuch gekleidet, mit dem Teller in der Hand herumgehen sieht, die Lippen heruntergezogen, die Augen gesenkt. Man hatte sofort den Eindruck eines Menschen, der fast alles mißbilligt; wäre er ein Richter in Perücke und Talar gewesen und ich ein armseliger Gefangener auf der Anklagebank ihm gegenüber, ich hätte mich beim ersten Blick seiner Augen für schuldig erklärt. In ihnen lag etwas, was uns allen, der Frau und uns vier Männern – wie Chaney später bestätigte – ein Gefühl einflößte, als wären wir Sträflinge, die hier standen, um einen Aufschub ihres Urteils zu erbitten. Am allermeisten beeindruckte uns das allgemeine Stillschweigen bei unserem Eintritt. Lord Cheverdale sah uns hochmütig und durchdringend an, die anderen folgten seinem Beispiel. Zur Ablenkung sah ich mir, während der pompöse Kammerdiener uns zu unseren Stühlen am unteren Ende des langen Tisches führte, den anderen Mann, den ich noch nicht kannte, genauer an.

Er war etwa fünfunddreißig oder vierzig Jahre alt, schmächtig, mittelgroß, von angenehmem Äußeren – besser gesagt: er hatte ein freies, offenes Gesicht, lächelnde Augen (ich merkte, wie er sich heimlich über unseren Eintritt und Empfang amüsierte) und eine herzliche Art. Er sah sehr gut aus, hatte schwarzes Haar, schwarzen, sorgfältig gepflegten Schnurrbart und verstand es offenbar, sich nach der neuesten Mode zu kleiden, ohne geziert oder auffallend zu wirken. Er saß links von Lord Cheverdale, Miß Chever rechts von ihrem Vater; Paley, der eine Menge Schreibmaterial vor sich hatte, nahm eine Ecke des großen Tisches ein. Als wir unsere Plätze besetzt hatten, eröffnete Paley die Verhandlung; die einzige Notiz, die Lord Cheverdale von unserer Anwesenheit nahm, bestand in dem uns allen geltenden Neigen des Kopfes. Paley aber wendete sich an uns, als wären wir – ich sage es nochmals – Gefangene auf der Anklagebank und er ein Gerichtsbeamter, der uns aufforderte, uns zur Anklage zu äußern.

»Lord Cheverdale hat Sie hergebeten, um von Ihnen zu hören, was Sie bis jetzt unternommen haben«, sagte er. »Es wird das beste sein, wenn Inspektor Doxford, als Vertreter der Polizeibehörde, als erster spricht.«

Doxford aber hatte gar keine Eile, zu sprechen. Er wandte sich an Chaney, tauschte mit ihm im Flüsterton ein paar Worte und sah dann Lord Cheverdale an, ohne Paley zu beachten.

»Bevor wir etwas berichten, würden wir gern ein paar Minuten unter vier Augen mit Euer Lordschaft sprechen.«

Hätte Doxford von Seiner Lordschaft die Hälfte seines Besitzes verlangt, sein Wunsch hätte kaum eine größere Überraschung hervorrufen können. Lord Cheverdale stutzte sichtlich, seine Tochter glotzte, der unbekannte Mann lächelte, und Paley wandte sich mit einem unangenehmen Blick zu dem Detektiv.

»Dafür liegt kein Grund vor . . .« begann er.

»Das können wohl am besten wir beurteilen, Sir«, unterbrach ihn Doxford »Wir bitten um eine kurze Privatunterredung mit Lord Cheverdale. Andernfalls . . .«

»Ja, was ist . . . andernfalls?« fragte Paley spöttisch.

»Daß wir andernfalls niemandem Bericht erstatten, außer unserem Vorgesetzten«, antwortete Doxford ruhig.

»Sie scheinen ja . . .« begann Paley.

Aber Lord Cheverdale war aus seiner Teilnahmslosigkeit erwacht. Er hieß seinen Sekretär schweigen und wandte sich an Doxford. »Was wollen Sie von mir, Mister . . . ich weiß Ihren Namen nicht«, sagte er mürrisch. »Was wollen Sie denn?«

»Mein Name ist Doxford, Mylord, Inspektor Doxford. Wir, mein Kollege, Detektiv-Sergeant Windover, und diese zwei Herren, Mr. Chaney und Mr. Camberwell, die Sie privat engagiert haben, möchten mit Euer Lordschaft ein paar Minuten unter vier Augen sprechen. Euer Lordschaft werden den Grund hierfür billigen, wenn Sie hören, was wir zu sagen haben, und warum wir es für nötig halten, diese Bitte an Sie zu richten.«

Bei den letzten Worten Doxfords ließ Paley einen leisen, spöttischen Zischlaut hören. Lord Cheverdale aber erhob sich jetzt von seinem Stuhl. Wortlos, mit ein paar ungeduldigen Hand- und Armbewegungen forderte er uns auf, unsere Plätze zu verlassen und ihm zu einer Tür am unteren Ende des Zimmers zu folgen. Wie Schafe trieb er uns vor sich her; auf einen Wink von ihm öffnete einer von uns die Tür. Dann trieb er uns in einen kleineren, rückwärts gelegenen Raum.

Als die Tür sich hinter uns geschlossen hatte, wandte er sich mit einem verdrießlichen Blick zu Doxford: »Also los, los . . . was ist denn?« fragte er. »Bin nicht gewohnt, in dieser Weise herumkommandiert zu werden, verstanden? Sehe keine Notwendigkeit für diese Geheimnistuerei . . .«

»Mylord«, sagte Doxford, »hier handelt es sich um einen Mordfall! Wir sind Polizeibeamte! Also haben wir zu beurteilen, ob es notwendig ist, Ihnen gewisse Fragen vorzulegen. Wir möchten jetzt eine offene Frage an Eure Lordschaft richten: Wissen Euer Lordschaft, ob irgendein Streit zwischen dem toten Mr. Hannington und Ihrem Privatsekretär Mr. Paley vorgekommen ist? Wir müssen das wissen!«

Es war leicht zu merken, daß gerade diese Frage Lord Cheverdale äußerst überraschend kam. Er warf die Arme hoch und zuckte nachdrücklichst die Achseln. »O nein, nein, nein, nein!« erklärte er. »Nein, und nochmals nein! Einfach lächerlich! Nichts dergleichen. Keinerlei Unstimmigkeit, keinerlei Ursache dazu! Nebenbei bemerkt, ist mein Sekretär ein Mann von allerhöchster Redlichkeit – was Miß Hetherley auch genau weiß – überhaupt ein ausgezeichneter Mann. Lächerlich!«

Doxford warf Chaney einen Blick zu, den dieser erwiderte. Dann wandte sich Doxford zur Tür.

»Mylord«, sagte er ruhig. »Ich bedaure, Euer Lordschaft behelligt zu haben. Euer Lordschaft wünscht jetzt Bericht über den weiteren Verlauf der Dinge?«

Lord Cheverdale, dem sein Sieg den Gleichmut wiedergegeben hatte, geleitete uns in das Morgenzimmer zurück und nahm seinen Platz wieder ein.

»Ja, ja«, sagte er. »Ich möchte wissen, wie Sie vorwärtskommen, was Sie unternehmen, was Sie von der Sache halten und so weiter. Ich bat Sie auch absichtlich hierher, damit Sie hören, was mein Geschäftsdirektor . . .«, hier wendete er sich um und wies auf den Mann, der uns bisher fremd gewesen war –, »Mr. Francis Craye, Ihnen sagen kann – und was meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Aber lassen Sie erst hören, was Sie uns mitzuteilen halben, Mr. . . . wie? . . . Ach ja: Doxford; vielleicht . . .«

Doxford brachte klar und kurz vor, was er zu sagen hatte. In seinem Bericht erwähnte er Miß Hetherley, die zum drittenmal heute vormittag ihre Geschichte von der geheimnisvollen Frau wiederholen mußte – eine Geschichte, die ihre neue Zuhörerschaft offensichtlich überraschte.

Nachdem Lord Cheverdale alles gehört hatte, fragte er Doxford: »Glauben Sie nach allem, Herr Inspektor, daß Mr. Hannington verfolgt wurde?«

»Verfolgt . . . oder aufgelauert, Mylord!«

»Aufgelauert . . . auf meinem Besitz?«

»Das ist schon möglich, Mylord; er wurde ja tot auf Ihrem Grundstück gefunden!«

Lord Cheverdale wandte sich zu Mr. Craye.

»Ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen, diesen Herren mitzuteilen, was Sie uns vorhin gesagt haben«, meinte er. »Mr. Craye war gestern abend einer meiner Gäste; er verließ mein Haus zu Fuß . . . aber Mr. Craye wird Ihnen besser selbst erzählen, was er mir berichtete, als er von dem Mord gehört hatte.«

Mr. Craye lächelte, als wollte er seine Wichtigkeit als Zeuge entschuldigen. »Da ist wirklich nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Immerhin mag es einen Zusammenhang mit dem Verbrechen haben, dem Sie nachspüren. Gestern abend war ich, wie Seine Lordschaft Ihnen bereits erzählt hat, hier als Gast zum Abendessen. Die anderen Gäste fuhren zusammen in einem Wagen, der einem von ihnen gehörte, fort. Da es eine schöne, mondhelle Nacht war, dachte ich, zu Fuß nach Hause zu gehen.«

»Wo wohnen Sie denn, Mr. Craye?« fragte Doxford.

»Ich habe eine Wohnung in Whitehall Gardens«, antwortete Craye. Er hielt inne, als erwarte er eine weitere Frage. Als keine kam, fuhr er fort: »Ich ging also, nachdem ich das Haus verlassen hatte, zu Fuß den Fahrweg zu dem Tor, das in den Inner-Circle führt . . .«

»Sie waren ganz allein?« fragte Doxford. »Keiner der anderen Gäste war mit Ihnen?«

»Keiner war mit mir. Als ich mich zum Inner-Circle wendete, sah ich dicht beim Eingang zu diesem Grundstück zwei Männer. Sie standen dort zwischen den beiden Toren, dem von Lord Cheverdales Besitz und dem von Bedford College. Sie gingen auf und ab und waren sichtlich in ein Gespräch vertieft. Als ich sie das erstemal sah, waren sie etwa zwanzig Meter von mir entfernt und gingen von mir weg. Plötzlich kehrten sie um und kamen auf mich zu. Als sie dann dicht bei mir waren, kehrten sie wieder um. Sie gingen langsam und gemächlich. Ich ging ganz dicht an Ihnen vorbei; sie sprachen hastig in irgendeiner fremden Sprache. Welche Sprache es war, weiß ich nicht . . . mir sind verschiedene fremde Sprachen vertraut, französisch, deutsch, spanisch, italienisch; es war aber keine von diesen Sprachen. Nach den wenigen, sehr schnell gesprochenen Worten, die ich hörte, schien es mir eine slawische Sprache zu sein, vielleicht russisch.«

Lord Cheverdale nickte und seufzte tief. Er blickte unverwandt auf Doxford. Doxford zeigte keinerlei Teilnahme, er beobachtete Mr. Craye.

»Ja«, sagte Doxford. »Und?«

»Das ist ungefähr alles«, antwortete Mr. Craye. »Ich ging weiter und sah mich nach einer Weile um. Die beiden Männer gingen immer noch auf und ab.«

»Dort, wo Sie sie verlassen hatten?«

»Ja, wo ich sie verlassen hatte.«

»Ganz dicht bei dem Tor von Lord Cheverdales Besitz?«

»Ganz dicht bei dem Tor.«

»Fiel es Ihnen nicht als recht merkwürdig auf, daß zwei Männer, die Sie doch offenbar für Ausländer hielten . . .«

»Ich hielt sie allerdings dafür . . .«

»Als recht merkwürdig also, daß die beiden im Inner-Circle von Regents Park in einer kalten Winternacht auf und ab gingen?«

»Deswegen sah ich mich ja auch um.«

»War noch jemand in der Nähe?«

»Ich sah niemanden.«

»Keinen Polizisten?«

»Ich sah einen Polizisten erst, als ich in den Außen-Circle bei York Gate einbog.«

»Haben Sie ihm mitgeteilt, was Sie gesehen haben?«

»Nein, das tat ich nicht, es schien mir nicht von solcher Wichtigkeit. Es war mir ja bekannt«, fuhr Craye fort, »daß in den Bezirken zu beiden Seiten von Regents Park öfter Ausländer gesehen werden; ich nahm also an, daß der eine von diesen Männern im Osten, der andere im Westen wohnte, daß sie ein wenig plauderten, bevor sie sich wieder trennten, und daß es nichts weiter auf sich hatte. Wirklich, ich hatte die ganze Sache schon fast vergessen – bis ich dann hörte, was gestern abend in Cheverdale-Haus geschehen war. Da kam ich sofort her und erzählte Lord Cheverdale den Vorfall.«

»Können Sie die Männer beschreiben, Mr. Craye?«

»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Sie waren von ungefähr mittlerer Größe, vielleicht etwas kleiner. Eher schwächlich gebaut. Beide trugen schwarze Anzüge, wie sie ein bestimmter Typ von Ausländern . . .«

»Welcher Typ von Ausländern?« fragte Doxford.

»Oh, ich dachte dabei an die fremde Bevölkerung von Eastend; Sie werden schon wissen, was ich meine – die Leute mit den schwarzen Röcken! Beide Männer trugen ziemlich lange, schwarze Überröcke – länger, als die gegenwärtige Mode ist. Beide hatten den Hals bis zum Kinn tüchtig eingemummelt.«

»Würden Sie die beiden oder einen von beiden wiedererkennen?« fragte Chaney. Aber Craye schüttelte mit entschiedener Verneinung den Kopf.

»Nein, das würde ich bestimmt nicht! Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß sie scharf kehrtmachten, als ich in ihre Nähe kam; sie kehrten auch ebenso scharf wieder um, als ich an ihnen vorbeiging. Ich hatte kaum einen richtigen Eindruck von ihren Gesichtern. Ich glaube, sie waren dunkel und blaß. Aber ich könnte es nicht beschwören, Wirklich nicht!«

Doxford rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf. »Schade«, meinte er. »Wir haben kein Glück! Miß Hetherley sah einen Mann, kann aber nicht darauf schwören, daß sie ihn wiedererkennen würde; Mr. Craye sah zwei Männer und ist sicher, daß er sie nicht wiedererkennt!«

»Ich sagte, ich könnte nicht darauf schwören, könnte sie nicht mit Bestimmtheit wiedererkennen«, unterbrach ihn Craye. »Aber ich könnte mir schon etwas dabei denken, wenn ich zwei Männer sehe . . .«

»Hm«, machte Doxford. Er wendete sich zu Lord Cheverdale. »Wünschen Euer Lordschaft noch etwas zu wissen?«

»Ich möchte wissen, zu welchen Schlüssen Sie gekommen sind«, erwiderte Lord Cheverdale kurz angebunden. »Sie haben soeben gehört . . .«

»Euer Lordschaft werden entschuldigen«, unterbrach ihn Doxford. »Aber wir haben bis jetzt nichts gehört, was uns berechtigt, zu irgendwelchen Schlüssen zu kommen, und ich glaube sagen zu können, daß es wahrscheinlich noch etwas dauern wird, bis es soweit ist. Im Augenblick können wir nur sagen, daß Mr. Hannington gestern nacht auf Euer Lordschaft Grundstück von jemandem ermordet worden ist. Warum? Was war der Beweggrund für den Mörder? Wir können nichts darüber sagen. Wir wissen nichts!«

»Natürlich haben wir unsere Vermutungen«, bemerkte Windover. »Ich jedenfalls habe meine Ansicht.«

»So, so!« eiferte Lord Cheverdale. »Und was ist Ihre Ansicht?«

»Wie ich gehört habe, ist Mr. Hannington gegen diese Burschen von Bolschewiken in der ›Morning Sentinel‹ zu Feld gezogen«, erwiderte Windover. »Ich nehme nun an, Mylord, daß die Frau, die gestern Hannington aufsuchte, ihm in dieser Angelegenheit wichtiges Material brachte. Ich glaube, man folgte ihr. Ich glaube, auch Hannington wurde verfolgt – oder noch wahrscheinlicher: man lauerte ihm auf! Ich glaube weiter, daß die in Frage stehenden Leute annahmen, daß er diese Papiere hierher bringen werde . . .«

»Sehr genial, wirklich sehr genial!« murmelte Lord Cheverdale. »Und höchst wahrscheinlich! – Erzählen Sie weiter«

»Und daß zwei von ihnen, wahrscheinlich die beiden, die Mr. Craye hier herumlungern sah, auf ihn warteten«, fuhr Windover fort, »und daß sie ihn wegen dieser Papiere auf Euer Lordschaft Besitz umbrachten. Das scheint mir festzustehen. Alle seine Wertsachen fanden sich unberührt bei ihm – aber er hatte keine Papiere bei sich. Wie wir wissen, war er gewohnt, seine Taschen damit vollzustopfen. Was muß man also daraus folgern?«

»Bewundernswürdige Schlußfolgerung«, sagte Lord Cheverdale. »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Sind Sie nicht der Meinung Ihres Kollegen?« fragte er, indem er sich plötzlich zu Doxford wendete. »Sehr richtige Schlußfolgerung . . . ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Ich bin weder derselben, noch entgegengesetzter Ansicht, Mylord«, erwiderte Doxford.

»Und Sie?« fragte Lord Cheverdale und heftete seine Augen auf Chaney. »Was sagen Sie? Was sagen Sie – Mr. Chaney, nicht wahr? Ich habe schon von Ihnen gehört.«

»Ich sage, Mylord, daß ich es im Augenblick vorziehe, nichts zu sagen«, antwortete Chaney. »Diese Geschichte hat vor gerade zwölf Stunden begonnen. Wir sind noch nicht halb durch das erste Kapitel durch!«

»Aber, aber – es muß doch etwas geschehen!« erklärte Seine Lordschaft. »Wir müssen etwas unternehmen! Kann jemand einen Vorschlag machen?«

»Ich schlage vor, daß wir uns auf die Suche nach dieser Frau machen«, sagte Chaney. »Wenn es uns gelingt . . .«

In diesem Augenblick betrat der pompöse Haushofmeister das Zimmer. »Am Telefon wünscht jemand Inspektor Doxford zu sprechen«, meldete er. »Von Scotland Yard.«

Doxford ging ohne viel Umstände aus dem Zimmer und war in drei Minuten wieder zurück.

»Die erste Nachricht durch die Zeitung«, berichtete er, als er seinen Platz wieder eingenommen hatte. »Ein Taxi-Schofför hat sich gemeldet, der aussagt, daß er gestern nacht einen Herrn von Whitehall nach Regents Park gefahren hat. Ich habe Auftrag gegeben, den Schofför hierher zu bringen, Mylord.«

»Sehr richtig, sehr richtig!« murmelte Lord Cheverdale.

Die Unterhaltung wurde, während wir warteten, allgemein – das heißt, Lord Cheverdale, Windover, Doxford und Chaney beteiligten sich daran. Paley aber zeichnete Figuren und Gesichter auf einen Löschblock und wechselte gelegentlich ein geflüstertes Wort mit Craye; was Miß Chever anbetrifft, tat sie nichts weiter, als einen nach dem anderen von uns anzustarren. Ihr leerer Ausdruck, ihre hervortretenden Augen und geöffneten Lippen überzeugten mich, daß die geistigen Fähigkeiten ihres Vaters auf sie nicht übergegangen waren. Und doch wollte Craye, dieser kluge, elegante, gebildete Mann, sie heiraten!

Jetzt erschien, von dem Diener Harris angemeldet, ein junger Detektiv-Beamter, der einen Schofför hereinführte. Doxford nahm ihn gleich in Arbeit.

»Sie waren in Scotland Yard, um Angaben zu machen?«

»Ja, ich war dort; ich hatte nämlich gestern nacht einen Herrn hierher gefahren.«

»Was heißt hierher?«

»Hier, zwischen Cheverdale-Haus und dem College, ein bißchen weiter unten hat er mich halten lassen.«

»Was für ein Mann war das?«

»Tja, Sir, ich würde sagen, er war so um die Vierzig herum – ein Herr mit einem Bart – dunklem Mantel und so einem grauen Hut.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Ja, Sir, das würde ich.«

»Wo ist er eingestiegen?«

»White Hall, Sir – gerade gegenüber den Horse Guards.«

»Haben Sie gesehen, woher er kam?«

»Nein, Sir, er stand an der Bordschwelle, und ich sah nur, wie er mir winkte, näher zu kommen.«

»Um welche Zeit war das?«

»Gerade um zehn Uhr, Sir.«

»Und er sagte Ihnen, Sie sollten ihn hierher fahren?«

»Ja, Sir, hierher zum Inner-Circle durch York Gate. Er würde mir schon sagen, wo ich halten sollte. Er tat es dann an der angegebenen Stelle.«

»Und wieviel Zeit brauchten Sie bis hierher?«

»Na, eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten!«

»Haben Sie irgend jemanden in der Nähe des Inner-Circle gesehen, als Sie dort waren?«

»Nein, ich habe keine Menschenseele gesehen.«

»Was hat der Herr gemacht, als er ausstieg?«

»Er ging direkt auf dieses Tor zu.«

»Haben Sie gesehen, wie er hineinging?«

»Nein, Sir. Ich wendete gerade meinen Wagen.«

In diesem Augenblick wurde Doxford noch einmal zum Telefon gerufen. Als er zurückkam, schien seine Schläfrigkeit verschwunden:

»Ich bringe eine sehr ernste Nachricht: eine Frau ist in einer Wohnung in Westend ermordet aufgefunden worden. Und nach den bisher gemeldeten Nachrichten, besteht wohl kaum ein Zweifel, daß es die Frau ist, die gestern Mr. Hannington besucht hat.«

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