Heinrich Federer
Unter südlichen Sonnen und Menschen
Heinrich Federer

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine Woche verging ohne Piso.

Mala suchte allein zu lesen. Benedikts heilige Schwester Scholastika trat jetzt auf den Plan. Das paßte der Buchbinderin nun gerade nicht. Schon der Name erkältete sie. Mala griff wieder zur Santa Teresa-Novelle. Aber wie sie den Deckel nur berührte, schrak sie auch gleich wieder zurück. Sie fühlte die Vorwürfe dieser entsagungsvollen Blätter voraus.

Endlich bat sie Piso durch die Schwestern demütig, doch wieder einmal zu kommen. Aber der Förster hatte seine hartnäckige Politik, so sehr sie ihm selber ins Fleisch schnitt. Er verhärtete seine Miene. Sie möge warten.

Übrigens paßte ihm das Waldleben, wie er gar nicht geglaubt hätte. Da konnte er sich mit seiner zehrenden Liebe herumschlagen, niemand grinste ihm ins Gesicht oder plagte ihn mit Fragen. Aber er konnte auch mit zwei, drei treuen Gespanen das Elend zu vergessen suchen. Es war schön, von morgens bis abends da oben im grünen Geheimnis der Tannen zu leben, ein Feuer anzumachen und daran einen Kessel voll Polenta zu kochen und Salat zu schneiden und den Krug herumgehen zu lassen und hoch über der grauen Alltäglichkeit fast feiertäglich zu plaudern. Lieder wurden gesungen, eine Ziehharmonika spielte, und dann und wann pfiff Piso schöner und dunkler als jede Nachtigall hinein.

Und er sollte nicht pfeifen, sogar fröhlich pfeifen dürfen, wenn man sah, wie alles gedieh, was gepflanzt worden, wie reinlich das Erarbeitete dastand, wie die Regenwasser bei den Wolkenbrüchen hübsch in den Gräblein zum Tiber hinunterschossen und wie Ziegen und Schafe die Setzlinge nicht mehr abnagen konnten, da dichte Dornhecken weitum gezogen wurden. Eher hörte man wieder die Vögel zwitschern und das Wild ward minder scheu. Ach, wie schnell versteht das Tier den Menschen!

Aber glücklich konnte Piso doch nicht werden. Diese Arbeit rettete ihn vor dem Verelenden, aber nicht vor dem Elend. Seinen Gram und Groll ließ er an denen aus, die ihm beim Holz und Wildfrevel in die Hände fielen. Zuerst ging man ja noch gemächlich mit den Gewohnheitssündern um. Einst hatte doch die ganze Stadt hierin gesündigt. Aber jetzt war ein neues Italien da, mit einem ganz neuen Gebiß. Die Zähne werden sich später schon abstumpfen, aber jetzt beißen sie scharf zu. Als daher der Drohfinger und selbst eine Tracht Prügel nicht viel halfen, einige dicke Bösewichte sogar grüne Bäume total schindeten und die Schutzhecken anzündeten, da mahnte die Behörde zur Strenge, und es wurden hohe Geldstrafen und langes Zuchthaus auf den Anschlägen verkündet. Pisos ohnehin düsteres Antlitz nahm einen unheimlichen, grausamen Ausdruck an. Er trug zwei Revolver im Gurt und hatte das beste Gewehr von den Brüdern Lossore geschultert. Stets gingen zwei, drei Gehilfen mit ihm.

Im Nest der Gesetzlosen wurde es merkwürdig still. Wochenlang sah und hörte man nichts Ungerades. Aber ehrliche Kameraden warnten Piso, die Sache nicht auf die Dolchspitze zu treiben, sonst könnte sie ihn zuerst stechen. Auch Maria Gagni, die frühere Magd der Golzi, wollte im Schmiedgäßlein Unheimliches gehört haben. Oberst Pigrino hingegen steifte dem jungen Beamten erst recht das Rückgrat. Nur jetzt nicht nachgeben, nicht um Nagelsbreite, sonst bricht der alte Schlendrian wieder herein und die Dinge werden ärger als vorher. Jetzt hat man Angst, gewöhnt sich an Zucht und dankt ihm später zehnmal lauter, als man ihn heute schimpft.

Piso lachte über die Gefahr. Und wenn auch ein Unheil käme und ihn niederschlüge, täte ihm das so furchtbar leid? Ihm, der am Herzen so arm ist, daß er im Tode nichts verlieren, eher gewinnen kann? Hatte er sich nicht wieder in Räusche stürzen wollen, nur um dieses Leben zu vergessen? O die ersten seligen Stunden der Trunkenheit! Aber nachher dieses stiere, blöde Versiechen! Nein, sterben ist besser. Da gibt es Ehre und Erlösung. Mögen die Meuchler nur kommen. Er wird sich rechtschaffen wehren wie im Krieg, nicht ums Leben, ums Recht. Er wird lachen, töten und sterben. So wird es gut sein. Die Mala, die schnöde, kalte, kleinliche, selbstsüchtige, sie soll ihn noch um sein Ende beneiden, wenn sie dazu noch genug Größe besitzt.

Aber eines Abends wollte er doch wieder zu ihr, der lieben Hexe, an ihrer Seite lesen, sie nahe haben, obwohl ihm nachher das Gemüt noch schwerer war. Sie bettelte ihn ja so dringend zu sich. Sie meinte, er sei noch ein Schulbub und habe genug daran, neben ihr zu hocken und ins gleiche Buch zu schauen wie in der Schulbank, die Närrin. Aber gehen wir, probieren wir es noch einmal!

Da saß der Canonico unter dem Tor seines Pfrundhauses, schnupfte und hielt ihm lächelnd von weitem die Dose hin.

So wenig diese Geste bedeutete: für Piso, der sich überall, wo Menschen waren, immer fremder machte, ganz wie ein Waldtier, war dieses gütige Zulächeln und warme Winken viel. Er saß neben den Priester hin, sog den Duft des schwarzen Habits ein, Weihrauch, Schnupf, dürres Obst und allverstehende Väterlichkeit. Und da schlüpfte ihm sozusagen die klare, nackte Seele auf die Zunge. Wie schlecht es ihm gehe, was für ein falsches, scheckiges Geschöpf diese Mala sei, wie er zum Säufer neige, nirgends Lichter sehe und darum das Leben am liebsten recht wütend verrauchen wolle.

Aber andere müßten solchen Essig auch trinken.

»Warum lacht Ihr, Reverendo?« murrte Piso bitter. »Ist das zum Lachen?«

»Santa Madonna, wenn das nicht zum Lachen ist. Da, schnupft und nießt den ganzen Unsinn heraus!«

Der junge Golzi wollte aufspringen und wegrennen.

»Schnupfe!«

Diesmal gebot der Canonico energisch, wie ein Arzt dem Kranken befiehlt: »Zeig' die Zunge! Huste!« – und dieser nicht anders kann als die Zunge zeigen und husten. Gleichzeitig zog er mit der bloßen Linken den Jüngling unwiderstehlich zu sich auf den Söller zurück. Piso schnupfte wirklich, nieste, fühlte sich etwas leichter und rückte näher.

»Glaubst du nicht,« fragte Don Massimo ruhig und blies den Tabak von der Brust, »daß unser Herrgott über dich und deinesgleichen lacht . . . aber höre! . . . zornig lacht, wie man über etwas Verkehrtes lacht, weil es so unvernünftig ist? Von solchem Lachen hör' ich viel in der Heiligen Schrift. Es ist eigentlich ein schreckliches Lachen.«

Piso rückte wieder etwas weg.

»Da hat der liebe Gott so viele Freuden für euch Jungens erschaffen. Und ihr tut wie blind und wollt von hunderten nur eine, die gerade nicht für dich blüht. Da ließ er so hübsche Jüngferchen wachsen und du siehst nur eine, die nicht für dich paßt, und siehst die andern nicht und rennst dir den Kopf ein. Nein, Piso, Pisello, da lach' ich.«

»Ach, Ihr, ein Geistlicher, was versteht Ihr davon, wenn man liebt!«

»Haben wir etwa einen Stein, da links unter der Weste?«

»Nein, aber . . .«

»Aber genau ein Herz wie ihr andern. Und mit diesem Herzen muß es sein wie mit einem gesunden Appetit, der an eine üppige Tafel tritt: Ich will Huhn! Da heißt es: Schon vergeben! – Und nun wäre da noch Kalbsbraten und Mortadella und Salami und Milkepastetchen und Pasta frolla und viererlei Käse. Aber ich will durchaus Hühnlein und marschiere zornig vom Tische und hungere. Gut, so verhungere, sagt der Herrgott und lacht seinen Zorn über dich Tölpel.«

Piso wollte auffahren.

»Und ich, donnert der Herr, ich bin dir nichts, ich, der Alleshabende, Ausgebende? Nur so ein Hühnlein . . . Du Knirps im Staub!«

»O Don Massimo!« seufzte der junge Serra.

»Glaub' mir, Kind, die Jungfer Mala Golzi ist nicht für dich . . .«

»Aber für Elvezio«, brauste Piso jäh auf.

»Ist überhaupt für niemand. Die hat für einen einzigen zu wenig Herz, aber zuviel für die vielen.«

»Ich verstehe nicht, Reverendo.«

»Sie kann nicht lieben, und das möchte doch der einzige, sie kann nur liebeln, was die Hundert und Tausend wollen. Verstehst du?«

»Ein wenig!« Tief ließ Piso den Kopf sinken.

»Ach,« ermutigte der Canonico und schüttelte geräuschvoll die schwarze Sutane, »das sind alles Menschlichkeiten, nicht einmal Sünden, und niemand stirbt daran. Aber eine Todsünde ist es, bei solchem Spiel und Genarr den Vater aller Liebe so ganz und gar zu vergessen. Gewiß betest du schon lange kein Paternoster mehr und stehst bei der Messe auf der Piazza.«

»O wenn ich wieder einmal in Ordnung wäre, dann wollt' ich ganze Rosenkränze . . .«

»Pst! Jetzt, jetzt,« wiederholte Don Massimo nachdrücklich, »jetzt, wo gerade Unordnung ist, mußt du beten. Schau', weil man in der Unordnung nicht betet, gibt es nie Ordnung.«

»Aber . . .«

»Kein aber! Man hebt die Klöster auf, man raubt dem Heiligen Vater den Kirchenstaat, man verspottet die Priester, schreibt Zeitungen ohne Glauben, der Katechismus . . .«

»Aber, Reverendo, was hat das mit Mala und mir zu tun?«

»Viel hat es zu tun. Du bist auch so ein neues kleines Italien. Jeder Mensch ist ein kleines Königreich. Und du hast auch solche Geschichten ohne Gott angefangen. Bet' jetzt nur ein schlichtes, tiefes Vaterunser. Da, falte die Hände, probieren wir!«

Sie saßen in der Dämmerung der kühlen Hausflur. Über die Domdächer woben Abendmücken und tiefgelbe Sonnenstrahlen einen goldigen Nebel. Kinder spielten das beliebte Quadrato, und ihre Glaskugeln klingelten nicht heller als ihre süßen Kehlen. Von der Stadt herauf summte der plauderhafte, spazierfrohe, pfeifende Feierabend.

Eine solche Minute hatte Piso seit Kindstagen nicht mehr erlebt. Unschuld und Himmelsschauer durchströmten ihn. Im Paternoster des Alten lag der Friede auf jedem Wort. Pisos schmutziges Abenteurergesicht wurde licht, in seine hastigen Augen trat Windstille, und seine dunkle Lippe bekam beim Nachbeten der großen Worte ein reines Rot, als hätten Engel alle niedrige Sinnlichkeit weggeküßt. Wie schön sah er jetzt aus!

Er zehrte noch von diesem Vaterunser auf dem Wege nach Hause. Er vertraute, der Himmelsvater, der alle seine Kinder liebe, führe ihn, stoße ihn von selbst zum Rechten.

Aber schon beim Anblick der Libreria begann der Zweifel, ob er doch noch hineingehen oder vorübergehen sollte. Davon stand nichts im Vaterunser.

Führe uns nicht in Versuchung! Ja, das schon. Aber welches war die Versuchung: das Vorbeigehen, wozu ihn ein süßer Trotz lockte, oder das Hineingehen, wonach sein Blut ihn trieb?

Er klopfte, was er früher nie getan, und trat gewaltsam ein. Sofort erkannte er, daß Malas Gesicht nicht aufjubelte, wie er nach ihrem Flehen erwarten durfte, sondern eher erschrak und ein Papier in die Brust schieben wollte. Es gelang ihr nicht mehr. Da faßte sie sich und legte den Brief aufs Tischchen. Wozu auch heimlich tun?

Aber sie war erregt und übersprudelte sich. Elvezio hatte wirklich geschrieben. »Welch wundervolle Schrift schon. Sieh nur selbst! Jeder Buchstabe ein Graf wie er selber. Und jeder Satz so kurz und vornehm. Lies . . . was sagst du dazu?«

Er stand da wie ein Stein. Eiskalt überlief es ihn. Don Massimo, Hühnchen, Vaterunser, alles war zerstoben. Seine Augen röteten sich.

›O‹, dachte Mala, ›wenn er jetzt nur eifersüchtig wird, wenn er mich in die Arme drückt und küßt und befiehlt: Schreibe ihm, daß es zu spät ist, daß wir zwei heiraten, in zwei, drei Wochen heiraten! Aber daß wir ihn wie gute Freunde grüßen.‹

Statt dessen keuchte Piso unheilvoll: »Lies du!«

Sie hielt das schöne Papier mit dem dalla Rocca-Wappen vor sich und ihn hin und las immer unsicherer: »Liebe Mala, ich bin nun solid in meiner großen Plantage eingebürgert. Alles gefällt mir, so neu es auch ist, oder gerade darum: das Leben, die Arbeit, der Lohn. Mir ist, ich sei ein anderer Mensch geworden, ein nützlicher, glaub' es nur, Kleine! Ich segne mein Schicksal, und zum vollen Glück fehlt mir nur noch eins, das Wichtigste, Du, Allerliebste. Komm! Ja, schreib schnell, daß Du kommst, und ich schicke Dir einen treuen Reisebegleiter. Laß nicht warten Deinen Elvezio dalla Rocca.«

In dieser Sekunde tat Mala einen Schrei und ließ das Blatt fallen. Piso hatte darauf gespuckt. Blut war dabei. Seine Lippen tropften noch vom Speichel.

Wie sie noch dastand, aus ihrer Buchbinderinnensanftmut auflodernd, gab er ihr einen groben Stoß vor die Brust und sagte mit wüstem Lachen: »Hurtig, stiefle dich! Ihr gehört zusammen, ihr Falschen. Mala heißest du und eine Schlechte bist du immer gewesen, Malissima!«

Sie hatte sagen wollen, daß dieser Brief sie nicht im mindesten verführe, daß sie nur ihn liebe, sie wisse es jetzt klar, daß sie nur ihn begehre . . . Ob er noch wolle, sogleich wolle? . . . Aber da spuckte er und traf noch ihre Finger. Das ging auch über ihre Buchbinderinnengeduld. Sie brachte nichts anderes hervor als: »Bestia! . . .« Und dann: »Fertig! Basta!«

Nie hat sie später gewußt, was sie eigentlich damit gemeint hat. Fertig mit Piso? Mit Elvezio? Mit allem? Oder fertig für heut abend, kein Wort mehr reden, genug! Sprechen wir uns aus, wenn wir ruhiger sind.

Freilich, sie hatte auch Bestia gesagt. Du Tier du! Aber was heißt das im Zorn und in unserm überschäumenden Italienisch?

Er aber verstand das Bestia und Fertig und schoß wirklich wie ein wildes Tier in die Nacht hinaus.

*

Von nun an tobte er sich im Walde aus. Manchmal betrank er sich wieder. Aber, potztausend, wie nüchtern war er bei Tag und Nacht, wenn es galt, den Schlichen der Frevler auf die Spur zu gehen, das Heimlichste dieser Bande zu belauschen. Es war dann schwer, ihn zu verstehen. Wer versteht den Donner? Und schwer, ihm zu folgen. Wer hält Schritt mit dem Blitz? Und Blitz und Donner schien er geworden; jede Woche gab es Schießerei und Hetze.

Mala war wie gebrochen seit jenem Abend. Zum erstenmal schob sie Messer und Falzbein trostlos von sich. Sie putzte den Brief, küßte ihn, bald für Elvezio, bald für Piso, und litt, wie ein einundzwanzigjähriges, etwas stubenhaftes, ein bißchen eingetrocknetes Jungferchen nur leiden kann. Oft stand sie auf dem Punkte, einzupacken und nach Amerika zu reisen.

Da geschah ein neues Abenteuer und gab dem krausen Gang des Schicksals endlich den letzten Bogen.

Eines Nachmittags begegnete Piso Serra dem alten dalla Rocca mit der Flinte, Pulverhorn und Patronen und mit zwei erlegten Fasanen tief hinten in Selvatorta, wie jener Waldteil damals noch hieß. Er hatte deutlich zwei Schüsse gehört, schlich der Fährte nach und stand nun so verdutzt da wie nicht einmal der gräfliche Wilderer.

Dalla Rocca hatte immer behauptet, das neue Reglement für niedere Flugjagd sei ungesetzlich. Spatzen und Finken und Amseln schieße er wenigstens, wann und wo er wolle, und wäre es an der Stumpfnase des neuen Königs vorbei. Überdem hätten die dalla Rocca stets Jagdprivilegien genossen. So mir nichts dir nichts könne man sie nicht wegblasen.

Nun aber guckten freilich zwei Fasanen aus seinem Lendensack. Ging das Vorrecht vielleicht bis zum Auerhahn, Hasen und Fuchs?

Nach der ersten Verblüffung fuhr eine Freude, schwarz wie der Teufel, durch Pisos abgezehrten, knochigen Leib. Das war ja auch wie vom Leibhaftigen eingefädelt. Nun passet auf, ihr zwei ehrlos Verliebten, ich tu' den ersten Streich.

Höflich grüßte der Baron und wollte ungeniert weiter. Aber Piso faßte ihn am Arm und donnerte: »Halt!«

»Was beliebt?« fragte dalla Rocca und zerrte sich unwillig los.

»Sie haben gejagt. Zeigen Sie mal Ihr Patent.«

»Ich brauche keins für solches Zeug.« Geringschätzig wies er auf das Geflügel.

»Sie brauchen es so gut wie jeder andere. Und dazu ist Schonzeit.«

»Schonzeit?«

»Sie haben gewildert und müssen sofort mit mir ins Stadthaus gehen.«

»Was fällt dir ein, junger Mensch! Kennst du mich nicht? Baron Andrea Carlo Paolo dalla Rocca!«

»Gerade darum müssen Sie erst recht kommen. Einem Baron ist nicht mehr erlaubt als einem Schustergesell.«

Sogleich knickte der Mut des kleinen, dünnen Mannes zusammen. In seinen feinen Zügen zitterte es. Er strich mit der behandschuhten Hand über sein immer noch frisches, blondes Haar und seufzte: »Leider nicht, ja, leider nicht! Aber ich dachte wirklich nicht, daß man einem dalla Rocca wegen solcher Nichtigkeiten . . .« wieder warf er einen herablassenden Blick auf seine Beute . . . »Willst du die Fasanen?« wandte er schnell den Satz. »Ich schenke sie dir gerne. Der eine ist feist wie ein Hammel. Sieh da . . .« Er betastete den Bauch und zerrte einen Schenkel aus dem Flaum. »Sieh nur . . . Golzi – der junge Golzi, nicht?«

Piso griff wieder nach seinem Arm.

Der Alte wich zurück und verlegte sich aufs Bitten. Wie ein Kind lispelte er: »Bitte, tu mir den Gefallen, nimm sie! Ich will nichts davon. Die Buchbinderin soll sie dir braten. Ich höre ja, daß . . .« er lächelte mit einer artigen Schlauheit . . . »Guten Appetit!«

»Wir verlieren nur Zeit, kommen Sie«, sagte Piso hart. Er mußte mit sich selber kämpfen. Dieser Alte war keiner von der Bande, wußte nicht einmal davon, ist einfach da so leichtsinnig und selbstgefällig ins Vergehen gerutscht. Sollte er ihn nicht laufen lassen? – Aber da gab ihm das Wort Buchbinderin eine neue, böse Energie.

»So gehen, mit dir, etwa in Arrest? Ich, ein dalla Rocca! So durch die Stadt? Bitte, mein Herr, das ist kein vornehmer Spaß.« – Er wehrte mit beiden Armen und warf die zwei Vögel weit von sich. Wie ein Kind.

»Fertig, du gehst mit mir«, schrie jetzt Piso rauh. Er hob die Fasanen auf, hörte ein Rascheln hinter sich, wahrhaft, der Alte schlüpfte davon wie eine Eidechse.

Einen Moment schwankte Piso wieder: ›Soll ich den Tropf nicht laufen lassen? Er ist ja verkindet. Aber sein Sohn Elvezio, der Brief aus Amerika, wie Mala aufglühte, ihr: Bestia, fertig! Dieses ganze heillose, gemeine Nest, nein, zugepackt!‹

Er sprang dem Flüchtling nach und dachte, diesen Narren zu fangen, sei Spiel. Aber war es eine angeborene Behendigkeit dieses Aristokraten, den man sonst nur als Faulpelz kannte, oder seine heillose Angst vor der öffentlichen Schande, kurzum, er hüpfte so possierlich schnell zwischen den Stämmen durch, lief um Büsche, kroch durch Gräben und machte so einen verflixten Zickzack, daß Piso zehnmal zu fassen glaubte und zehnmal leer griff. Wütend gab er einen Alarmschuß ab. Seine Arbeiter waren nicht weit. Aber wie nun der Baron zu allem Rennen fluchte, flehte, die Fäuste ballte, der Madonna rief und ab und zu einen Knüppel hinter sich schleuderte, da schämte sich der junge Serra ernstlich solcher Jagd. ›So macht euch denn aus dem Staub‹, wollte er rufen. ›Ihr dauert mich. Aber laßt Euch kein zweites Mal hier treffen! . . .‹

Doch bevor er eine Silbe herausbrachte, war dalla Rocca elend an einem Brombeerbusch noch halb ins Gedörn niedergesunken. Er atmete mühsam, der Hals und die rechte Gesichtshälfte war von Blut überspritzt, er kniff die Augen zusammen und blieb reglos liegen. So kläglich sah sich das an, daß die letzte Rache aus Piso wich und er die ganze Suppe mitsamt dem Teufel, der sie eingebrockt, zum Teufelsteufel wünschte.

Aber schon nahten die Forstgehilfen und erkannten sofort den Vorgang. Jetzt gab es kein Zurück mehr für Piso, sollte er nicht seinen unparteiischen Ruf und damit seine einzige Kraft und Sicherheit verlieren. So setzte er denn die strengste Miene auf, und da der Baron zuerst sich todkrank schwindelte, dann plötzlich mit der Flinte um sich fuchtelte und aus Torheit gefährlich werden konnte, legte er ihm Handschellen an und ließ ihn zur Amtsstube des Verhörrichters abführen. Piso selbst blieb unzufrieden mit sich und aller Welt im Walde zurück.

So ward der Baron in schmählichen Handschellen zwischen zwei Aufsehern, besudelt und voll Schrammen, wie ein Verbrecher das Städtchen hinaufgeschleppt, umgafft, bestaunt und von schlechten Witzen überregnet. Er glaubte es nicht zu überstehen, aber überstand es doch und saß dann acht Wochen gemütlich in der Arrestzelle, mit dem Malen seines Stammbaumes beschäftigt und bedient wie ein Fürst. Denn von Amerika strömte ihm Geld in Fülle zu, und seine Trinkgelder wurden berühmt.

Aber auf Mala wirkte dieses Ereignis so niederschmetternd, und sie schämte sich so fürchterlich für Elvezio, Elvezios Vater und sich selber, daß sie nun heftig beschloß, vor Piso und allen Unruhen nach Amerika zu fliehen. Ja, recht eigentlich zu fliehen. Hier konnte man doch nicht mehr in Frieden leben und buchbinden.

Sie zitterte nicht vor der Reise, sondern vor dem Abschied vom alten Leben. Sie erinnerte sich noch immer mit Schaudern, wie sie schon einmal eine große Frechheit im Leben gewagt hatte. Es handelte sich damals um eine dicke, wertvolle Chronik von Perugia, die sie in einen Band binden sollte, mit schwarzem Leder und Goldschnitt.

Aber ihr kam der Umfang viel zu groß für einen Band vor, und auch der schwarze Einband und der Goldschnitt schienen ihrem feinen Empfinden hier ganz textwidrig. Und sie, die Genaue, Folgsame, Pünktliche, zerlegte das Werk unter Herzklopfen in zwei Bände, und zwar mit braunem Leder und altrotem Schnitt. Es schwindelte ihr der Kopf noch heute wie vor einem kühnen Wunder, wenn sie an jene Frechheit dachte.

›Wenn ich das konnte und es gut ablief,‹ versprach sie sich, ›so kann ich auch nach Amerika ohne Gefährde reisen. Es ist nicht schwerer.‹ Und sie half sich noch besser, sie überblickte auf der Landkarte das weite blaue Meer und dann auf dem kleinen Tupf Todi diese Buchbinderei, wo man sich zwischen vier Stühlen, zwei Tischen und einem Schrank kaum bewegen konnte. Soll nun ihr ganzes Leben in diesem Winkel ersticken? Geht das in einen einzigen, so schmalen Band? Aus der Chronik machte sie doch zwei, kann sie ihr Leben nicht auch in zwei Bücher teilen: erster Band Todi, zweiter Band Amerika? Und alles in einen frohen, lebenslustigen, roten Schnitt!

Sie hörte von Piso nur Wildes, Räusche, Hinterhalte, Fallenlegen, Abfang armer Schlucker, Kämpfe, Verwundungen, gesalzene Strafen und wieder Räusche. Nein, da gab es keine Ordnung mehr.

Und so packte sie ein kleines Bündel zusammen, notierte alles, was Haus und Habe betraf, in ein Heft für die Schwestern Serra und reiste verstohlen an einem sehr frühen Morgen nach der Hauptstadt der Provinz ab. An die Porta Perugina hatte sie einen zweirädrigen Karren bestellt. Von Perugia wollte sie dann die Eisenbahn nach der Hafenstadt Livorno nehmen.

Aber im Wagen neben dem Fuhrmann Personi redete sie merkwürdig. Sie gehe nur Waren für ihren Laden einkaufen. Aus der Ferne bediene man sie oft schlecht. Jetzt wolle sie einmal persönlich mit dem Gerber Quantone und der Papierhandlung Simonetta e Fratelli verhandeln. Und doch fielen wieder Worte wie: jetzt beginne ein anderes Leben, aber wie schwer sei es, fern von Todi zu arbeiten und froh zu werden.

Der Fuhrmann erwiderte, er fahre gerne einmal nach Perugia hinauf. Aber nach drei Tagen zerre es ihn schon mit allen Stricken und Gäulen nach Todi zurück.

Langsam fuhr der Wagen hügelauf, hügelab. Personi sagte, die Jungfer solle doch nicht so traurig auf dem Brett sitzen. So eine Junge, Hübsche, brauche nur zu winken, und gleich rolle ihr das Glück in die Beine. Übrigens raste er nur zwei Tage in Perugia. Wolle sie dann mit ihm heimfahren, so brauche sie nur am Albergo della Stella nach ihm oder Tomasini, dem Fuhrhalter, zu fragen.

Es ist wahr, zuerst schnappte sie die zügige Luft um den Reisewagen voll Appetit auf, wie etwas Neues nach der langen Zimmerluft. Aber je länger es durchs Tibertal hinaufging, um so fremder und ungewohnter kam ihr alles vor. Mochte das gelbgrüne Flußwasser noch so frisch zu ihr aufatmen, die umbrische Pfirsich noch so fein duften, sie schnüffelte unruhig nach etwas anderem, das wie Kleister riechen sollte.

Bei Rigabianca sprang damals ein hohes Gebüsch von Weiden, Birken und Erlen zur Straße. von Wässerchen durchbrummelt. Da saßen zwei Musikanten, einer zog die Harmonika, der andere blies auf einer Art Flöte. »Was singen sie?« fragte Mala, von der Melodie unwiderstehlich angezogen. Man hielt ein Viertelstündchen. Die Gauner saßen im Erlenlaub und hatten eine Flasche Chianti zwischen den Beinen und harte Maistorten auf einer Zeitung und tranken, bissen ins Gebäck und dehnten die Wanderglieder und sangen zweistimmig, wie die Weltstraße doch so weit und grau und unfreundlichen Sinnes sei, wie man sich darauf hundert Schuhe und seine einzige Seele ablaufe und doch kein warmes Ziel finde. »O Seelchen,« klagten sie, »wärst du doch im Nest geblieben, so klein und dunkel es auch war. Wanderschwalbe Seele, nun verlierst du alle Federn und erstickst im Buio.« Ja, im Buio sangen sie, im Dreck.

Und die Seele Malas zog zitternd ihre schon so müden Fittiche zusammen. Ach, was für eine weite, weite Reise! Und das Ziel Elvezio, ist das Ziel genug?

In Perugia konnte sie die erste Nacht keine Minute schlafen. Den ganzen Tag stand sie wie zwischen zwei Messern. Soll ich die Eisenbahn nehmen, ade? Oder soll ich mit dem Karren zurück?

Mechanisch ging sie zum Bahnhof hinunter und löste sich ein Billett nach Livorno. Sie wußte kaum, was sie tat. Aber dann lief sie am zweiten Morgen in mehrere Geschäfte, kaufte flüssigen Gummi, der goldene Honigfäden zog, ein neues Messer, das totenstill den dicksten Karton durchschnitt, weißes und farbiges Deckelpapier, Rückenleder, Goldstaub und Pinselchen. Für den Urwald? Einerlei, sie kaufte. Dann fragte der Ladenherr, ob sie das schon kenne, und hielt ihr ein kleines Rätsel aus Metall vor Augen. Hinten war ein Hebel zum Niederziehen und vorne biß ein spitzer Eisenzahn bei jedem Hebelzug ein scharfes Löchlein durch Hunderte von Blättern, durch eine ganze Beige von Bogen und zog zugleich einen Draht oder Faden durch, eine stramme Naht.

Bei diesem Buchbinderwunder klatschte Mala in die Hände. Todi und Piso, Florida und Elvezio verdufteten vor dieser kleinen sechzigfränkigen Heftmaschine zu nichts.

Sie kaufte und kaufte und packte ein und stand wieder ratlos auf der Straße. Kaum dreimal vierundzwanzig Stunden war sie von Todi fort. Sie aber dünkte es schon lange und furchtbar ferne.

Da schrie ein Zeitungsverkäufer etwas Besonderes über den Platz vor San Lorenzo. Es gab ein Gedränge von Neugierigen, alles kaufte das Blatt und disputierte und fuchtelte mit den Armen. Die Aufregung wuchs. Aus den Fenstern kamen Fragen, und aus den Türen sprang das junge Volk. Dort beim Barbier Giobbi stand auch ihr Kutscher und winkte heftig, als ginge die Sache sie besonders an. ›Etwas mit Piso!‹ dachte sie entsetzt und hörte nun im Herzuspringen einen düstern großen Mann zu einer Gruppe wiederholen: »Ja, großer Waldbrand bei Todi, Kampf mit den Untätern . . . drei Tote . . . worunter auch der Förster Piso Golzi . . . wisset, jener Ulisse . . . Jener kühne Hauptmann . . .«

Mala schüttelte den Kutscher an beiden Ellbogen. Ihre weichen blauen Augen schienen herauszutropfen. »Giobbi oder Personi oder wie, fahren wir sofort heim, bitte, noch diese Stunde. Es gibt eine warme, helle Nacht. Ich zahl' Euch das Doppelte.«

»Ja,« entschloß sich Personi, »das müssen wir sehen. Herrgott, bei Porchiano hab' ich zwei Juchart altes Buschland. Sogleich füttere ich die Pferde. So ein Feuer! Und Euer armer Piso!«

›Mein Piso, ja, mein Piso, du hast recht‹, sagte das schöne kleine Fräulein innerlich und drückte ihn im Geiste an ihren barmherzigen Mund.

»Ist mein Sack gut verstaut, daß er nicht rutscht«, bat sie, als Personi die Geißel über das Pferdepaar knallen ließ. »Es hat Dinge drin, die nicht zerbrechen dürfen.« – Dann fuhren sie in den wehenden Abend des Tibertals hinunter, von der vollen roten Mondscheibe am südlichen Apennin wie mit Blut und Feuer überspritzt.

*

Als Piso Serra, von innern und äußern Fiebern geschüttelt, sich spät nachts in Rock und Stiefeln aufs Bett warf, sprangen die Schwestern herein und erzählten händeringend, Mala sei nach Amerika verreist. Diesen Brief habe sie hinterlassen. Es stehe ein Gruß für Piso drin.

Der Bruder starrte die Geschwister schneeweiß an, biß sich rechts und links in die Lippe, sprang dann auf, wischte den Schweiß ab und stürzte wortlos, mit dem Stutzen auf der Achsel, in die Nacht hinaus.

Er wußte nicht, was er wollte, jedenfalls in den Wald. Am Prillonehügel keuchte er empor. Die Wächter weiter unten sollten ihn nicht bemerken. Aber der Hund schlug an und verriet ihn. Sie erschraken vor seinem verzerrten Gesicht und wichen nicht von seiner Seite, ob er auch mit dem Revolver drohte.

Sie hätten nun ja ohnehin nach ihm geschickt. Denn sie hatten rechts in den Höhen Pfiffe gehört und Laternen durch die Lichtung blinzeln sehen. Das anrüchige Ristorante Bolzi war am Abend fast leer gewesen. Die Halunken hatten also etwas vor.

»Habt ihr geladen?«

Sie klopften an den Gürtel. »Stramm geladen.«

»Dann schräg hinauf!«

Sie liebten Piso trotz seiner finstern Art. Denn er hatte sie doch immer als Kameraden behandelt und Regen und Sonne mit ihnen geteilt. Sie fühlten überdies, daß er noch viel ärmer sei als sie Habenichtse. Es war gegen Mitternacht und dumpf und heiß auch im Dickicht. An den fernen Hügelrändern wetterleuchtete es rastlos. Die Vögel mucksten nicht, kein Blatt rührte sich. Die Luft war dick und lastend, und der Wald gähnte um sie herum schwarz wie das Maul eines Riesenunglücks. Der Mond war noch nicht da. Die Lichter von Todi zitterten dann und wann durch eine Lichtung herauf.

Sie hörten durch die Stille etwas wie Tasten, Knistern, Murmeln. Wie Katzen schlichen sie höher, vergaßen alle Müdigkeit, und plötzlich meinten alle drei gleichzeitig, einen brenzligen Geruch in der Nase zu spüren, wie von einem halberstrickten Feldfeuer oder einem qualmenden, ungern brennenden, grünen Holz.

Das ward mit jeder Minute heftiger. Nun sah einer, dann alle drei einen lichten Fleck, der wuchs und immer weiter herum rötete. Am Sasso bello war Feuer.

Sie schrien auf vor Schrecken, einer lief nach Mannschaft in die Stadt, Piso raste den andern weit voraus bergauf; nur der schnelle Martino vermochte ihm noch eine Weile auf der Ferse zu folgen, dann mußte auch er innehalten und Atem schöpfen. Und da gerade sah er Pisos Schatten in einen abgeholzten Platz springen, vor sich die rasende Helligkeit, sah plötzlich einen zweiten, dritten, vierten Schatten, es lief zusammen, floß lautlos auseinander, und als Martini endlich an der Stelle war, wäre er bei einem Haar über Piso gestrauchelt, der über eine Wurzel längelang ausgestreckt lag, das Haar voll Blut, den Zahn in die Unterlippe gebissen, wie tot. Durch das dürre Unterholz knisterten Millionen gelbe und blaue Flämmlein herzu, während weiter oben schon ganze Bäume aufloderten. Der treue Martini lud seinen Meister auf die Schulter, floh ans Brünnlein Naldi hinunter, netzte und wusch Piso und pfiff, so mächtig er konnte, durch die gebogenen Finger um Hilfe für den armen Wald und den noch ärmern Waldhüter Piso.

Als Jungfer Mala nun zwei Tage später heimkehrte, fand sie Piso auf einer Matratze in ihrer Buchbinderei liegen, ohne sie zu kennen, aber ihren Namen immerfort durch die großen Zähne bröckelnd und mit Blut, Feuer, Mörder verbindend. Auf der rechten Kopfseite, wo er schon einmal schwer verletzt war, klaffte eine breite Wunde.

Statt sich mit dem Sterbenden die steilen, engen Stiegen hinaufzuquälen, hatte man ihn gleich hier zu ebener Erde hingelegt, als gehörte er nirgendwo anders hin. Die meisten wußten nichts von Malas Abreise und nahmen es als selbstverständlich, daß sie den elenden Freund betreue.

Das tat sie Tag und Nacht, und stundenlang starrte sie ihm in die irren Augen, um seine Vernunft herauszubitten und ihm dann eine demütige, heiße Reue zu bekennen.

Der goldgelbe Gummi und der neue Kleister vertrockneten in den Gläsern.

»Könnten wir nicht heiraten?« fragte sie in blutroter Verwirrung den Canonico bei einem Krankenbesuch. »Piso und ich, so wie wir jetzt eben sind? Er liebt mich, ich ihn, also!«

»Aber er hat kein Bewußtsein vom Sakrament. Es wäre keine gültige Ehe«, widersprach Don Massimo, der dieser kleinen Eva überhaupt nicht traute. – »Er kann ja nicht einmal Ja sagen.«

»O,« rief sie, und es rann ihr der Purpur der Scham und Freude übers kleine Gesicht, »er hat tausendmal Ja gesagt, als ich's nicht hörte. Jetzt hör' ich's, auch wenn er schweigt.«

»Ich müßte es auch hören, Kind Gottes. Geduld, er wird schon zu sich kommen und vielleicht Ja sagen. Ihr seid dumme, unartige Rangen gewesen, bis euch der Herrgott zurechtgeprügelt hat. Dankt ihm!«

Aber heimlich dachte dieser Kenner der Herzen, das sei so ein sentimentaler Einfall. Sie passe nicht zur Ehefrau, basta.

Aber auch Mala tröstete sich. Sie hatte nun Piso so hübsch bei sich, so ganz in ihrer Hand wie noch gar nie. Sie ganz allein durfte ihn pflegen. Immer gab es da etwas zu tun: das Essen zu richten, die Medizin einzulöffeln, seinen Schweiß zu trocknen, die Kissen bequemer aufzuschütten, die Vorhänge zuzuziehen, Umschläge zu machen, die Wunde schonlich zu salben, die Fieber zu messen, auf sein irres Geschwätz sanft zu antworten und für ihn zu beten. Tag und Nacht kam sie nicht zur Ruhe. Aber indem sie das alles wunderbar genau verrichtete, verschönte und veredelte sich ihr Gesicht. Etwas Weiches wie Pfirsichflaum ging darüber, und niemand konnte sagen, ob der milde Ausdruck ihrer Mienen mehr von jungfräulicher oder mehr von mütterlicher Liebe stamme.

Als Piso stiller wurde und weniger brauchte, begann Mala doch den neuen Gummi aufzulösen und das Heftmaschinchen zu probieren. Es ließ sich köstlich damit wirken. Sie falzte, schnitt und verklebte wieder und besorgte den Kranken in der Ecke und fühlte sich alles in allem zufrieden, da Piso sie allmählich erkannte, anlächelte und endlich ihre Hand suchte und an seine Brust drückte.

Wie hatte er beim ersten Zerreißen des Dunkels gestaunt. War es möglich? Saß wirklich sie dort im Fensterlicht und rispelte und raspelte und guckte unendlich mütterlich jede Minute in seine Ecke? Gerne schlug er die Augen wieder zu und glaubte daran und träumte davon. Und als er sie wieder aufschlug, war sie noch da, zierlicher und sauberer als je, etwas schier unangreifbar Hübsches, Leises, Geschäftiges und rispelte und raspelte noch und sorgte mit zwei flinken Augen jeden Augenblick zu ihm hinüber.

Er siechte an der unheilbaren, zerstörenden Wunde dahin. Sie las ihm nun oft wieder vor wie früher. Sie speisten, lebten, schliefen im gleichen Stübchen, schliefen oft so, daß sie einfach neben seinem Kopfende saß, das Gesicht auf sein Kissen legte und, indessen seine Hand zärtlich über ihr Haar fuhr, neben ihm wie eine Schwester oder Mutter einschlummerte.

Nun mahnte Don Massimo seinerseits: »Jetzt könntet, ja solltet ihr eigentlich heiraten. Er kann sehr gut Ja sagen.«

»Nein«, sagte hingegen Piso sehr klar. »Nein, Reverendo.«

»Warum nicht?«

»Fürs Leben heiratet man. Das ist der Sinn der Hochzeit. Aber lieben tut man für Tod und Ewigkeit. Komm, Malinetta!«

Er küßte sie auf beide Wangen und auf den Mund. Aber er tat es so rein, daß auch ein Reverendo und Reverendissimo ganz wohl zuschauen durfte.

»Das ist mir noch nie vorgekommen«, brummte Don Massimo im Heimgehen. »Sind es Geschwister, sind es Brautleute? Da sehe Gott zu!«

»Es sind Brautleute, sag', was du willst«, widersprach der Colonella gewohnheitsmäßig.

»Und ich sage, es sind Geschwister; das waren sie von klein auf, das bleibt.«

»Brautleute!«

»Bruder und Schwester!«

*

Wenige Wochen nach Pisos Tod saß Mala von morgens bis abends wieder in alter, vergnügter Geschäftigkeit am Kleistertisch und blickte, die blauen Augen zwinkernd, von Zeit zu Zeit über die Papierstöße hinaus zur Uniform am Türhaken, um mit beruhigter Miene zum Tischlein zurückzukehren. Früher hatte sie zum horchenden Knabengesicht, dann zum verbundenen Kopf im Bett blicken müssen. Jetzt war jenes Kleid ihr Piso genug. Sie lebte halb davon. Sie sah Piso und streichelte ihn über Stirn und Wange, so oft sie die grüne, tapfere Uniform betrachtete.

Abends nach Wirtschluß kamen die beiden Schwestern Pisos herab, und man redete vom Toten zehnmal mehr als einst vom Lebenden. Man sagte, es habe in Gottes Namen so kommen müssen. Des Himmels Gewalt! Im Walde, tröstete man sich, sei ein Steinblock mit seinem Namen übergoldet und auf dem Grabstein stehe sehr dick gemalt: »Er hat zweimal das Leben für Italien geopfert, einmal für seine Ehre und einmal für seine Ordnung. Achtet ihn!« – Und der Canonico hatte beigefügt: »Und er ist ohne Zorn, weise und brav wie ein Christ gestorben; liebet ihn!« Und bei solchen Reden wurden die Jungfern gerührt, freuten sich eines solchen Grabes und des Helden darin, und es waren nicht zwei, es waren fortan drei Schwestern. –

– Und die Jahre hinkten oder rannten an diesen stillen Fräulein vorbei wie unten am Stadthügel der alte Tiberfluß. Der Oberst, der Domherr, der Baron dalla Rocca starben, die Wirtschaft wurde stiller, sozusagen eine Gaststube für ein paar Freunde zu Mittag und zum Abendessen. Unten im Erdgeschoß strich und tüpfelte Mala und fühlte nun gut, daß ihr Leben in einem einzigen Band mehr als genug Platz habe.

Abends zündete sie die Lampe an und las in alten Büchern und betete fünf langsame Vaterunser für Piso und dann ein flinkes für Elvezio. Aber sie schrieb diesem nie, und zwischen ihnen lag nicht bloß der Ozean voll Wasser, sondern auch ein Ozean voll Schweigen.

Ledige Jüngferchen bleiben meist gesund und bekommen viele, aber nicht tiefe Runzeln und verfärben sich nicht und werden fast hundertjährig.

Aber siehe, nach beinahe vierzig Jahren kam noch in Malas Leben nicht ein zweiter Band, aber doch ein ganz neuer Abschnitt.

Denn eines Nachmittags, so um die drei, da sie leise vor sich hinsummte und ein Drahtnetzlein ordnete, dieses Rätselweiblein, da hörte sie durch die öde, leere Stunde einen sonderbaren Schritt übers Pflaster nahen. Sie wollte ihrem Ohr nicht trauen, aber schon zuckte es durch ihren Körper. Es klopfte nicht an der Türe, nein, es stieß gleich den Fensterladen von außen auf. So sicher war es, was da kam. Mala sah den schmalen weißen Griff der Finger und rief: »Elvezio!«

Da stand er im Fenster, ein bißchen ins Licht zurück, so daß sie ihn sogleich erkannte, schneeweiße Haarbüschel um die Ohren und so ein Kränzlein gegen den Nacken, sonst kahl und ausgebrannt wie die Piazza da draußen in der Sonne. Und wie mager war er und wie alt machten ihn die weißen Brauen und der eisige Schnurrbart! Aber wie elegant stand der Sechziger noch da, wie behend neigte er den Hals, und vor allem wie unverblüht groß und silbern leuchteten immer noch die Augen. Aber sonst gab es nichts als ein braungeröstetes Gesicht und Kahlheit und ein bißchen Schnee darüber.

Sie sahen sich stehend und wortlos an, dann ging die Erregung und Neugier ihrer Blicke in Milde über, und in einer Art von Andacht reichten sie sich ganz leise die Hand.

Elvezio hatte weit über die Testamentsklausel hinaus herzhaft auf seinem Posten verharrt. Nun endlich verkaufte er alles und kehrte zur Wiege seines Daseins zurück. Das ist so menschlich, ist vor allem so italienisch.

Aber Mala merkte bald, daß noch ein besonderer Grund zu diesem Entschlusse mitgewirkt hatte. Elvezio litt schwer an Gicht. Wie beim Vater gab es Tage und Wochen von jünglinghafter Geschmeidigkeit, um nachher doppelt hilflos im Stuhl zu liegen. Es war ein Familienerbe und hatte sich im feuchten Klima seiner wasserreichen, schwerbewaldeten Pflanzung schon früh bei Elvezio gemeldet und schon zeitweise einen fast unerträglichen Grad erreicht. Die Ärzte wiesen ihn nach Mexiko hinunter, wo es hoch und trocken sei. Ach, wo schien es dem Altgewordenen so hoch und trocken und sonnig wie auf dem Felsen zu Todi, im engen Städtchen, wo von den Hügeln der warme Geruch von Gras, Gebüsch und Wald am Nachmittag hineinfächelte. Heim! Heim!

Als er sich ins großartige Gedränge der Arbeit geworfen hatte, da konnte er dieses Todi vergessen. Jetzt, da er wochenlang im Liegestuhl faulenzen mußte, bohrte sich das kleine, ferne Ding wieder merkwürdig in seine Gedanken, durch Meer, Prärien und Urwald bis in sein tiefstes Herz.

Elvezio wußte alles, was in Todi geschehen war. Doch redeten sie nie davon, sondern deckten sozusagen die Hände über alles, saßen friedlich zusammen, lesend, plaudernd, er rauchte die langen Virginiastengel und durchlief amerikanische Riesenzeitungen, sie buchbinderte, und beiden genügte nach so vielen Erwartungen und Bestellungen für eine reiche Mahlzeit nun auch das wenige vollkommen, womit das Schicksal ihren späten Tisch noch gedeckt hatte: ein wenig Brot und Wein, ein wenig Süßes und ein wenig Saures und zuletzt ein sattes Falten der Hände und Wohlbekomm's!

Freilich, wie hatten sie einst so viele und schöne Sachen auf die Tafel ihres Lebens gehofft, was für ein Lieben und Eheglück, welche Küsse und Feste, was für vornehme Tage und süße Nächte. Und nun saßen sie da nebeneinander, alt, etwas abgebraucht und müde, er meist das getigerte Fell auf den Knien und in roten Pantoffeln. Und sie sahen im Reden und Horchen einander wie durch einen blassen, fernen Spiegel so, wie sie einst waren, aber sie fühlten sich, wie sie jetzt sind, und keine Begehrlichkeit neckte ihr Blut.

Aber einmal zeigte sie ihm bei guter Laune, nachdem sie sicher ein halbes Gläschen zu viel getrunken, das Billett von Perugia nach dem Hafen von Livorno. Das hatte er nicht gewußt. Seine Augen wurden größer, er umarmte sie und sagte dann resigniert: »O ich habe lange gewartet.«

Da gab sie ihm die Liebkosung zurück, und eine Weile spann etwas wie herbstliche Traurigkeit um sie.

In dieser Stimmung fragte einst Elvezio: »Sollten wir nicht einen alten Fehler gutmachen und doch noch heiraten?«

Es war eine überaus vernünftige, ruhige, fast blutlose Frage, und beide nahmen sich dabei aus, als blickten sie zu einer einzigen halbvertrockneten Kirsche empor. Da hing noch diese einzige am geplünderten Baum. Die andern Kirschen hatten geglüht und gesaftet, aber da waren beide fern von der Lese gewesen. Jetzt hätten sie Gelegenheit, noch die letzte Beere zu pflücken, nur damit der Baum abgedankt und der Herbst zu Ende ist. So, nicht mehr und nicht weniger wichtig war es auch mit dieser späten Hochzeit beschaffen. Das wußten sie.

Noch leiser wiederholte Elvezio die Frage: »Sollten wir nicht einen alten Fehler gutmachen und noch heiraten, bevor das ganze Städtchen den Kopf über uns schüttelt?«

Ach, die Fehler kann man nicht gutmachen. Hunderttausend Kirschen sind und bleiben verpaßt. Was hilft da diese letzte eingeschrumpfte Beere?

Mala küßte ihm schwesterlich die Frage auf der Lippe tot. Sie zeigte auf Pisos Uniform. »Ich meine, das wäre zum alten ein neuer Fehler«, lispelte sie. »Könnten wir als Gatten bessere Freunde sein? Bleiben wir so. Kein Mensch kann von uns übel denken.«

Wirklich, das tat niemand. Die ganze Stadt verstand das alte Paar und erquickte sich daran. Und es störte auch den guten Don Massimo in seinem Grabe nicht.

Mehrere Jahre hielt sich Elvezio tapfer mit seiner Gicht. Er hauste im Zimmer des Obersten selig und aß mit Mala und tat der Gemeinde viel Gutes. Sie aber war ihm Magd und Freundin, Schwester und Mutter, Wärterin und Trösterin, kurz, alles was man weniger, aber auch mehr als Gattin sein kann.

Es war ein schöner, langer Oktober. Dann aber griff das Übel aufs Herz über, und Elvezio starb wie Piso auf dem gleichen Feldbett, im gleichen Stüblein, in den gleichen Armen.

Jetzt legte sie die Jaguardecke auf den Stuhl und die Pantoffel zu Füßen. Das verlangte die Gerechtigkeit gegenüber Pisos grüner Uniform. Zwischen den beiden Reliquien zappelte Mala noch immer recht lebhaft her und hin, wie zwischen zwei guten Geistern, die ihren Frieden hatten.

Und abends kommen die Frauen Serra hinunter mit Wein und etwas zum Essen. Und die drei schwarzen Damen speisen sozusagen mit zitternden Fingern auf den Knien, plaudern leise, nicken sachte, lächeln, tauchen die alte Seele in Erinnerungen von Sonne und Jugend und schlückeln von Zeit zu Zeit aus einem Gläschen den hellen Chianti.

Aber es ist, als seien nicht drei, sondern fünf Personen im Zimmerchen. Wahrhaftig, sie tun auch so, diese guten, alten Frauen. Und wenn Mala redet, schweigen die beiden andern. Spricht sie von Piso, so neigt sie liebevoll ihr immer noch graziöses Köpfchen zur Uniform an der Tür, und spricht sie von Elvezio, so ruht ihr zwinkerndes Auge auf den roten Pantoffeln und dem gefleckten Fell. Für mich ist es gar keine Frage, daß die Frauen Piso dort am Posten stehen und Elvezio im Stuhle sitzen sehen und fühlen, wie beide zuhorchen, mitreden und zuletzt beim Auseinandergehen auch gute Nacht wünschen, gute, selige Schlafensnacht.


 << zurück