Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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2

Wir tranken schnell unseren Tee und waren ein Viertel nach acht Uhr schon im Auto auf dem Weg nach Cheverdale-Haus. Ich wußte also nichts oder so gut wie nichts über Lord Cheverdale, die »Morning Sentinel« und Mr. Thomas Hannington, Chaney dagegen augenscheinlich eine ganze Menge. Er fing an, mir zu berichten, als wir rasch durch die erwachende Stadt fuhren, die noch trübe im Dunst des Februarmorgens lag.

»Also Lord Cheverdale«, sagte Chaney. »Ja, seine Geschichte ist ein richtiger Roman – sie ist übrigens sehr bekannt. Er hieß früher einfach John Chever. Ich habe erzählen hören, er sei ursprünglich ein kleiner Gewürz- und Delikatessenhändler in irgendeiner Stadt der Midlands gewesen. Nun, eines Tages bekam er Witterung, daß mit Tee viel Geld zu verdienen sei. Es gelangen ihm glückliche Spekulationen mit Teeaktien. Dann machte er hier in London ein riesiges Teegeschäft auf – haben Sie nie von Chevers Tee gehört?«

»Ich kenne weder Namen noch Firmen von Teesorten«, antwortete ich. »Ich weiß nur zu unterscheiden, was guter und was schlechter Tee ist.«

»Also Chevers Tee ist in der ganzen Welt bekannt«, fuhr Chaney fort. »Riesige Geschäftshäuser, Büros und dergleichen mehr. John Chever machte sich mit Tee ein Vermögen. Dann wurde er ehrgeizig – der normale Verlauf! Er kam ins Parlament, wurde geadelt, weil er Spenden für Krankenhäuser gemacht hatte, und wurde Baron, weil er Spenden für Sanatorien gemacht hatte. Dann kam der große Krieg – Chever leistete auf allen möglichen Gebieten Hervorragendes. Und nach zwei weiteren Jahren war der nette, einfache John Chever verwandelt in John, den ersten Baron Cheverdale. Aber vorher hatte er noch die ›Morning Sentinel‹ gegründet – um dem britischen Publikum seine Ansichten vor Augen halten zu können. Er ist etwas verdreht, ein Schwärmer, sehr einfach und bescheiden – kein Alkohol, keine Wetten. Der Mann, den er sich als Redakteur genommen hat, Hannington, der nun ermordet sein soll, war ganz nach seinem Herzen. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet, als ich noch in Scotland Yard war; er war noch mehr Idealist als sein Arbeitgeber. Irgendeine Schrulle hatte er immer im Kopf. Immer war er begeistert für dies oder jenes. Seltsam, daß er gerade auf Lord Cheverdales Grund und Boden umgebracht wurde . . .«

»Und kein Anhaltspunkt!« warf ich ein.

»So sagt Paley«, erwiderte Chaney mit einem Räuspern. »Aber ich gebe wenig auf das, was Paley sagt. Unsere Aufgabe ist es, einen Anhaltspunkt zu finden. Da fällt mir schon etwas ein, bevor ich noch die Einzelheiten dieses Falles kenne.«

»Wirklich?« fragte ich.

»Hannington«, fuhr Chaney fort, »war ursprünglich Reporter und dann zweiter Redakteur beim ›Milthwaite Observer‹. Er gehörte zu den Leuten, die sich Feinde machten – das Los von Sonderlingen und Schwärmern. Er zog gegen eine Reihe von Dingen zu Felde und geißelte als Mißbrauch, was andere Leute ›gute Kapitalsanlage‹ nannten. Er war ein fanatisches Mitglied von Mäßigkeitsvereinen. Während der letzten Kriegsjahre machte er sich sehr unbeliebt. Er griff auch den Friedensvertrag an; und neulich – wenn Sie die ›Morning Sentinel‹ lesen, werden Sie bemerkt haben . . .«

»Ich lese sie nicht«, unterbrach ich ihn, »ich kenne sie nur vom Hörensagen.«

»Na, es ist zwar ein schrecklich sittenreines und braves Blättchen«, meinte Chaney. »Aber eines ist nicht zu leugnen: Hannington hatte dort neuerdings die bolschewistische Regierung mit aller Schärfe angegriffen. Er kannte nun einmal keine Kompromisse. Natürlich deckte ihn Lord Cheverdale, der seine Ansichten teilte. Es sollte mich also nicht wundern, wenn es sich hier um einen politischen Mord handelt! Aber da sind wir ja schon bei Cheverdale-Haus.«

Man erreicht Cheverdale-Haus vom Inner-Circle des Regents Park. Ein weitläufiges Herrenhaus im Georgianischen Stil, eingebettet zwischen mächtigen Bäumen, umgeben von ausgedehnten Rasenflächen, die mit kleineren Bäumen und Gesträuch so dicht bepflanzt waren, daß man das Haus erst sehen konnte, wenn man davorstand. Zu dem Haus gelangte man auf einem Fahrweg, der sich durch die Parkflächen und Rasenplätze wand. Von dem Hauptweg zweigten nach verschiedenen Richtungen andere Wege ab. Wir ließen unseren Schofför im Inner-Circle auf uns warten und gingen auf dem Hauptfahrweg zum Haus; im Vorbeigehen bemerkte ich zwischen dem Gesträuch auf der rechten Seite den Helm eines Polizisten und machte Chaney darauf aufmerksam.

»Zweifellos die Mordstelle«, meinte er. »Man hat sie wohl schon abgesperrt und eine Wache davorgestellt. Aber darüber werden wir ja gleich hören.«

Paley erwartete uns an der Haustür; als er uns erblickte, drehte er sich um und winkte jemanden aus der Halle herbei. Ein jung aussehender Diener trat heraus.

»Das ist der Mann«, sagte Paley, als wir herankamen, »der die Leiche von Mr. Hannington gefunden hat, – Harris, einer unserer Diener. Wollen Sie ihn zuerst befragen, oder wollen Sie erst die Stelle besichtigen, an der die Leiche gefunden wurde?«

»Wir wollen uns zuerst diesen Ort ansehen, Mr. Paley, und dann mit Harris sprechen«, antwortete Chaney.

Paley wandte sich an den Diener: »Zeigen Sie Mr. Chaney und Mr. Camberwell, wo Sie Mr. Hanningtons Leiche fanden, und berichten Sie alles Nähere darüber«, sagte er. »Ich kann mich Ihnen leider nicht widmen«, fügte er hinzu. »Lord Cheverdale ist von dem Vorfall so angegriffen, daß er heute morgen nicht arbeiten kann, darum habe ich an seiner Stelle einiges zu erledigen. Aber ich soll Ihnen die Wünsche Seiner Lordschaft mitteilen. Sie möchten hier nachforschen, wo und bei wem Sie wollen; wenn Sie hier fertig sind, wünscht Lord Cheverdale, daß Sie das Büro der ›Morning Sentinel‹ aufsuchen, um dort Nachforschungen anzustellen. Er ist überzeugt, daß dort und nicht hier bedeutsame Feststellungen gemacht werden können. Hier sind ein paar Visitenkarten Lord Cheverdales; wenn Sie diese vorzeigen, wird Ihnen in den Büros jede Erleichterung gewährt werden. Später am Tag, wenn Lord Cheverdale sich besser fühlt, würde er gerne von Ihnen und von den Beamten von Scotland Yard hören, wie Sie die ganze Angelegenheit beurteilen. Das wäre im Augenblick alles.«

Er entließ uns mit einer Handbewegung; Harris forderte uns höflich auf, ihm zu folgen, und wir entfernten uns schweigend, etwas eingeschüchtert durch die diktatorische Art des Privatsekretärs. Der Diener führte uns von dem Fahrweg auf einen schmalen, asphaltierten Seitenweg, der sich in Windungen durch das Strauchwerk zog, und trafen auf einen Schutzmann, der müßig einen etwa zwei Quadratmeter großen, eingefriedeten Fleck vor sich betrachtete. Hier blieb der Diener stehen.

»Das ist die Stelle«, sagte er und zeigte auf die Einfriedigung. »Hier lag er.«

Natürlich war nichts zu sehen als die zwei Quadratmeter Asphaltfläche. Chaney sah nach dem Polizisten, der uns prüfend betrachtete.

»Wozu ist das hier mit Stricken abgesperrt?« fragte Chaney den Polizisten.

Der Mann schüttelte seinen behelmten Kopf, »Befehl«, sagte er. »Wollen es wohl nach Fußspuren untersuchen.«

»Sehr wahrscheinlich, ausgerechnet auf Asphalt Fußspuren zu finden«, meinte Chaney ironisch. »Ebensogut könnte man erwarten, Fußspuren von einer Biene oder Fliege zu finden – Also Sie fanden ihn?« wandte er sich zum Diener.

»Jawohl, Sir.«

»Berichten Sie uns, bei welcher Gelegenheit Sie ihn fanden.«

»Das kam so: Ich hatte letzten Abend Ausgang und bin im Theater gewesen. Ich ging dann zu Fuß nach Hause. Ich kam diesen Weg entlang . . .«

»Einen Moment!« unterbrach Chaney. »Diesen Weg, sagen Sie? Wie kommt man auf diesen Weg? Ich meine, wenn man von draußen kommt?«

»Vom Inner-Circle her; dort ist nämlich eine kleine Tür in der Hecke. Der Weg ist eine Abkürzung vom Inner-Circle zum Haus.«

»Viel benutzt?«

»Die meisten Leute, die zu Fuß kommen, benutzen ihn.«

»Ob Mr. Hannington ihn wohl kannte?«

»O ja, Sir, Mr. Hannington kannte ihn ganz genau.«

»Schön, erzählen Sie weiter!« sagte Chaney.

»Ich ging also diesen Weg entlang«, wiederholte Harris. »Wie ich hierher kam, sah ich vor mir einen Menschen liegen; er lag mit dem Gesicht nach unten. Ich befühlte ihn sofort – er war noch nicht ganz kalt. Ja – und dann – dann lief ich ins Haus, Sir, und weckte sie.«

»Weckte wen?« fragte Chaney.

»Mr. Paley war der einzige, der noch auf war. Er las in der Bibliothek. Ich berichtete ihm. Er sagte mir, ich solle Walker, den Kammerdiener, und Smittson, den zweiten Diener, wecken. Als sie dann herunterkamen, gingen wir zusammen hierher zurück. Ich wußte noch nicht, wer der Tote war, und erst als wir zurückkamen, sah ich, daß es Mr. Hannington war.«

»Schön; und was geschah dann?« fragte Chaney.

»Mr. Paley telefonierte nach der Polizei, Sir. Die ließ nicht lange auf sich warten, und als sie kam, nahm sie sogleich alles in die Hand.«

Chaney sah nach dem Polizisten, der ruhig zuhörte.

»Waren Sie einer von den telefonisch hergerufenen Polizisten?« fragte er.

»Nein, Sir, ich hatte erst seit heute morgen hier Dienst«, erwiderte der Polizist. »Als ich hier postiert wurde, war nichts mehr zu sehen als dies da!« Er zeigte auf die Seile und Pfähle.

Chaney wandte sich nochmals an Harris: »Um welche Zeit fanden Sie die Leiche?« fragte er.

»Kurz nach zwölf, Sir. Jedenfalls zwischen zwölf und zwölf Uhr zehn.«

»Wissen Sie, ob Mr. Hannington Lord Cheverdale besucht hatte?«

»Ja, Sir, das weiß ich. Er hat ihn nicht besucht. Mr. Walker, der Kammerdiener, machte eine Bemerkung darüber. Er sagte, Mr. Hannington wäre nicht hier gewesen, aber wohl auf dem Weg hierher, als er überfallen wurde.«

»Waren Sie zugegen, als die Polizei kam, Harris? So, Sie waren dabei? Hörten Sie, wie jemand über das Vorgefallene sprach?«

»Ja, Sir, ich hörte, wie einer – ein Inspektor, glaube ich sagte, daß es kein Raubmord sei, denn Mr. Hannington hatte noch Uhr und Kette sowie einen wertvollen Ring, den ihm Lord Cheverdale geschenkt hatte, und eine beträchtliche Summe bares Geld bei sich. Dagegen fanden sich keinerlei Papiere in seinen Taschen, und ich hörte, wie Mr. Paley zur Polizei sagte, daß das höchst verdächtig sei, denn Mr. Hannington hatte stets seine Taschen mit Papieren vollgestopft.«

»Hat einer von Ihnen etwas Verdächtiges gehört?« fragte Chaney.

»Nein, Sir, keiner hat etwas gehört. Von hier bis zum Haus ist es ja auch ein hübsches Stück Weg.«

Wir wandten uns automatisch dem Haus zu, das man gerade durch die Bäume sehen konnte. Als wir uns umdrehten, sahen wir eine Dame mit drei Hunden langsam auf uns zukommen. Wir traten etwas zurück, und ich konnte sie mir genauer ansehen. Eine große Frau mit eckigen Bewegungen, ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, mit einem nicht gerade geistvollen Gesicht. Besonders auffallend waren ihre unschöne Nase, die vorstehenden Zähne und ihre starren, hellblauen Augen. Sie trug ein Schneiderkostüm mit sehr großen Karos nach Herrenschnitt, dazu eine Sportkrawatte; in der Hand hatte sie eine Hundepeitsche. Sie sah mehr für einen Ausflug aufs Land ausgerüstet aus als für einen Spaziergang im Regents Park. Als sie herankam, starrte sie uns einen nach dem andern an und wandte sich dann an den Polizisten.

»Gibt es etwas Neues?« fragte sie hastig.

»Nein, Miß, nichts Neues«, antwortete der Polizist.

»Merkwürdig . . . höchst merkwürdig!«

Dann ging sie weiter.

Chaney aber wandte sich an Harris: »Lord Cheverdales Tochter, nicht wahr? Miß Chever?«

»Jawohl, Sir«, antwortete der Diener. »Seiner Gnaden einziges Kind.«

Chaney stellte keine weiteren Fragen. Wir gingen langsam den asphaltierten Weg zurück, bis wir auf den Fahrweg unmittelbar vor dem Haus kamen. Hier wandte er sich zu mir: »Ich denke, wir fahren jetzt zum Büro der ›Morning Sentinel‹. Hier ist nichts mehr zu besichtigen . . . im Augenblick wenigstens. Vielen Dank, Harris.«

Als wir uns vom Haus entfernten, wurde dort ein Fenster aufgerissen. Paley lehnte sich heraus.

»Mr. Chamberwell, Mr. Chaney!« rief er. »Ich vergaß ganz, Ihnen zu sagen – wenn Sie ins Büro der ›Morning Sentinel‹ kommen, fragen Sie doch nach Miß Hetherley – zuerst nach Miß Hetherley.«

 


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