Heinrich Federer
Unter südlichen Sonnen und Menschen
Heinrich Federer

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Die Buchbinderin Mala Golzi

Es ist noch alles unverwüstet-alt im Felsenstädtchen Todi. Aber an der Gassenecke, die zum Garibaldiplatz sieht und sich vor den drei trotzigen Palästen der Stadtherrschaft ringsum nicht fürchtet, gab es vor sechzig Jahren ein Buchbinderlädelchen im erdebenen Stock, das jetzt nicht mehr existiert. Im oberen Boden hielten die Serra eine Gaststube. Es war weder Hotel, noch Wirtschaft, sondern neben der großen, wandgefensterten Küche ein noch größerer düsterer Saal, in dem man durch den Schieber ein gutes hiesiges Mittag- und Nachtessen bekam. Im Notfall ward einem noch ein hartes, knisteriges Laubbett in der Mansarde eingeräumt. Doch davon wußten die Fremden nichts und von den Einheimischen außerhalb des Weichbildes nur wenige.

Im dritten Stock wohnte die Buchbinderfamilie Golzi und hatte die beste Kammer dem Obersten Pigrino eingerichtet. Der alte Soldat hatte aus den achtundvierziger Kämpfen ein schwaches Auge heimgetragen und war nach und nach erblindet. Bei den Golzi und Serra verzehrte er seine kleine Pension, da er keine Verwandten, aber in einem entfernten Vetter der Serra, dem Canonico Massimo droben im Domherrenstift, seinen besten Freund besaß. Don Massimo holte ihn oft aus der Libreria, wie man sonderbarerweise damals das Haus der Buchbinderfamilie hieß, zu einem Spaziergang ab. Gewöhnlich schlenderten sie gemächlich über San Fortunato, wo der Priester jeweilen seufzte: »Ach, diese Fassade! Nie wird sie vollendet. Kasernen, ja! Kirchen nein! – Miserable Zeit!« – Dann geriet man gleich über die Piazza Pignatara, wo der Oberst seinerseits sich jedesmal rächte: »Und das Kloster drüben, lieber Massimo, bleibt ausgefegt, ja, ausgefegt von Dunkelmännern. Helle, saubere Zeit!« – Denn von hier schoß einem die Flanke des einstigen Konvents ins Auge. Das wußte der Blinde, sobald man auf eine bestimmte höckerige Stelle des Platzes trat.

»Soll ich davonlaufen,« drohte der Domherr alsdann, »Sie dunkelster aller Dunkelmänner!« – »O wenn alle wären wie Sie!« beruhigte flink der kleine, breite Oberst und tastete sich fester an seinen Führer. »Sie dürfen sieben Klöster stiften, und ich lasse mir auch noch die Locken scheren.«

Dann lachten beide, denn ihre Häupter waren kahl und geschliffen wie Mühlsteine. Und trotz ihrer Gegensätze im Kirchenpolitischen konnten sie ohneeinander nicht drei Tage auskommen. Das war um die Siebzig, und damals wimmelte das Haus Golzi-Serra von Jugend.

Vierzig Jahre später lagen die Freunde längst unter dem Grabstein. Aber auch im Hause war es merkwürdig still. Oben fast keine Gäste und nur noch zwei alte Schwestern Serra, immer in schwarzen Röcken, da ihr einziger, vergötterter Bruder Piso so seltsam gestorben war. Unten im Laden die lichte Sechzigerin Mala Golzi, über und über von feinen Runzeln durchstrichelt, aber von gesunder apfelroter Farbe, den Hals gerade und mit den prachtvollen braunen, aber etwas harten Augen unter dem halben Lid zufrieden hervorzwinkernd wie einst in den Jüngferchentagen.

Sie arbeitete am offenen Fenster. Man konnte gut hereingucken. Oft saßen Kinder rittlings übers Gesimse und bettelten farbiges Papier oder Goldschnüre. Sonst gab es im Stübchen nur noch einen Schrank, zwei Sessel, einen Liegestuhl, und am Türhacken hing eine alte, grüne Feldjägeruniform. Doch die Alte am Fenstertisch voll Kleistertöpfen, Haftschächtelchen, Kartonscheiben, Drahtnetzen und Beigen von Papier pinselte und schnitt und nähte und besorgte das klebrige Geschäft noch bis ins letzte von Hand, aber von so rascher, geschickter, peinlich solider Hand, daß selbst von Perugia aus der Präfektur, ja vom Kardinal-Erzbischof Aufträge kamen. Ein Einband von ihr überdauert Jahrhunderte.

Doch sie war vermöglich und nahm nur noch an, was ihr behagte, etwa Heiligenleben und vom Profanen, was sich recht kurzweilig las. Denn ehe sie einband, las sie alles Material. Das Werk über die Spezialpflanzen zwischen Tiber und Naia und die Baugeschichte von San Fortunato und alles Fremdsprachige wies sie bündig ab. Dagegen bat sie den Stadtschreiber und Bücherwurm Mossa um Abenteuer und Romanzen. Sie wolle das gratis binden.

Denn Frau Mala wollte all das Interessante mittags und abends dem Manne vorlesen, der ihr zunächst im Lehnstuhl saß mit roten Pantoffeln und einem gefleckten herrlichen Jaguarfell auf den Knien. Sein feines Greisengesicht paßte nicht in diesen schlichten Raum. Er war mager und blank und kahl wie eine dürre Birke. In seinen Beinen und Armen marterte die Gicht mit Millionen Messerchen. Er konnte zeitweise nicht zwei Schritte tun. Doch hielt er standhaft aus. Das Schönste in seinem edelgeformten, aber verdorrten Gesicht waren die zwei silbergrauen Augen, die wie große Monde auf und nieder gingen. Aber meist hielt er die Lider geschlossen, der müde Elvezio dalla Rocca.

Als ich etliche Jahre später da hineintrat, war der alte Herr nicht mehr da. Sie trug noch immer keine Brille und blinzelte noch immer köstlich unter halben Lidern hervor und lächelte aus hundert apfelroten Runzelchen; aber der Lehnstuhl blieb leer. Indessen lag noch die getigerte Decke darauf und das rote Pantoffelpaar darunter und ein Fußpolster, gerade, als müßte Elvezio dalla Rocca im Augenblick von einem kleinen Spaziergang zurückkommen und ins Tuch schlüpfen. Ich wußte jedoch, daß er jene Reise, die kein Retourbillett kennt, bereits angetreten hatte. An der Türe hing feierlich die grüne Soldatenkleidung.

Frau Mala band immer noch Bücher ein. Das war ihr eine Lebensnotwendigkeit wie das Atmen. Aber sie tat es jetzt gemächlich und nahm nur noch kleine Sachen an, am liebsten Legenden und Gedichte und solches, was vom großen Sohne dieser Stadt, dem Mönch und Dichter Giacopone, veröffentlicht wurde. Die Gaststube zu Häupten war eingegangen, und die beiden schwarzgewandeten Schwestern Serra kamen meistens nach Vesper hinunter und strickten und plauderten leise und schlürften einen Kaffee. Diese drei Siebzigerinnen sahen aus wie drei heiterstille Oktobertage.

Die hellste von ihnen, Mala Golzi, erschien mir, wenn sie so kleisterte und zusammenheftete, selbst wie ein Geschichtenbuch, mit fröhlich bunten Deckeln, aber streng geschlossenen, geheimnisvollen Seiten. Was mochten wohl da drinnen für Kapitel stehen? Denn daß ein Haus voll schallenden Lebens, mit prächtigen Jünglingen und hübschen Fräulein zu diesem greisen Rest zusammenschrumpfte, dazu bedurfte es doch wohl absonderlicher Fügungen.

Ich besaß eine lose Sammlung von Dichtungen Giacopones in deutscher Übersetzung. Damit ging ich zur Buchbinderin.

Aber Frau Mala weigerte sich, diese Blätter einzubinden. »Tedesco, no!« Sie binde ja nicht einmal mehr das schönste liebste Italienisch ein. Noch gestern habe sie Marco Visconti, man denke, so eine famose Geschichte, ohne Umschweife abgelehnt.

»Ich komme wieder und bettle wieder«, sagte ich. »Es handelt sich doch um den größten Bürger von Todi, um sein Armutslied. Sollen das nur die Italiener haben? Sind wir Deutschen nicht auch Christen und möchten probieren wie Giacopone, die Lumpen des Reichtums von uns zu werfen und im stillen Glanz der Armut zum Himmel aufzuleuchten?«

Frau Mala schüttelte den Kopf. Sie verstand mich nicht. Das klang ihr zu großartig.

Öfter kam ich nun und grüßte und bettelte wieder. Und einmal warf ich die berühmten Verse hinein:

Udite nova pazzia
Che mi viene in fantasia!

Gleich zuckte es um Malas Mund, und sie antwortete flüsternd:

Viemmi voglia d'esser morto
Per che io sono visso a torto.

Und ein mild klagender Blick traf den leeren Stuhl mit Decke und Pantoffeln.

Io lasso il mondan conforto
Per pigliar più dritta via

schloß ich die Strophe, mit der jener Mönch des Mittelalters seine Abkehr von der wilden Geschäftigkeit der Welt beginnt.

»Ja, wenn man nur könnte«, seufzte Mala. Es tönte leicht wie ein Vogelseufzer. »Ich lese eben noch immer gar zu gern Abenteuer und Liebesgeschichten.« – Ihr verschrumpftes Gesicht glänzte in rosiger Kindheit.

»So bindet mir jetzt die paar Blätter ein«, bat ich. »Tut das zur Buße! Seht, da steht gerade das Gedicht › Udite‹.«

»Aber deutsch.«

»Aber kein Wort anders als wie Giacopone dachte.« Ich las:

O hört der neuen Torheit Sang,
Die wundersam ins Herz mir drang.
Sehnsucht des Todes mich umschwebt.
Zu Unrecht, ach, hab' ich gelebt.
Ich lass' die Welt, die ich erstrebt,
Für einen bessern gradern Gang.

»O, o!« machte die Alte und hielt sich die zarte Hand ans Ohr.

»Gefällt es Euch nicht?«

»O was für eine Musik!« spaßte sie. »Wie . . . wie . . . das knarrt und . . . ja . . . hustet . . . dieses Deutsch. Wenn Giacopone das hörte . . . o!«

»So würde er sagen: bindet ihm, dem fremden Manne, der nicht schöner reden kann, bindet ihm die Blätter. Froh bin ich, wenn man meine Lieder in allen Sprachen hört. Auch in dieser rauhen da. Gott versteht es schon. Es steckt ja überall das gleiche Gebet drin.«

Langsam überprüfte Frau Mala die deutschen Buchstaben. Es wollte ihr nicht recht in den Kopf, daß in diesen Haken und Häklein der gleiche Franziskaner rede. Aber zuletzt sagte sie kurz: »Gebt her! Ich mach's!«

Und nun kam ich Tag für Tag her, sah zu, wartete, plauderte und brachte den drei Frauen etwa Blumen oder die neueste Zeitung und las ihnen daraus das Feuilleton vor: »Die Tochter des Kastellans«, mit seinen blutroten Unwahrscheinlichkeiten. Diese Tochter liebte, ward geraubt, saß gefangen, schrieb Billettchen und knüpfte Strickleitern, floh, ward nochmals gefangen, ach, man kam nicht aus der Hetze heraus. Aber das greise Kleeblatt legte, sowie ich mit dem Provinzblatt hereinkam, Kaffeelöffel und Rosenkranz und Gummipinsel weg und rief einhellig: »È scapata? . . . ist sie nun wieder entschlüpft?« Und ich mußte die Fortsetzung lesen von feuchten Mauern, Ketten, die klirren, Zeichen, die durchs Gitter flattern. O es war sehr romantisch.

Trotz diesen Opfern erlangte ich keine Silbe aus der Vergangenheit Malas. Im Städtchen freilich konnte ich Glaubliches und Unglaubliches zusammenlesen, soviel ich nur wollte. Wenn ich dann mit so einem Bündel Neuigkeiten in die Buchbinderei trat, prüfte ich alles an den drei Gesichtern, ob es stimmen könne, und wußte bald, was übertrieben, was Zutat war, strich aus und verbesserte in Einfalt und wagte dann und wann im Zweifel sogar eine Frage an Mala. Sie lächelte jedesmal wie zu einem Schläuling, aber nickte dann doch oder schüttelte den Kopf. Und zwischen diesen Ja und Nein bildete sich die folgende, kleine, schwere Geschichte.

*

Mala hatte schon als Kind den Eltern beim Buchbinden geholfen. Der Vater kramte ihr Wahres und Unwahres aus, was in den Bogen stand, und eine ungeheuere Leidenschaft, eigentlich die einzige echte Leidenschaft ihres Lebens, wucherte von da in der Kleinen empor, Geschichten zu lesen, Altes, Neues, je wunderbarer je besser.

Im Hause ging es wie in einem Taubenschlag zu. Sie hatte zwei kecke, lärmende Brüder, und die Serra zählten vier Töchter und den Bruder Piso. Toll genug lärmte es unter so vielen Sohlen. Nur Mala ging sachte und wie auf Katzenpfoten so leis. Aber ihr Herz klopfte am neugierigsten von allen.

Da brach jene unvergessene Seuche ein, von den ewigen Kleinkriegen in Italien in die stillsten Orte geschleppt. Einige sagen, es sei eine versteckte Art von Blattern gewesen, andere nennen es gar die Pest. In den Jungwuchs von fünfzehn, sechzehn Jahren fiel sie mit der Wut eines Geiers und riß die Schreienden und Wehrenden in wenigen Stunden so weit weg, als die Ewigkeit mißt. Zwei Mädchen der Serra und beide Brüder Malas glühten am Morgen auf und erfroren vor Sonnenuntergang im Eis des Todes.

Kaum wuchs ein bißchen Gras auf den Gräbern, so legte sich auch der Buchbinder in den Sarg. Die Witwe Mira kränkelte seitdem, und die Einsamkeit ringsum fröstelte sie so eigentümlich an, daß sie meist das Bett hütete und man nach drei Jahren gar keine Änderung empfand, als die Mutter Golzi nicht mehr in der Kammerecke, sondern in der Friedhofecke schlief.

Längst hatte sich das Jüngferchen Mala als Hauptperson an den Kleistertopf gesetzt und versah den Beruf bald besser als Vater und Mutter ehedem zusammen.

Oft kam Piso, während seine zwei übriggebliebenen Schwestern dem alten Serra die Wirtschaft führten, in den Laden hinunter. Er war ein breiter, kurzgewachsener Bursche, mit kleinen unruhigen Augen, starken Backenknochen, einer schmutziggelben Haut, aber einem großen, langsamen Mund, der in purpurdunkler Begehrlichkeit leise fieberte, dürstete, glühte und von wunderbarem Schnitt der Lippen war. ›Will er trinken, küssen, beißen?‹ mußte man sich bei diesem schwülen Anblick unwillkürlich fragen. Etwas Wildes und zugleich Scheues lag im Ausdruck des Jünglings.

Er saß zu Mala, um Geschichten zu hören oder zu lesen. Häufig brachte er eine Flasche Chianti mit und netzte damit unaufhörlich seine schwere Zunge. Stundenlang konnte er Mala zuhören, ohne den Blick von ihren saubern Lippen zu trennen. Auch Mala gewann ihn lieb. Am Sonntag zogen sie die Gardinen nieder, riegelten die Türen und lebten für nichts als ihre gemeinsame Neugier. Dann nötigte Piso das Mädchen, mit ihm aus der Flasche zu trinken. Sein großer voller Mund, der ihr gar wohl gefiel, wurde flinker, er spitzte die breiten Lippen zu einem melodischen Pfeifen. O wie er pfiff, wie Nachtigall und Lerche zusammen! Leise begleitete er ihr Vorlesen mit diesem flötensüßen Pfeifen, blies ihr dazu seinen starken Knabenatem ins Gesicht und küßte sie zuletzt. So fing es an. Sie trug noch kurze Röcke und er noch keinen Flaum.

Sie redeten nun oft zwischen den fremden Ereignissen eines Romans in halb kindlicher Weise vom eigenen Heiraten. Sie solle dann die Buchbinderei aufgeben, meinte er, und hier unten eine Weinlaube eröffnen. Da widersetzte sie sich. Ohne Bücherbinden möge sie nicht leben. Dann wurde sein Mund schwer und roh. Dann zog er die große Hand von ihrer Schulter, schwieg, wurde unheimlich. Und dann kam er ihr häßlich vor.

Auch beim Lesen von herrlichen Prinzen, mit schwarzen Schnurrbärten und gespornten Stiefeln, mit Augen wie Adler, aber Händen wie Lilien und mit Schwüren, die wie rote Flammen von den Lippen flogen, ach, da dünkte ihr Piso ein häßlicher Gesell, der ganz in den Schatten fiel. Aber wenn Piso dann wieder, die Ellbogen auf den Knien, zu ihrem Buch emporlauschte, die Rosenknospe bildete, melodisch mitpfiff und sein graues zappeliges Auge still wie ein Nachtfalter auf ihrem Munde gleichsam absaß, dann war er ihr wieder der liebste und beste Knabe. Wenn er nur nicht schon Chianti wie ein Erwachsener tränke! Das macht ihn so aufsässig!

Einmal bat sie ihn, auch Buchbinder zu werden. Sie könnten dann mitsammen ein tüchtiges Geschäft betreiben. Er bekäme die lustigen Sachen zum Einbinden, sie die ernsten, und wenn er zu sehr lachte, läse sie ihm ihr Trauriges vor, und wenn sie zu düster würde, müßte er ihr von seinen Späßen borgen. Und so würden sie belesen und reich und dazu noch Mann und Weib.

Er könne aber den Kleister nicht ertragen.

Sie wollte solchen beschaffen, der wie Ambra dufte.

Und er könne das Schmieren nicht ansehen.

Das sei viel reinlicher als die Sauereien der Gäste oben im Gastzimmer. Sogar der Oberst spucke ringsum den Boden voll.

Wer seine Frau werden wolle, dürfe kein gesondertes Gewerbe treiben; sie müsse neben ihm stehen und tun, was er tue.

Sie wolle niemals wirten. Nie habe jemand in ihrer Familie gewirtet.

»Nein,« grollte Piso, »dann passen wir nicht zusammen, und ich suche eine andere.«

»Ja, und ich bleibe hier am Buchbindertisch . . .«

Das waren noch Kindereien. Aber sie mehrten sich und wurden reifer. Als die zwei gegen die Achtzehn rückten, waren sie einander äußerlich gleichgültiger geworden, und vielleicht war es nur noch das kurzweilige Geschichtenbuch und eine warme Gewohnheit des Zusammenlebens, wenn sie noch oft abends bei einem Roman die Köpfe zusammensteckten.

Da kam die Erhebung um 1868 und weiter. Piso schlüpfte – kein Mensch hätte ihm das zugetraut – freiwillig in die grüne Feldjägeruniform. Zwei Jahre schlug er sich in allen Teilen Italiens herum, und von den zweien schien keines das andere zu entbehren.

Spät nachts vor dem Abmarsch zur Truppe suchte Piso seine Freundin noch im Laden. Er war sicher, daß sie wartete. Sie tat, als ob sie die halbe Nacht an einem pressanten Werk arbeiten müsse. Als er in der buntgrünen Uniform vor ihr stand, wurden beide verlegen, grübelten nach Worten und wußten nicht einmal, ob sie sich umarmen sollten. Daß sie einander so sonderbar fern ständen, fühlten beide gleich schmerzhaft.

»Bücher binden, immer Bücher binden?« fragte er nachlässig. Aber seine schöne Stimme war heiser.

Sie rang nach Atem und Luft.

»Sag' doch!« befahl er herrischer.

»Immer!« hauchte sie. »Ich kann nicht anders.«

»Dann leb' wohl!«

Geringschätzig zuckte er die Achseln und ging mit flüchtigem Winken der Hand hinaus. Ihr schien, er sei voll von Ferne und Zukunft und vergesse sie leicht.

Aber nie war er ihr so sicher und stattlich vorgekommen wie in dieser blaugrünen Soldatenmontur mit dem flotten Käppi und dem Säbel. Alles Plumpe war verschwunden.

*

Um jene Zeit war Oberst Pigrino schon etliche Jahre im Golzihaus in Pension. Durch ihn gab es wertvolle Kunden in Malas Laden. Der Domherr Massimo ließ den ganzen Cesare Cantu und die Predigten von Segneri binden. Seinetwegen gab die bischöfliche Kanzlei einen Berg amtlicher Erlasse in schweinslederne Folianten. Aber die meisten Aufträge brachte Elvezio, der einzige Sohn des verarmten Aristokraten Paolo dalla Rocca, ein gescheites, elegantes, feingliedriges Herrchen von zweiundzwanzig Nichtstuerjahren. Er brachte alte große Ausgaben von Dante und Ariost, deren dicke Blätter von Mäusen angefressen waren, aber die von wunderlich schönen Bildern im Text wimmelten. Es war eine entsetzliche Mühe, so eine zerrüttete Divina Commedia zurechtzuflicken und ordentlich einzuheften. Fast an jedem Blatt mußte herumgedoktert werden.

Der Vater Paolo dalla Rocca war in ganz Todi verschuldet. Er zahlte auch hier nichts, sondern ließ sich nur immer neue Rechnungen stellen und sagte: »Wartet, bitte, sobald mein Prozeß . . .« Aber niemand glaubte mehr, auch Elvezio nicht, daß dieser Prozeß wegen eines fernen amerikanischen dalla Rocca je eine Lösung fände oder auch nur einen roten Saldo ergäbe. Trotzdem sagte Paolo immer: »Geduld! Sobald der Prozeß . . .«

Elvezio genierte sich darob nicht im mindesten. Er hatte nichts anderes als Schulden erlebt und ihn bedünkte, solche Herren von Adel könnten gar nicht anders handeln. Und Mala, sonst eine so exakte Kassenführerin, dachte plötzlich auch so gewissenlos und bat Elvezio, nur wacker neue Arbeit zu bringen. Sein Vater würde gewiß noch einmal jenen geheimnisvollen, in Perugia anhängigen Prozeß gewinnen. Aber das sagte sie nur so. Seine schöne, noble Gegenwart ging ihr über jede Zahlung.

Die Abenteuer im Orlando furioso kamen an die Reihe, dann Tassos Befreites Jerusalem und Alfieris Saul. Alles war ihr neu. Nun griff man zu den Promessi Sposi. Das züchtige Fräulein Mala hatte sich ganz und gar in die üppigen Szenen des Orlando vernarrt. Aber bei der Lucia Mondella atmete sie wieder erfrischt und reinlich auf. Elvezio freilich behauptete mit einem bübischen Hochmut, auch er wäre imstande, eine hübsche Geliebte zu entführen, aber ohne Helfershelfer täte er den Streich.

Als er das behauptete und sie lustig musterte, der schmale, feingesichtige Junker, mit der kühlen Nase, der scherzhaften, bleichen Lippe und den Augen wie blitzende Silbermonde, da erschauderte sie wie in einem Schüttelfrost, bückte sich tief zum Buche nieder und konnte ein Weilchen keinen Atem tun. Sie hatte zwar ähnliche, wenn auch nicht so mächtige Erschütterungen beim Lesen wilder, gefährlicher Rittergeschichten erlebt. Immerhin, von diesem Augenblick an war Piso ausgewischt, und Tag und Nacht stand der Jüngling mit der geschmeidigen Gestalt, dem kühnen Wort und den weißen Funken im Auge vor ihr.

Stundenlang blieb er in der Libreria. Nie gab er ihr die Hand, die zarte Faulenzerhand. Dazu stand er noch zu hoch. Aber je länger er erzählte und je mehr ihr Zuhorchen ihn labte, ihr Verstehen und Nicken ihn stolz machte, ihr Staunen ihn beglückte, und je heller er dieses hübsche, rotwangige, reine Gesicht unter seinem Aug' und Mund aufglänzen sah wie eine frische Flut unter der Sonne, um so heftiger zwang es ihn, wiederzukommen und sie wieder so willig und leuchtend unter ihm zu sehen. Denn er saß immer auf der Tischecke, die Füße wippend, und blickte wie ein junger Gott auf das arbeitende und lauschende Menschenkind hinunter.

O ja, da war nun einer wirklich gekommen, so glänzend wie nur je die, von denen die Romane singen. Er hauste in einem zerfallenden Herrschaftshaus, bei seinem verschuldeten Vater, freilich, freilich. Aber Schulden, Zerfall, Staub und graue Armut, einerlei, er schimmerte nur um so sonniger durch diese Verfinsterung des Lebens hindurch. Sie wußte nicht, was mit ihr geschah, blinzelte mit ihren verschleierten Augen über den Arbeitstisch zum Fenster, als versuchte sie zu fliehen, aber merkte gut, daß dieser Bursche nicht bloß ihre Stube, sondern ihre ganze kleine Welt füllte.

Und er? Wer kann herausbuchstabieren, wie das schrittweise vor sich geht, von der Neugier und Herablassung zur Aufmerksamkeit, von der Aufmerksamkeit zum wärmern Interesse, vom Interesse zur Zuneigung und von ihr, der noch so milden Lampe, zur Feuersbrunst der Liebe. Elvezio wußte nach wenigen Wochen, daß er ihr Herr, aber sie zugleich seine Herrin geworden sei.

Aber bald war Mala in diesen Gefühlen die besonnenere. Er dachte an gar nichts, als diese schöne gute Kleine einmal, wenn es sein konnte, bald zu besitzen. Um alles andere kümmerte er sich nicht. Sie jedoch gewann beim Buchbinden, wo man genau, vorsichtig und beinahe kleinlich, aber auch recht solid hantieren muß, immer wieder soviel Überlegung, um sich zu fragen, ob das etwas Haltbares sei, dieses so merkwürdig hereingeplumpste Ereignis, ob es Wurzeln habe, ob Elvezio brenne oder nur flackere . . .

Und wie es mit dem Buchbinden wäre? Ob sie das so weitertreiben dürfe? Denn in seinem verlotterten Hause nichtstuerisch sitzen, frieren, magere Kost essen und unbezahlte Rechnungen studieren, nein, das hielte ihr flinkes Wesen nicht aus. Ja, diese Schulden. Wer zahlt denn die einmal? Etwa sie mit ihrem Buchbindervermögen?

Bei solchen Fragen verflogen die romantischen Liebhabereien. Ihre angeborne Nüchternheit regte sich wieder. Lesen ist nicht Leben. Dort mag man schwärmen, hier heißt es rechnen. Sie liebte Elvezio, o kein Zweifel. Dennoch nahm sie sich oft am Ohr und fragte, ob das der richtige Mann für sie sei, nicht eher ihr Prinz aus einem Märchen, ihr Traum, ihr Biskuit?

›Wir müssen uns einmal noch ganz gehörig aussprechen‹, schloß sie.

*

Die beiden Schwestern Serra hätten Mala zu gern mit ihrem Bruder Piso verheiratet gesehen. Sie schienen kurzsichtige, beinahe einfältige Jungfern zu sein. Aber sie hatten sehr gut erkannt, wie es um Piso stand. Vor dem dalla Rocca warnten sie sozusagen mit Händen und Füßen. Seine Besuche waren ihnen ein Greuel. Diese Familie sei am Aussterben, habe kein frisches Blut mehr, Cadaveri!

Das machte Malas Herz nicht schwer. Sie fühlte sich frisch und flink für hundert Matte. Die Aussprache mit Elvezio verschob sie von den Wochen in die Monate, obwohl ihr Rechnungssinn sehr danach dürstete. Er selbst drängte auch gar nicht zur Verlobung und tat auch nicht so stürmisch wie Piso einst, wenn er liebkoste. Es war eine gewisse wohltuende Vornehmheit in allem, was er tat. Er fühlte sich ihrer auch so sicher wie eines hübschen Vogels im Käfig.

Ringsum in den Provinzen knallte und stob es von Kampf. Gerne hätte auch Elvezio zum Degen gegriffen. Das Blut der alten Barone meldete sich leise. Doch er würde für die alten Herrschaften, nicht für die neue, protzige Einheitsregierung fechten. Sein Vater erklärte aber, das wäre nutzlos. Der Piemontese habe den Glücksstern an den Schnauzzipfeln hängen. Da wäre es schade, einen einzigen Tropfen Schweiß zu vergießen.

In der Tat folgten Vittorio Emmanueles Siege Schlag auf Schlag. Rom fiel, Neapel war sein, der letzte Widerstand zerstob im Winde.

Von Piso Serra wußte man nichts Gewisses. Es verlautete, er sei ein rühiger Offizier geworden, habe eine schwere Kopfwunde erlitten, ein paar Frechheiten von Rang verübt und sei rasch zum Hauptmann emporgestiegen, der Jüngste von allen! Aber selbst Oberst Pigrino konnte diese Berichte nicht bestätigen. Piso selbst hatte nie eine Zeile geschickt.

Dann ward es wieder lange totenstill. Die Serra verloren den Vater und ließen die Trauerbotschaft ans Regiment abgehen, in dem sie Piso wußten. Aber es kam keine Antwort. Nun forschten sie durch bekannte Militärpersonen nach dem Bruder und wurden immer ängstlicher, da niemand etwas vom Gesuchten erfahren hatte. »Es hat ihn gewiß eine Kugel getroffen«, klagte Schwester Mira. »Nein,« widersprach Mara. »ich glaube, ein Degenstoß hat ihn getötet.« Und die von der Kugel und die vom Degenstoß weinten abendelang.

Interessant wurden die Dispute zwischen dem Oberst und dem Domherrn. Pigrino schenkte dem Freunde keine schwarze Botschaft.

»Bei Forli sind die Päpstlichen gewichen.«

»Aber der Erzbischof von Bologna schleuderte den Bann.«

»Jetzt geht es auf Rom.«

»Der Papst exkommunizierte den König.«

»Trotzdem gibt es ein einiges Italien.«

»Aber eine uneinige italienische Seele!« –

Das Jüngferchen Mala mußte um diese Zeit viele militärische Flugblätter, Feldberichte und Soldatenzeitungen in Hefte binden. Zuerst hatte sie jede Zeile gelesen. Dann langweilte sie der Text, da es immer ums gleiche ging, und sie schnürte und leimte die Blätter unbesehen.

Einst, beim Zurechtlegen solcher losen Berichte vom Felde, klagte Elvezio ihr neuerdings, wie gerne er ein bißchen mitgekämpft hätte. Aber nun hätten die alten Parteien alles verspielt. Überdies meine der Vater, er, Elvezio, hielte die Strapazen nicht aus. Er verfiele der Gicht. Die dalla Rocca bekämen sie ohnehin alle schon früh. Der Vater könne oft keinen Finger bewegen.

Mala war heimlich zufrieden, daß Elvezio daheim blieb. Dennoch spürte sie etwas Abkühlendes bei seiner Erzählung von der Gicht über sich gehen. So ein sauberer, heller, feiner Jüngling, so gescheit und gelenk! Und rieselte dahinter doch jenes dünne, träge Blut, wovon die Schwestern Serra sprachen?

»Es ist wahr,« fuhr Elvezio fort, während Mala die Bogen nach dem Datum ordnete, »ich habe keine Kraft in der Hand. Ein Gewehr könnte ich nicht lange hochheben.« – Er breitete seine schlanken, blaßgeäderten Hände vor ihr wie ein Spitzenwerk aus. Wirklich Nonnenhände! Mala hätte sie küssen mögen, und doch erschien ihr Elvezio im gleichen Augenblick unmännlich. Wieder ging etwas Erkältendes über sie. Wohl lag in seinen Augen eine große Macht. Aber alles andere war zu fein. Auch die langen, schmalen Füße, die er aus den Sandalenriemen lose heraushängen ließ, ach, das war doch nichts, um fest im Boden zu wurzeln. Das tanzte vielmehr. Wo war der Held?

Dennoch streichelte sie ihn von ihrer tiefen Stabelle aus über das Rist. Er saß auf der Tischecke, und seine Herrensohlen hingen fast in ihren Schoß hinunter. Dann aber kam zur Zartheit etwas Zänkisches über sie.

»Was willst du denn eigentlich tun, Elvezio, wenn wir verheiratet sind? Das möcht' ich einmal wissen.«

Er sah sie verwundert an mit seinen Silbermonden.

»Du bist doch aus der Universität weggelaufen und wolltest nicht länger die Rechte studieren. Und seitdem tatest du nichts. Und ins Militär kannst du also auch nicht. Ja. was bleibt dann?« – Mala wurde im Sprechen immer sicherer.

Da lachte er ihr ganz köstlich ins Gesicht.

»Nein, ohne Spaß,« drängte sie, »was willst du tun?«

»Nichts, gar nichts!«

»Aber . . .«

»Das heißt lesen werde ich, das Stammhaus hüten, meine Güter . . . die alten Urkunden vom Dachboden holen und sortieren. O es wird nie langweilig. Vielleicht schreib' ich an der Chronik der dalla Rocca im Winter.«

»Aber«, wagte Mala, »deine Güter sind doch alle überschuldet. Das rinnt dir durch die Finger weg wie Wasser, wenn du nichts verdienst.«

»O so weit ist es noch lange nicht«, erwiderte der Jüngling sorglos. »Mein Vater findet immer Auswege.«

»Und ich? Was ist dann mit mir?«

»Du? Was denn? Du bist doch bei mir und machst mir das Leben schön.« Er spielte in ihrem Haar . . . »Ich diktiere dir unsere Chronik.«

»Und die Buchbinderei?« Sie versuchte, das Haar los zu bekommen, aber er erwischte eine andere Flechte und küßte sie.

»Verkaufen wir! Siehst du, da gibt es ja schon Geld. Nein, nein, Kleine, da ist keine Not.« – Er begann mit den Beinen elegant hin und her zu wippen.

Jetzt riß sich Mala los Ihr war, als hätte man sie mitten auf den Kopf geschlagen. Nein, auf diese Art dachte sie sich weder die Heirat, noch die Zukunft, noch überhaupt eine richtige Liebe.

»Und ich soll aufstecken? Kein Buch mehr binden?«

»Ha, ha, ha, du Plebejerin!« Er lachte, daß seine blassen Lippen safteten.

»Im Ernst, Elvezio!«

»Wo denkst du hin, Kind!« widersprach er nun vernünftiger. »Das würde mein Vater nicht zugeben. Ich muß froh sein . . .« Er zauderte.

»Was mußt du froh sein?« zwängte sie rasch.

»Daß . . . daß er mich nach meinem Herzen heiraten läßt. Er versteht das nicht. Auch ich verstand es früher nicht, daß . . .« Wieder zögerte er.

»Rede, rede!«

»Daß ein dalla Rocca eine Bürgerliche ehelicht!«

Sie wollte aufspringen. Er drückte sie nieder. »Seit ich dich kenne, bist du mir zehnmal mehr als die ganze Nobiltà von Perugia. Da! da! Liebe.« Er wollte ihre Stirne küssen. Sein Gesicht glänzte von Zufriedenheit. Aber sie wich zurück und starrte ihn offenen Mundes an.

»Aber Elvezio!« flehte sie fassungslos.

»Ach, jetzt mach' dir doch keine Sorgen. Es kommt schon alles von selbst gut.«

Nein, niemals wird sie diesen Laden aufgeben, so wenig als sie eine Weinlaube daraus machen würde. In diesem braun getäfelten Stübchen zu ebener Erde steckt das Glück der Golzi durch viele zufriedene Buchbindergeschlechter, steckt auch ihr eigenes Kindes- und Jugendglück. Nötig genug wird sie übrigens für so einen nobeln Tunichtgut kleistern und helfen müssen. Nein, immer wird sie Bücher binden, selbst wenn sie Königin würde und auf einem Thron sitzen müßte, würde sie Pappendeckel und Gummi mitnehmen.

Doch für heute will sie nicht weiter streiten. Sie legt Bogen auf Bogen, notiert: fünf, sechs, sieben, lächelt wie um Verzeihung zum herrlichen Prinzen empor, der so einen Zauber über sie ausübt, und sagt beschwichtigend: »Ja, reden wir später dav . . .«

In diesem Augenblick will ihr der Puls stocken. »Piso Serra« sieht sie auf der ersten Seite eines Bogens dick gedruckt aus dem Text springen. Sie fuhr sich ins Haar, ob sie denn träume. Nein, da stand es noch immer schwarz auf weiß und erlosch nicht. Und sofort sah sie die blaugrüne Uniform der Feldjäger, den Säbel, das Käppi schief und hörte seinen stolzen Schritt zum Laden hinaus. Wieder sah sie schmerzlich zur Schwelle. Totes erwachte unglaublich frisch.

»Was hast du?« fragte Elvezio und hob mit zwei Fingern ihr Kinn empor. »Was steht da?«

»Etwas von Piso,« stotterte sie scheu, »von Piso, dem Kameraden dieses Hauses . . .«

»Ah, der mit der Negerlefze, der?« scherzte Elvezio von oben herab.

»Gar nicht mit der Negerlippe, pfui, wie du redest! Er hat einen schönen Mund und pfiff . . . o wie er pfeifen konnte! Wie ein Engel.«

»Pfeifen denn die Engel?« spottete Elvezio »Ich glaubte, sie sängen bloß.«

»Ach, du wenigstens kannst nicht so pfeifen.«

»Nein,« gestand Elvezio, »ich bekomme zu wenig Luft in die Kehle. Der Atem ist zu kurz.«

»O Piso hatte Luft, daß einem vor Wind das Haar aufwirbelte.«

Sie erschrak, sowie ihr das entschlüpft war. Aber Elvezio kannte keinen Argwohn. – »Das hätte ich hören mögen. Er muß uns zur Hochzeit pfeifen«, scherzte er.

Sie schwieg. Ihre Lippen zitterten.

»Nun, so lies, was da von ihm steht!«

»Lies du!«

»Ich bin zu faul, ich höre lieber zu« – Er reichte ihr das Blatt. »Da!« Seine Stimme näselte, wenn er anfing zu befehlen. Auch das fiel ihr jetzt auf und dünkte sie unangenehm.

Die Buchstaben hüpften ihr wie Heuschrecken auf einer Wiese hin und her. Nicht Elvezios Befehl, die Neugier trieb sie zu lesen:

»Piso Serra, der Ulisse von Todi!

Im Geplänkel, das am 13. Mai auf der Straße nach Sulmona zwischen den Unsrigen und den Sizilischen stattfand und mehr einer Spielerei als einem Gefecht glich, ließen sich zehn Mann von der fünften etruskischen Jägerkompanie trotz der Warnung des jungen Leutnants Serra in einen Verhau locken, wurden umstellt und mußten, um nicht wie zusammengetriebenes Wild niedergeknallt zu werden, in den dortigen Steinbruch kriechen.

Piso Serra schlich nun nachts voll Staub und Sand, in elenden Steinhauerhosen, mit Axt und Stemmeisen, als ob er aus dem Loch hervorkäme, zu den Feinden oben am Ranft und erzählte, er habe da drinnen geschlafen. Da hätten die Teufelskerle ihn überrumpelt, niedergehauen und seine Zehrung aufgefressen.«

Mala mußte vor Aufregung innehalten.

»Weiter«, gebot der feine Herr über ihr.

»Als er erwacht sei, habe er die Burschen durch die Gänge stolpern hören. Er aber sei durch den richtigen Stollen, der beim Spiellobach münde, leise entflohen. Nach kurzem würden die Soldaten wohl auch diesen Weg finden.

Er zeigte eine grausige Wunde überm linken Ohr. Das Haar war da ein gutes Stück ausgerissen und die Kopfhaut in Fetzen.«

Wieder mußte Mala absetzen.

»Gott, wie übel du liesest«, schimpfte Elvezio. »Gib doch auf die Worte acht!«

»Er konnte nur noch sagen: ›Wasser! . . . lauft rechts über den Pingonhügel . . . Spiellobach . . . aber zwei da . . . bleiben . . . still! . . .‹ und fiel in Ohnmacht.«

Immer trauriger las Mala. Jetzt ließ sie die Hand sinken. Tränen tropften aufs Papier.

»Wie wunderlich du tust! Schau' mich an!« herrschte Elvezio zur Leserin und strahlte sein himmlisches Silber über sie aus und lachte voll gesunder Neugier ins Papier. »Acht wohl, Kleine, das ist eine Finte deines Piso. Der famose Kerl! Pfeifen muß er uns zur Hochzeit. Hip, hip!«

»Zuerst dachten die Sizilianer an einen Schwindler. Aber die Ohnmacht war echt. Alle bis auf drei Mann sprangen über den Hügel. Diese hier wuschen dem Elenden die Wunde und flößten ihm Schnaps ein. Da kam er zu sich und klapperte vor Fieberfrost mit den Zähnen, aber sagte: ›Nicht so ein weißer Verband, da sähe man uns. Gebt mir eine schwarze Binde, so. Nun schnell zum Eingang. Blockieren wir ihn, daß die Blaugrünen nicht im Haufen herausfliehen können. Wir drei wären zu schwach.‹

Jetzt las das Jüngferchen leichter und froher.

»Gesagt, getan. Sie lösten Gurt und Säbel, packten Steine und wälzten sie gegen das Loch. Aber in diesem Moment sahen sie vier Pistolen aus der Höhle auf sie gerichtet. Hände hoch! Aufs Knie! Die zehn springen heraus, binden die Gegner mit ihren eigenen Gürteln und reiten mit ihnen flugs zur Truppe. Aber Piso behandelt die zwei Gefangenen sehr nobel, füttert und tränkt sie unterwegs wie Säuglinge und verspricht ihnen rasche Auswechslung. Aber an die Steinwand hat er noch den Spruch geschmiert: E vivano le marmotte che ingannano le volpi. Man mußte lachen durch die ganze Provinz. Denn der Führer der feindlichen Reitertruppe hieß Andrea Volpi.«

Eher gesungen als gelesen flossen diese Zeilen über Malas Lippen. Sie jubelte geradezu, während Elvezio sich vor Lachen schüttelte und ein übers andere Mal rief: »Der Tausendsassa!«

Da hob Mala den Finger sorglich und endigte gedämpft:

»Aber die Wunde, die sich der Held beigebracht hatte, um das Stück recht glaubhaft zu spielen, war ernster Natur. Piso Golzi schwebte wochenlang zwischen Leben und Tod. Jetzt ist er genesen, bekam den Hauptmannsstreifen und wird von der Kompanie vergöttert. Sie nennen ihn den Ulisse von Todi. Ja, Italien, du geeintes Vaterland, du hast deine Hektor, Achilles und Ulisse wie nur je das tapfere Hellas!« . . .

Mala schwieg und versank im Lob des Kameraden wie in einem tiefen, wohligen Meer. Aber Elvezio musterte unwillig seine dünnen Handgelenke und zierlichen Füße. Ein leiser Verdruß umspülte ihn, daß er nicht wie ein Leu oder doch wie ein solches Murmeltier an derlei Abenteuern mitregieren konnte. Aber er dachte auch an den Schmutz und Staub jener Löcher und an das kahle Stück Schädel Pisos und gewann rasch das Gleichgewicht zurück.

»Das muß ich sogleich den Schwestern oben vorlesen«, schrie Mala plötzlich und schnellte vom Sessel auf. »Komm mit!« Und ohne zu warten, hüpfte sie die Stiegen empor. Großmütig, als schenke er unverdient viel Ehre, folgte Elvezio langsam in die Wirtsstube und stieß mit den drei Jungfern sein Glas Spoletaner auf den neuen Ulisse an. Aber er fand die Geschichte zum zweitenmal schon etwas langweilig und begriff nicht, wie Mala sie nochmals so begeistert vorlesen konnte. Schließlich war es doch nur ein Gastwirtsbub mit dunkler Negerlefz . . . Negerlippe.

*

Von da an schwankte die Buchbinderstochter zwischen zwei peinlichsüßen Gefühlen. Sie liebte Elvezio mit der vollen Freude des Besitzes; und doch quälte sie ein wehmütiges Heimweh nach Piso Serra. Das ganze Städtchen hörte sie von ihm reden. Man wünschte ihn heim, um ihm ein Fest zu bereiten. Die Schwestern Serra schwebten in einem Gewölke von Rührung und Stolz, und wenn sie den Gästen das Glas einschenkten, überlief es jedesmal.

»O wir sind blind vor Freude«, entschuldigten sie. »Unser Piso, so einer, denkt doch!«

Dann verkroch sich Mala vor aller Anfechtung wieder in ihre altgewohnte Buchbinderei, las vergilbte Blätter, die sie zusammenheften sollte, nistete stundenlang in den Turmgelassen, Palästen und Kohlmeilern jener biedern Erzählungen und vergaß dabei sogar ein Weilchen, daß es daneben einen Piso und Elvezio gab. ›Liebst du denn eigentlich niemand?‹ warnte sie dann das Gewissen. ›Liebst du wohl nur das Erdichtete?‹

Eines Tages brachte Elvezio eine prachtvoll illustrierte, aber leider gründlich verlumpte Ausgabe der Odysse. Er las daraus ganz Herrliches, während das Golzifräulein im Papier herumschneiderte, aber immer wieder innehielt, um dem Leser ins Gesicht zu schauen. Dann klang das schöne Lied noch schöner. Was für Männer gab es da, helle, starke, geschmeidige, einer den andern überstrahlend! Natürlich, Elvezio war Achilles, so schlank, fein, schnell, mit so unerbittlichen Augen und die Lippe so unberührbar, stolz, schier etwas Göttliches. Ohne es zu merken, streichelte sie die auf ihren Schemel niederhangenden, behenden, zarten Füße des Jünglings. O wie sie ihn gerade jetzt verehrte! Und wieviel sie in ihn hineindichtete!

Aber dann gab es da einen Odysseus oder Ulisse. Kein Zweifel, das war Piso, der schlaue Bursche mit den fleckigen Katzenaugen, dem gelben Gesicht, aber dem großen vollen Mund, der so scheu schwieg und so süß pfiff. Aber Achill ist viel prächtiger.

Eine merkwürdige, abenteuerliche Sucht faßte sie, ihn auch wirklich als Achill im Leben, nicht nur im Lesen zu erschauen. Er sollte einen Helm aufsetzen, eine schimmernde Uniform umtun, einen Degen schwingen, in hohen Reiterstiefeln über die Böden knarren oder auf einem glühen Rappen durchs Feld stürmen . . . Achill, Achill!

Und sie begann ihm davon vorzureden, ihm solches auszumalen, beinahe mit nassen Augen ihn darum zu bitten. Doch er schüttelte den Kopf, nahm sie zornig an beiden Backen und biß ihr in die Lippe. Ob sie seiner schon überdrüssig sei, ihn forthaben, in eine Flintenkugel jagen wolle? Nichts da! Jetzt habe er sie mit den Zähnen gezeichnet. Da lasse ein dalla Rocca nicht mehr von der Beute. »Schau' meine Hände, wie dünn, wie bleich meine Fingernägel, wie wenig Blut ist in meiner Lippe! Da kann ich nicht noch Blut verspritzen. 's ist doch auch kein homerisches Ringen. Nein, Blut saugen muß ich von dir, Schätzchen. Blutsauger hieß man uns doch vor alters. Ich habe Durst, Kleine. Bald muß die Hochzeit sein, bald!«

Er mußte über die eigenen Worte lachen. Gerne überhob er sich in grausamen Gebieterworten. Aber dann spottete er sich selbst mit einem freundlichen Lachen aus. Denn er besaß keine Härte, keine Bosheit, nichts Gewalttätiges. Er war ein innerlich zäher, ruhiger Charakter, nach außen ein selbstliebender, froher Faulpelz, der auch allen andern wohlwollte, die ihm mit Respekt und Gefälligkeit begegneten.

»Sag', was du willst, Elvezio,« schwärmte das Ladenfräulein, »aber du solltest wirklich ein paar Monate in den Krieg.«

»Nie mehr will ich das hören«, befahl er jetzt drohend. »Soll ich mir etwa auch die Kopfhaut abreißen?« – Er strich das Haar, daß wie blaßbraune Seide glänzte. über die zierlich geschneckelten Ohren hinunter. Aber in diesem Moment sah Mala den Piso im schwarzen Verband, das Haar struppig, die Hosen verschmiert, die Katzenaugen siegreich leuchtend und aus der dunkeln Lippe das süßeste, duftigste Triumphlied pfeifend. Mit einer wahren Andacht dachte sie an ihn, und Elvezios Glanz verblaßte ein wenig. Er war doch nicht Achill, nein. Eher der hübsche Paris. Der war auch etwas frech und ein vornehmer Aristokrat und schöner als alle andern, so daß die Mädchen ihn wie die Mücken einer Nachtlaterne umschwirrten. Ja, das war der Helenaräuber. Sie hatte er geraubt. Wie eigentlich? Im offenen Kampf? Mit Sturm? Im Duell mit Piso? Warum nicht gar! In den Sandalen und Seidenstrümpfen, mit Visiten, Geschichtlein und hundert Zierlichkeiten gewann er sie. Nun, auch so einem Paris konnte man sich ergeben. Freilich, jener Ulisse in der Ferne war eine großartigere Gestalt, sie wuchs unheimlich und warf einen erstaunlichen Schatten bis in den Buchbinderladen. Der guten Mala bangte vor ihm.

*


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