Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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7

Jetzt erklärte Miß Hetherley, daß sie genug Schrecken über sich habe ergehen lassen müssen, uns übrigens durch ihr Bleiben nichts mehr nützen könne, und verließ uns. Wir vier, Chaney, ich, Doxford und einer der Scotland-Yard-Leute, den wir bei unserer Ankunft in der Wohnung vorgefunden hatten, gingen ins Erdgeschoß hinunter. Vor der Tür der Wohnung der getöteten Frau zeigte der Scotland-Yard-Mann auf die benachbarte Wohnung.

»Die ist leer«, sagte er. »Folglich war dort niemand, der etwas gehört haben könnte. Und die Leute in den beiden Wohnungen unmittelbar darunter«, fuhr er fort, als wir die Steintreppe hinabstiegen, »haben auch nichts gehört. Niemand im Haus hat etwas gehört. Ebensowenig hat jemand von der ganzen Sache etwas gesehen. Der Mann muß völlig unbeobachtet hinein- und herausgekommen sein.«

»Wenn es ein Mann war!« bemerkte Chaney.

Der Scotland-Yard-Mann schien überrascht. »Es sieht nicht aus wie Frauenarbeit«, sagte er. »Eine Frau! Ich bitte Sie!«

»Es gibt solche und solche . . .« erwiderte Chaney. »Übrigens wollten wir doch jetzt die Portiersfrau im Kellergeschoß aufsuchen.«

Das Kellergeschoß war ebenso eingeteilt wie die oberen Wohnungen: ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Im Wohnzimmer fanden wir die Portiersfrau, die sich gerade in Gesellschaft einer durch unser Kommen anscheinend erschreckten, neugierigen Nachbarin mit Tee stärkte.

Der Scotland-Yard-Mann wußte bereits ihren Namen: »Mrs. Goodge?«

Mrs. Goodge war eine zart gebaute Frau von mittlerem Alter und sah aus, als ob sie beständig im Kampf mit dem Leben läge, ohne Aussicht, je auf einen grünen Zweig zu kommen. Es war etwas wie stille Ergebung in ihr Schicksal in ihrem ganzen Wesen.

»Ja, das bin ich, Sir«, antwortete sie ruhig.

»Wir sind Polizeibeamte, Mrs. Goodge«, sagte der Scotland-Yard-Mann. Dann warf er einen Blick auf die Nachbarin. »Eine Freundin von Ihnen?«

»Meine nächste Nachbarin, Sir, Mrs. Marrable. Sie ist Portiersfrau im Haus nebenan.«

»Weiß Mrs. Marrable etwas von dieser Sache?« fragte der Beamte.

»Ich? Nein . . .« beteuerte Mrs. Marrable eifrig. »Ich weiß davon nicht mehr als ein neugeborenes Kind, nur, was mir Mrs. Goodge . . .«

»Dann können Sie gehen. Mrs. Marrable«, unterbrach sie unser Wortführer. »Wir haben mit Mrs. Goodge zu sprechen.«

Mrs. Marrable ging, anscheinend noch wißbegieriger als zuvor. Der Mann von Scotland Yard schloß die Tür hinter ihr und flüsterte Doxford etwas zu. Doxford forderte Mrs. Goodge auf, sich zu setzen und fuhr mit seinen Fragen fort.

»Machen Sie sich's doch bequem, und trinken Sie ruhig Ihren Tee weiter«, ermunterte er sie. »Wir möchten nur ein paar Fragen an Sie richten, Mrs. Goodge. Was wissen Sie von dem Vorfall in Nummer zwölf?«

»Ich, Sir? Nichts, Sir! Nicht mehr als . . .«

»Was wissen Sie von der verstorbenen Frau? Sagen Sie uns, bitte, alles, was Sie wissen!«

»Was ich weiß, Sir, ist folgendes: Zwei oder drei von diesen Wohnungen sind möbliert und werden möbliert vermietet. Vor etwa vierzehn Tagen, es kann auch schon drei Wochen her sein, brachte Mr. Morty, der Agent, der die Wohnungen hier vermietet, diese arme Dame hierher und zeigte ihr Nummer zwölf, die frei stand. Nachher kam er zu mir herunter und sagte mir, daß sie gemietet habe. Sie sagte, sie werde am Nachmittag einziehen, – na, und sie kam auch wirklich mit ihrem Gepäck. Viel hatte sie ja nicht . . . in der Hauptsache war's ein Koffer und ein Stadtkoffer. Und dann hat sie sich hier eingerichtet. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, Sir.«

»So; Sie müssen doch noch viel mehr wissen, Mrs. Goodge! Wie hieß sie denn?«

»Mrs. Clayton war der Name, den sie mir angab; aber ich habe von dem Tag an, wo sie herkam, bis gestern rein gar nichts von ihr gesehen. Sie lebte ganz zurückgezogen – wirklich!«

»Haben Sie nicht für sie gekocht?«

»Nein, Sir; jede Küche in diesen Wohnungen hat einen Gaskocher, und wenn sie zu Hause aß, machte sie sich alles selber. Aber ich glaube, sie ging immer mittags und abends zum Essen aus.«

»Haben Sie nie bei ihr sauber gemacht?«

»Einmal in der Woche brachte ich ihre Zimmer in Ordnung, sonst machte sie alles selber. Es war ja auch nur wenig zutun.«

»Hat sie nicht manchmal mit Ihnen gesprochen?«

»Nicht viel, Sir; gerade ein paar Worte, wenn ich bei ihr sauber machte.«

»Was war sie denn, Engländerin oder Französin?«

»Sie sprach englisch mit mir, Sir – genau so, wie Sie und ich sprechen. Aber es war kein Londoner Englisch.«

»Kein Londoner Englisch? So? Was für Englisch war es denn? Was glauben Sie?«

»Ja, Sir, sie sprach wie die Leute, die aus dem Norden Englands kommen, wie Leute aus Yorkshire und Lancashire, Sir. Ich habe zu meiner Zeit oft so sprechen hören.«

»Also eine Frau aus dem Norden, nicht wahr? Hat sie nie erwähnt, woher sie kam?«

»Sie hat mir nie etwas von sich gesagt, Sir – überhaupt nichts.«

»Sie haben also keine Ahnung, woher sie kam, als sie hier einzog?«

»Doch, Sir; ich habe mir selbst einen Vers zurechtgemacht. Ich habe doch Augen im Kopf, genau wie andere Leute, und ich habe doch gesehen, daß auf ihrem Koffer und auf ihrem Stadtkoffer französische Zettel klebten. Deshalb dachte ich mir, daß sie von Frankreich gekommen ist.«

»Und Sie haben sie nie französisch sprechen hören?«

»Nein, Sir, ich habe sie ja niemals zu jemand anderem als zu mir sprechen hören, und es hätte keinen Zweck gehabt, zu mir französisch zu sprechen . . . ich verstehe ja kein Wort von dieser Sprache.«

»Schön – hatte sie jemals Besuch?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir. Die Leute, die hier in diesen Etagen wohnen, können Besucher und Gäste dutzendweise haben, ohne daß ich es weiß. Die Haustür ist immer offen, und die Leute brauchen nur herein und die Treppe hinauf zu gehen, zu welcher Nummer sie wollen. Ich habe zwar nie etwas davon gehört, aber es mag sein, daß sie Besuch hatte.«

»Wie steht es mit Briefen? Wie wird das gehandhabt?«

»Genau so wie mit den Besuchen, Sir. Der Briefträger bringt die Briefe in jede Etage, und so macht es auch der Telegrafenbote, wenn ein Telegramm kommt.«

»Dann steht die Sache also so, Mrs. Goodge: Sie wissen tatsächlich nichts von der Toten, außer was Sie uns schon gesagt haben?«

»So ist es, Sir. Ich weiß nichts von ihr, gar nichts!«

Doxford sah Chaney an. Und Chaney, der aufmerksam Mrs. Goodges Erzählung zugehört hatte, antwortete auf diesen Blick, indem er sich ins Gespräch mischte.

»Wissen Sie etwas von gestern nacht, Mrs. Goodge?« fragte er. »Können Sie uns etwas über gestern nacht sagen? Es muß nicht über die Tote sein, aber können Sie mir etwas sagen, was gestern nacht geschah und Ihnen irgendwie außergewöhnlich vorkam? Irgend etwas! War vielleicht eine auffallende Person, hier in der Nähe . . . verstehen Sie . . . oder, na?«

Mrs. Goodge sah den neuen Fragesteller scharf an. Sie blickte Chaney offen und ehrlich ins Gesicht; als sie seine Frage beantwortete, war ein neuer Ton in ihrer Stimme, ihre ganze Haltung schien verändert.

»O ja, mir war schon etwas aufgefallen«, sagte sie.

»Wirklich?« antwortete Chaney erfreut. »War etwas Außergewöhnliches passiert, Mrs. Goodge? Was denn?«

Mrs. Goodge sah uns einen nach dem andern an. In ihrem suchenden Blick lag wieder etwas wie Scheu. »Ja, sehen Sie, Sir«, erwiderte sie und ließ ihren Blick auf Chaney haften. »Gestern abend hatte ich, was man so ›Ausgang‹ nennt; ich kann Ihnen sagen, das passiert mir nicht oft, aber einmal muß der Mensch doch auch seine Freude haben.«

»Sehr richtig, Mrs. Goodge, sehr wahr«, stimmte Chaney bei. »Sie waren also in der Nacht aus, nicht wahr? Sie waren zu der Zeit nicht hier?«

»Nein. Es war sehr spät gestern nacht, oder – wenn Sie wollen: sehr früh heute morgen, als ich nach Hause kam«, antwortete Mrs. Goodge. »Die Sache war so, Sir, daß meine Tochter, die sehr gut verheiratet ist und oben in Hampstead Roadway wohnt, mich aufgefordert hatte, mit ihr in eine Vorstellung zu gehen, in ein Stück in Marlborough-Theater, was sie gerne sehen wollte. Sie hat nämlich eine Vorliebe fürs Theater, obwohl ihr Mann in der Öl- und Farbenbranche ist. Vor der Vorstellung gingen wir noch Tee trinken – und so war ich von fünf Uhr nachmittags an vom Hause hier weg.«

»Schön – und wie lange, Mrs. Goodge?« fragte Chaney geduldig.

Mrs. Goodge überlegte. »Ja, das kann ich nun nicht auf die Minute genau sagen«, antwortete sie. »Aber es kann gegen zwei Uhr morgens gewesen sein, was für mich sehr spät ist; aber es kommt natürlich alle Jubeljahre einmal vor, und wie gesagt; einmal muß doch jeder Mensch . . .«

»Sagen wir also: zwischen ein und zwei Uhr heute morgen«, unterbrach Chaney. »Oder gegen zwei Uhr . . .«

»Was der Sache näher käme, Sir«, sagte Mrs, Goodge. »Dreiviertel zwei stimmt auf jeden Fall – denn Sie müssen wissen, wie wir aus dem Theater kommen, möchte meine Tochter, daß ich mit ihr nach Hause gehe und mit ihr einen Bissen zu Abend esse. Und natürlich waren ein paar Nachbarinnen da, und man kommt ins Schwatzen und so . . . und es war schon nach eins, als ihr Mann mich zu dem letzten Omnibus brachte, der dort vorbeifährt. Das Haus liegt nämlich in Hamilton Street und ist nicht so weit und . . .«

»Also dreiviertel zwei war es, Mrs. Goodge«, sagte Chaney, »als Sie zurückkamen, nicht wahr? Und dann geschah etwas, ja?«

Mrs. Goodge gab dem Fragesteller einen Blick, der ihre Bewunderung für diesen durchdringenden Verstand ausdrückte.

»Ja, gerade um die Zeit war es, Sir«, antwortete sie ohne Scheu. »Sehen Sie, ich war gerade die Hälfte der Treppe hinunter, die zum Kellergeschoß führt, gerade um die Ecke des ersten Treppenabsatzes, da höre ich jemanden sacht und schnell die Treppe von den Wohnungen herunterkommen; ich guckte natürlich um die Ecke nach ihm aus.«

»Na und?« sagte Chaney. »Da sahen Sie?«

»Ich sah einen Mann«, antwortete Mrs. Goodge. »Zum mindesten sah ich den Rücken eines Mannes. Er ging gerade zur Haustür hinaus. Natürlich war er im nächsten Augenblick verschwunden.«

»O weh, o weh!« rief Chaney aus. »Bloß seinen Rücken haben Sie gesehen?«

»Gerade noch seinen Rücken, Sir, und nichts weiter!« stimmte Mrs. Goodge zu. »Wirklich nicht mehr!«

»Na schön – und was für ein Mann war das?« fragte Chaney einigermaßen enttäuscht. »Groß, klein, fett, mager?«

»Ich würde ihn so ungefähr mittelgroß nennen«, antwortete Mrs. Goodge. »Weder groß noch klein, weder dick noch mager, nach seiner Figur zu schließen. Aber ich habe mehr von seinem Anzug gesehen als von ihm selber.«

»Von seinem Anzug? Wie war er denn angezogen?«

»Schwarz«, antwortete Mrs. Goodge. »Er hatte einen schwarzen Überzieher und so einen schwarzen Schlapphut, wie die Schauspieler und Musiker gerne tragen, und einen großen, weißen Schal um den Hals; das war aber auch alles, was ich von ihm, von seiner Rückseite gesehen habe.«

»Und Sie haben ihn nie vorher in der Nähe der Wohnung gesehen, Mr. Goodge?« fragte Chaney.

»Nein, darauf schwöre ich jeden Eid, daß ich ihn dort nie gesehen habe, Sir«, beteuerte Mrs. Goodge. »Das kann ich dreist beschwören!«

Doxford mischte sich jetzt ein.

»Waren Sie nicht überrascht, daß jemand um diese Zeit noch aus dem Haus ging? Es war doch beinahe schon zwei Uhr morgens?«

»Ganz und gar nicht, Sir«, erwiderte Mrs. Goodge prompt. »Im Haus hier sind zwölf verschiedene Wohnungen, von denen allerdings eine – Nummer elf – zur Zeit leer steht. In diesen elf Wohnungen leben alle möglichen Leute. In Nummer fünf ist ein Künstler; er und seine Freunde nehmen's mit der Zeit nicht so genau. Dann sind einige junge Schauspielerinnen da, die nicht gerne früh aufstehen, und wenn sie – was oft passiert – Freunde mit nach Haus bringen, dann machen sie die Nacht zum Tage, wie man zu sagen pflegt. Andere wieder . . .«

»Es war also nichts Ungewöhnliches, daß Sie einen Mann um zwei Uhr morgens das Haus verlassen sahen?« unterbrach Doxford.

»Ganz und gar nicht, Sir«, erwiderte Mrs. Goodge. »Ich habe das ja auch nicht behauptet; ich habe nur gesagt, daß etwas vorgefallen ist. Aber es schien mir wirklich nicht so etwas Besonderes. Ich schlief ruhig darüber ein, das können Sie mir glauben. Sonderbar war nur, daß ich nicht wußte, wie dieser Mann in Schwarz wirklich aussah. Seinen Kleidern nach hielt ich ihn für einen Ausländer. Einige von den Leuten, die hierher zu Besuch und als Gäste kommen, kenne ich vom Sehen. Da sind so ein paar junge Leute, die manchmal zu unsern jungen Damen zu Besuch kommen – ja, die kenne ich selbstverständlich, wenn ich auch nicht weiß, wie sie heißen.«

»Aber gerade diesen Mann mit dem schwarzen Rock, dem schwarzen Schlapphut und dem weißen Schal haben Sie nie vorher gesehen?« fragte Doxford. »Stimmt's?«

»Ja, Sir!« antwortete Mrs. Goodge. »Möglich, daß er früher schon mal hier gewesen ist, aber gesehen habe ich ihn noch nie!«

Doxford sah Chaney an, der sich in sein Notizbuch Aufzeichnungen machte. Sie begannen leise miteinander zu sprechen. Der Mann von Scotland Yard, der Mrs. Goodge ruhig zugehört hatte, wandte sich wieder zu ihr.

»Über eine Sache wüßte ich gerne noch Bescheid, Mrs. Goodge. Ist diese Haustür, durch die Sie den Mann verschwinden sahen, nachts niemals abgeschlossen?«

Mrs. Goodge preßte ihre dünnen Lippen aufeinander und antwortete nicht.

»Sollte sie nicht eigentlich abgeschlossen werden?« fuhr der Beamte fort. »Sagen Sie es doch.«

Mrs. Goodge schüttelte den Kopf. »Allerdings sollte sie das, Sir«, gab sie zu. »Ich hatte die Weisung, sie um zwölf Uhr abzuschließen, weil jeder Wohnungsinhaber einen Schlüssel zur Türe hat. Aber wissen Sie, all die Leute, besonders die jungen Schauspieldämchen, vergessen immer ihren Schlüssel und holen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bett. Und so lasse ich die Tür schon seit langem offen. Ich habe nur Scherereien, wenn ich sie abschließe.«

Doxford und Chaney standen auf. Doxford wendete sich zu Mrs. Goodge.

»Ja, danke schön«, sagte er. »Wir möchten jetzt als nächsten Mr. Morty, den Agenten, aufsuchen. Wie ist seine Adresse?«

Mrs. Goodge gab uns bereitwilligst Mr. Mortys Adresse in Great Portland Street; Doxford, Chaney und ich gingen sofort los, um ihn kennen zu lernen. Der Mann von Scotland Yard blieb in Little Custom Street, um einige weitere Erhebungen zu machen. Mr. Morty, ein harmloser, nichtssagender Mensch, hatte, obwohl er von der Mordstelle nur einen Steinwurf entfernt war, vom Mord noch nichts gehört und war ehrlich erschrocken, als wir ihm davon erzählten. Aber als wir ihn fragten, was er von der Toten wüßte, spreizte er die Finger auseinander und schüttelte den Kopf.

»Nichts, meine werten Herren!« rief er aus. »Absolut nichts, nicht mehr, als Sie selber wissen.«

»Vielleicht doch ein bißchen mehr«, meinte Doxford. »Sie haben ihr doch die Wohnung vermietet.«

Mr. Morty spreizte wieder seine Finger. »Sie haben recht, etwas mehr weiß ich durch meinen Beruf«, gab er zu. »Aber das zählt ja kaum. Sie kam eines Morgens her und fragte nach einer möblierten Wohnung. So vermietete ich ihr eine.«

»Aber doch nicht, ohne vorher zu verhandeln«, sagte Doxford. »Sie brachten sie doch nach Little Custom Street 39, um dort Nummer 12 erst zu besichtigen, nicht wahr?««

»Ja, das tat ich natürlich«, stimmte Mr. Morty zu. »Das gehört zu meinem Geschäft. Ich brachte sie selbst dorthin, sie sah sich die Wohnung an, die ihr zusagte; dann kam sie hierher zurück und zahlte die Miete für einen Monat voraus. Was natürlich«, schloß er und spreizte die Finger noch mehr, »rein geschäftsmäßig vor sich ging.«

»Nannte sie Ihnen bei dieser Gelegenheit nicht ihren Namen?« fragte Doxford.

Mr. Morty griff nach einem Buch, das auf seinem Schreibtisch lag, und blätterte darin.

»Mrs. Clayton – das ist der Name, den sie angab«, antwortete er. »Ich hätte mich nicht daran erinnert, wenn Sie mich nicht danach gefragt hätten. Diese Leute sind für mich Mieter, nichts weiter als Mieter! Ich kann nicht alle ihre Namen behalten!«

»Hat sie Ihnen gesagt, woher sie kam?« fragte Doxford.

»Sie erwähnte es nicht besonders«, antwortete Mr. Morty. »Da fällt mir aber ein, daß sie sagte, sie sei wegen Geschäften vom Kontinent herübergekommen. Aber das ging mich natürlich nichts an.«

»Haben Sie nicht Erkundigungen eingezogen?« fragte Doxford.

Mr. Morty sah Doxford ins Gesicht, als wolle er ihn fragen, wo er aufgewachsen sei. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß sie die Miete für einen Monat vorausbezahlt hat?« antwortete er. »Da brauchte ich doch keine Erkundigungen.«

»Haben Sie sie wiedergesehen, nachdem sie die Wohnung gemietet hatte?« fragte Doxford hartnäckig weiter. »Ich meine, in der Wohnung oder in Ihrem Büro?«

»Weder hier noch dort, mein werter Herr!« antwortete Mr. Morty. »Aber ich sah sie eines Abends, es ist noch nicht lange her – allerdings nicht geschäftlich.«

»Wie denn sonst?« fragte Doxford.

»Es war bei Ricasoli, unten in der Straße«, antwortete Mr. Morty; »das ist ein Restaurant, wie Sie wissen. Ich ging dorthin zum Essen, da ich an dem Abend sehr lange in meinem Büro bleiben mußte. Sie war dort.«

»Was tat sie da?« fragte Doxford.

»Sie aß zu Abend«, antwortete Mr. Morty.

»Allein?«

»Allein, soviel ich weiß.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Nein, sie grüßte mich, als ich vorüberging, und ich grüßte wieder. Warum sollte ich mit ihr sprechen? Geschäftlich hatte ich ihr nichts zu sagen. Unser Geschäft war erledigt bis zum Ende des Monats.«

Doxford sah Chaney an, als wollte er ihn auffordern, weiter zu fragen, und Chaney sprang ein.

»Wie ist es mit diesen Wohnungen in Little Custom Street, Mr. Morty?« sagte er. »Sind Sie für die Verwaltung verantwortlich?«

»Das bin ich nicht, werter Herr«, antwortete Mr. Morty. »Meine Aufgabe ist nur, sie zu vermieten und die Mieten einzukassieren.

»Wer ist denn dann für die Verwaltung verantwortlich?« fragte Chaney.

»Die Portiersfrau Mrs. Goodge«, sagte Morty, »die Wohnungen sind in ihrer Obhut, nicht in meiner.«

»Aber Mrs. Goodge hatte doch sicher ihre Weisungen?« fragte Chaney. »Wohl auch bezüglich der Haustür und Eingangstür?«

Mr. Morty spreizte die Finger wieder weit auseinander; es war erstaunlich, welche Skala von Gemütsbewegungen er mit diesen weißen, fetten Händen ausdrücken konnte.

»Mrs. Goodge ist wegen dieser Haustür ein dutzendmal verwarnt worden!« rief er ärgerlich aus. »Sie hatte Weisung, die Tür jeden Abend zur bestimmten Stunde abzuschließen, da jeder Mieter im Haus einen Schlüssel hat. Aber Mrs. Goodge sagt, daß die Leute immer ihre Schlüssel vergessen oder verlieren, oder gar herumliegen lassen, und daß sie dann herausgeläutet wird. Natürlich läßt die Frau die Tür dann offen! Ich denke, das tat sie auch gestern abend, und der Mörder ging einfach hinein und die Treppe hinauf. Sicher war es so. Ja, es tut mir leid, daß ich da nicht dienen kann, meine Herren; wie sieht's denn in der Wohnung aus? Wir hatten sie eben erst so nett herrichten lassen.«

Wir verließen Mr. Morty und gingen in die Great Portland Street. Doxford sah auf die Uhr, der Zeiger wies fast auf zwei.

»Ich habe meine Schläfrigkeit überwunden, aber ich sterbe vor Hunger«, sagte er. »Wir wollen zu Ricasoli gehen und frühstücken. Vielleicht hören wir auch dort etwas über diese Frau. Kann sein, daß sie öfter dort gewesen ist.«

Ricasoli war ein typisches italienisches Kaffeerestaurant. Wir frühstückten und fühlten uns berechtigt, nachher bei Kaffee und Zigarren etwas zu verschnaufen. Nach einiger Zeit baten wir den Geschäftsführer an unsern Tisch und sagten ihm im Vertrauen, was wir wissen wollten. Er war ein kluger, aufmerksamer Bursche, der sich uns sofort von Nutzen erwies.

»O, ich kenne die Dame, von der Sie sprechen«, sagte er. »Eine angenehme, recht hübsche Frau. Sie kam jeden Abend in den letzten Wochen hierher zum Essen. Ich selbst habe – außer ein paar höflichen Worten – nicht weiter mit ihr gesprochen. Sie saß immer am gleichen Tisch, dort drüben im Alkoven. Aber vielleicht weiß Marco etwas. – Marco!« Er winkte einen Kellner herbei und wendete sich wieder zu uns. »Marco hat diese Dame immer bedient«, sagte er. »Vielleicht erklären Sie ihm . . .«

Wir setzten Marco, einem olivenfarbigen, schwarzäugigen Produkt Toskanas, unsere Wünsche auseinander; Marco verstand sofort.

»Sie war gestern abend hier, meine Herren«, sagte Marco. »Gestern kam sie ein bißchen spät, etwa um halb acht; sonst immer um sieben Uhr.«

»Hat sie überhaupt mit Ihnen gesprochen?« fragte Chaney.

»Wie es eben die Gäste so tun«, antwortete Marco, »Ab und zu mal . . . so bei Gelegenheit.«

»Sprach sie englisch?« fragte Chaney.

»Nein, sie sprach französisch mit mir, aber . . .« Marco schüttelte seinen glatt gescheitelten Kopf – »mit englischem Akzent. Nicht wie eine Französin sprechen würde . . . sie wußte wohl eine Menge Worte, hatte einen reichen Wortschatz, aber die Aussprache – nein! Die war englisch!«

»Warum sprach sie mit Ihnen französisch?«

Marco zuckte die Achseln: »Erstens dachte sie, ich sei Franzose . . . Provenzale . . .«

»Dabei sind Sie gar keiner – nicht wahr?«

»Ich bin aus Florenz, meine Herren.«

»Sie sprach also nur französisch mit Ihnen . . . warum?«

»Ich spreche auch französisch, genau wie englisch. Vielleicht wollte sie sich üben. Manche Leute tun das.«

Chaney schlug jetzt ein anderes Thema an. »Schön; Sie erinnern sich ja an diese Dame sehr gut«, sagte er. »Sie kam also in den letzten Wochen regelmäßig jeden Abend zum Essen her. Kam sie immer allein?«

Marco beantwortete diese Frage sofort: »Immer allein. Nur einmal kam sie mit einem Herrn.«

»Ah, mit einem Herrn? Wann war das?«

»Etwa vor einer Woche.«

»Können Sie ihn beschreiben?«

»Er war Franzose – sie sprachen die ganze Zeit französisch. Ich hörte, wie sie Nizza, Monte Carlo, Mentone erwähnten.«

»Wenn Sie können, beschreiben Sie ihn doch. Sagen Sie uns, wie er aussah.«

»Es war ein Herr von etwa vierzig Jahren. Ungefähr mittelgroß, dunkel, Schnurrbart und Backenbart, gut aussehend.«

»Gut angezogen.«

»Ja, recht gut. Schwarzer Rock, schwarze Weste, gestreifte Beinkleider. Dunkler, vielleicht schwarzer Mantel. Nichts Auffallendes. Ein Mann mit guten Manieren, vielleicht ein Kaufmann.«

»Schienen sie gute Freunde zu sein?«

»Oh ja, alte Freunde vielleicht!«

»Waren sie verliebt?«

»Oh nein, gute, alte Freunde; was man so sagt: Kameraden.«

»Wer bezahlte das Essen an dem Abend?«

»Er bezahlte.«

»Gingen sie zusammen weg?«

»Ja, sie saßen nach dem Essen noch eine Weile, rauchten und unterhielten sich. Dann gingen sie zusammen weg.«

»Haben Sie den Mann jemals vorher gesehen?«

»Oh nein, dieses eine Mal nur.«

»Sprach sie mal von ihm, als sie wiederkam?«

»Nein, nie, sie erwähnte kein Wort.«

Nach alledem schienen weitere Fragen unnötig, aber Doxford gab sich doch noch nicht zufrieden. »Hat diese Dame Ihnen gesagt, woher sie kam?« fragte er.

Marco zögerte, sichtlich in seiner Erinnerung suchend: »Nicht ausdrücklich«, antwortete er. »Aber sie kannte Paris und sie kannte Monte Carlo. Sehen Sie, ich bin in beiden Orten als Kellner gewesen. So . . .«

»Aha, ein gemeinsamer Gesprächsstoff für Sie«, sagte Doxford.

Er stand auf und wir folgten seinem Beispiel. Dann gingen wir wieder auf die Straße hinaus. Dort nahmen wir nach kurzer Besprechung alle drei ein Auto und fuhren nach Cheverdale-Haus zurück.

 


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