Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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10

Bevor noch Miß Hetherley den Briefumschlag öffnen konnte, streckte Chaney die Hand danach aus und nahm ihn an sich.

»Wir wollen doch genau und vorsichtig sein, Miß Hetherley«, sagte er. »Sind Sie denn auch sicher, daß diese Anfangsbuchstaben von der Hand des verstorbenen Mr. Hannington geschrieben sind?«

»Daran ist kein Zweifel«, erwiderte Miß Hetherley. »Natürlich sind sie das.«

»Und ist es auch das Datum, an dem die geheimnisvolle Dame, die wir als Mrs. Clayton kennen, ihn besuchte?«

»Auch daran ist kein Zweifel, Mr. Chaney.«

»Also gut«, fuhr Chaney fort. »Jetzt wollen wir sehen, was der Umschlag enthält.«

Er nahm sein Taschenmesser, schlitzte damit den Umschlag auf und zog ein dreimal gefaltetes Papier heraus. Ein kurzer Blick darauf, dann zeigte er es uns. Eine »Heiratsurkunde!« rief er aus. »Sehen Sie doch!«

Miß Hetherley und ich beugten uns über seine Schulter und prüften das Dokument. Es war wirklich, wie er sagte, eine Heiratsurkunde über die Ehe eines gewissen Frank Crowther mit einer gewissen Alice Holroyd, die vor zwölf Jahren vor dem Standesbeamten in Milthwaite, Yorkshire, geschlossen worden war.

»Da haben wir's!« sagte Chaney. »Nach meiner Meinung ist das der Trauschein der Toten, die später den Namen ›Mrs. Clayton‹ annahm. Beachten Sie bitte gewisse Zusammenhänge. Alice Holroyd, großjährig, wird hier als unverheiratet angegeben; als ihre Adresse ist Hotel Engel, Milthwaite, genannt, vielleicht war sie die Tochter des Besitzers. Frank Crowther, neunundzwanzig Jahre, ist als Verkäufer angegeben; seine Adresse lautet: 21, Laburnum Grove, Milthwaite. Schön, nehmen wir an, daß Alice Holroyd oder Mrs. Crowther und Mrs. Clayton ein und dieselbe Person ist – wer aber ist Frank Crowther? Und wo ist er? Und warum hinterlegte Mrs. Clayton oder Crowther bei Mr. Hannington dieses Dokument?«

Miß Hetherley nahm die Heiratsurkunde und las sie noch einmal genau durch. Dann legte sie sie wieder auf den Schreibtisch von Chaney zurück.

»Da fällt mir etwas ein«, sagte sie. »Manchmal sprach Mr. Hannington über seine Erfahrungen als Journalist. Er war früher einmal – ich weiß leider nicht mehr, wann – zweiter Redakteur beim ›Milthwaite Observer‹.«

»Aha!« rief Chaney triumphierend aus. »Da haben wir's! Mrs. Clayton oder Crowther und Hannington waren also alte Freunde oder Bekannte. Deshalb kam sie zu ihm. Aber zu welchem Zweck kam sie? Warum ließ sie diese Heiratsurkunde bei ihm? Camberwell«, fuhr er fort, »die Theorie, daß es sich hier um ein politisches Verbrechen handelt, wackelt. Das war gemeiner Mord, besser gesagt: Doppelmord, der aus privatem Interesse geschah. Das ist jedenfalls meine Meinung, nachdem ich diese Urkunde gesehen habe.«

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Miß Hetherley.

»Tun?« antwortete Chaney. »Nun, fürs erste wollen wir drei, Sie, Camberwell und ich, uns gegenseitig Stillschweigen geloben. Unverbrüchliches Schweigen! Zu keinem Menschen ein Wort über diese Urkunde, nicht zur Polizei, nicht zu Lord Cheverdale, nicht zu Paley, zu keiner Seele. Wir wollen sie in diesen Geldschrank einschließen, vorher aber eine genaue Abschrift davon machen, und niemand soll wissen, daß Sie das Papier fanden, bis der Augenblick gekommen ist. Können wir uns auf Sie verlassen?«

»Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Chaney«, erwiderte Miß Hetherley. »Sie kennen mich doch!«

Sie ging bald darauf. Wir machten dann eine genaue Abschrift der Urkunde, die ich in unserm Bürostahlschrank einschloß.

»Was jetzt?« fragte ich Chaney.

»Als nächstes wollen wir nach Milthwaite fahren, Camberwell. Milthwaite, mein Junge, ist der Ort, von dem aus wir unsere Entdeckungsreise beginnen wollen. Wir müssen wissen, wer Alice Holroyd, wer Frank Crowther war, und ob Alice Holroyd-Crowther identisch ist mit Mrs. Clayton, die in Little Custom Street ermordet wurde, und wo ihr Ehemann hingekommen ist. Unverzüglich auf nach Milthwaite! Aber vorher müssen wir noch Lord Cheverdale sprechen; denken Sie immer daran, daß wir uns genau überlegen müssen, was wir ihm sagen. Überlassen Sie das Reden mir. Und jetzt wollen wir gleich gehen und ihn aufsuchen.«

Wir nahmen ein Auto und fuhren nach Cheverdale-Haus. Wir hatten Glück und trafen Lord Cheverdale allein. Paley war endlich einmal nicht zu sehen. Lord Cheverdale schien erfreut, fast erleichtert über unser Kommen.

»Bringen Sie Neues?« fragte er begierig. »Diese Leute von Scotland Yard haben nichts Neues – überhaupt nichts bis jetzt! Langsame, sehr langsame Leute das! Aber haben Sie wenigstens Neuigkeiten?«

»Nun Mylord, diese Sachen brauchen eben Zeit. Und Eure Lordschaft werden verstehen, daß man nicht immer gleich Entscheidendes sagen kann. Aber wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir eine schwache Spur gefunden haben, die wir noch für uns behalten und mit Euer Lordschaft Genehmigung weiter verfolgen möchten.«

»Oh, meine Zustimmung haben Sie!« erwiderte Lord Cheverdale eilig. »Ja, ja, ganz bestimmt. Tun Sie alles, was Sie für nötig halten. Carte blanche, verstehen Sie?«

»Euer Lordschaft sehr verbunden«, sagte Chaney. »Der Plan, den wir vorhaben, wird verschiedene Reisen notwendig machen – vielleicht müssen wir über den Kanal. Euer Lordschaft erinnert sich wohl, daß angenommen wird, die Tote sei aus Frankreich gekommen?«

Lord Cheverdale streckte die Arme mit einer schnellen Bewegung aus: »Fahren Sie nach Norden, fahren Sie nach Süden« rief er, »fahren Sie, wohin Sie wollen – nach Ost, West, Nord oder Süd. Nur haben Sie Erfolg – das ist das einzige, was ich verlange.«

»Wir werden nichts unversucht lassen, Mylord«, sagte Chaney. »Euer Lordschaft verstehen aber, daß wir Ausgaben haben werden . . .«

Wieder streckte Lord Cheverdale die Arme aus: »Scheuen Sie keine Ausgaben«, sagte er. »Die Ausgaben spielen keine Rolle! Wenn Sie Geld brauchen, sagen Sie es Paley. Er wird es Ihnen geben!«

»Wir brauchen kein Geld, Mylord«, antwortete Chaney. »Das kann in Ordnung gebracht werden, wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben; wir wollen nun mit unserm Plan ans Werk gehen, und wir hoffen, Euer Lordschaft bald Neues berichten zu können.«

»Sehr gut, sehr gut! Tüchtige Leute«, murmelte Lord Cheverdale. »Ja, ja, gehen Sie ans Werk! Das ist die Hauptsache. Klären Sie alles auf – alles. Sorgen Sie dafür, daß es sich lohnt.«

Wir verließen Cheverdale-Haus, weil in unserem Büro noch manches zu erledigen war, ehe wir nach Milthwaite fahren konnten. Aber Chippendale hatte ja schon bewiesen, daß er ein ausgezeichneter und fähiger Helfer war, und wir hatten volles Vertrauen, daß er den ihm gestellten Aufgaben nachkommen würde. So konnten wir noch am frühen Abend unsere Reise nach dem Norden antreten und waren schon um zehn Uhr im Midland-Hotel von Milthwaite glücklich untergebracht. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, besprachen wir unsere weiteren Pläne; Chaney wünschte ganz besonders, daß alles so geheim wie möglich behandelt werde. Auf seinen Rat besuchten wir zuerst den Standesbeamten. Als wir dort vorgelassen wurden, zeigte es sich, daß uns das Glück günstig war. Der Standesbeamte war ein schon ältlicher Herr, also aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Beamte, der bei der Trauung von Alice Holroyd und Frank Crowther vor zwölf Jahren seines Amtes gewaltet hatte.

 


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