Heinrich Federer
Unter südlichen Sonnen und Menschen
Heinrich Federer

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Es kam nun schließlich doch zur Verlobung, und etliche Wochen später, an einem Sonnabend, da alle Glocken Todis das geeinte Italien vom Felsen hinunterläuteten, forderte Elvezio die rasche Heirat. Sei es, daß Mala zu viel von Piso sprach, sei es, daß Elvezio von dessen Heimkehr Hindernisse befürchtete, einerlei, er bekam plötzlich eine fieberhafte Eile zum Trauring und Altar. Aber nochmals schob Mala die Sache auf.

An einem sonnigen Spätnachmittag stieg Elvezio mit mißfärbigem Gesicht, arg verschwollenen Augen, aber leichtfüßiger als je vom wurmstichigen Palast zum Laden hinunter. Er war bis Mittag im Bett gelegen, um den Wein auszuschlafen, mit dem Vater und Sohn in der Bibliothek einen unerwarteten Glücksfall bis tief in den Morgen gesegnet hatten. Elvezio war das Bechern und Verjubeln der Nacht nicht gewohnt, darum sah er so zerfallen aus.

Die Sache aber war, daß der Prozeß wegen des amerikanischen dalla Rocca sich zugunsten der Linie in Todi entschieden hatte.

Vor etwa dreißig Jahren hatte die Familie einen jungen unverbesserlichen und unerträglichen Sprossen mit dreihundert Goldstücken nach Amerika spediert. Dort hatte die derbe Faust des neuen Weltteils den lockern Gino gehörig durch Not und Schweiß geschüttelt und zu einem Hauptkerl von Arbeit und Erfolg erzogen. Er wollte die blutarme Sippe in Europa vergessen, nur hätte er gerne eine Landsmännin geheiratet, um wenigstens ein bißchen Vaterland in der Pflanzung auf Florida zu erhalten. Aber im Drang der Geschäfte kam er nie dazu. Auch war sein Herz von den frühern Irrungen ziemlich ausgebrannt. Als er nun endlich als hoher Vierziger sich zu einer schnellen, sozusagen geschäftsmäßigen Brautreise nach Italien einschiffte, starb er auf dem verseuchten Dampfer an den Blattern. Paolo Rocca und ein Eugenio von Perugia kamen als sehr ferne Vettern, aber doch als die nächsten Erben in Betracht. Nach und nach ergab sich die Lage jenes Eugenio, eines vermöglichen, ältern Bankiers, als die aussichtsreichere. Einzig weigerte sich jener eingefleischte Umbrier, nach Amerika zu fahren, was laut Testament vom allfälligen Erben bedingungslos verlangt wurde. Er müsse sich persönlich verpflichten, so viele Jahre die Pflanzung selbst zu verwalten, wie der Erblasser es getan. Das wären beinahe dreißig Jahre. Er müsse auch aus dem schlaffen Italiener ein frischer Amerikaner werden. Aber es ging um Millionen.

Nun besaß jener Eugenio einen sechzehnjährigen Sohn. Sowie er mündig würde, übernähme der Junge den überseeischen Besitz. Dieses Verdrehen und Verschleppen des Streites focht Paolo als gesetzwidrig an. Neues Hin und Her. Da half der Löser aller Prozesse, der Tod. Jener Knabe focht in der Romagna wie viele Halbwüchsige mit und verschwand plötzlich. Sicher war er irgendwo gefallen und unerkannt verschüttet. Aber ein Totenzettel lag nicht vor, und der Bankier erstrebte immer neue Fristen für den Fall, daß sein Sohn doch noch lebte, heimkehrte und das Erbe fassen könnte.

Gestern, spät am Abend, kam nun die behördliche Einladung an Paolo dalla Rocca, daß die Güter in Florida ihm zugesprochen würden, wenn er nur in zwei Wochen die Klausel unterschreibe. Man merkte es dem Texte an, wie sehnsüchtig der Fiskus beide Arme nach einem Nein ausstreckte. Denn dann fiel alles in seinen Sack.

Paolo und Elvezio hatten längst nicht mehr an diese goldene Möglichkeit gedacht. Zuerst sahen sie nur die Millionen. Rob, der steife, an Hunger und Faulheit gewöhnte Hausdiener, mußte Champagner holen, und die zwei dalla Rocca tranken sich ins Morgenrot eines neuen, reichen Lebens hinein.

Freilich, die Klausel! Elvezio reiste gerne zum Zeitvertreib und Goldholen übers Meer. Aber dreißig Jahre dort auf einer stadtfernen, fremden, wilden Plantage zu wohnen, ging auch ihm schwierig genug ein. Indessen – eine solche Gelegenheit, aus dem Armuts- und Schuldensumpf zu Macht zu gelangen, gab es nicht mehr. Zum erstenmal im Leben hörte Elvezio den Vater sagen: »Ich bin ein Bettler. Willst du auch einer sein?«

So beschlossen sie, man müsse mit allen zehn Fingern zugreifen. Es gab doch auch viel Tröstliches. Elvezio würde fleißig Geld schicken, dann und wann monatelang mit Negerdienern und Pferden auf Besuch kommen und – das Liebste von allem – er nähme gleich die Mala Golzi als Gattin mit. Dieser Gedanke entzückte ihn. So führen sie Arm in Arm übers grüne Riesenwasser und hätten gleich im wildfremden Florida ein warmes Nestchen.

Fröhlich hüpfte der Junker an San Fortunato vorbei und trällerte dazu die alte Volksweise: »Se venisse il frate e disse: non sposar! . . .« Er hörte den Freudenschrei Malas voraus und sah, wie sie die Arme reisefroh zum Fenster hinausstreckte.

Da und dort hingen rote Teppiche wie am Fronleichnamstag aus den Fenstern. Man sah Blumenstöcke, Girlanden, Kränze an den Türen, Fähnlein an den Balkonen. Elvezio fragte gar nicht, was das bedeute. Er fand es selbstverständlich in seinem Jubel und wiederholte: »Se venisse il frate e disse: non sposar!« und nickte jedesmal: »Doch, doch, sposar!«

»He, he«, rief ihm da der Oberst Pigrino zu. »Wohin so lustig? Wer ist es, Don Massimo?«

Aber der Domherr sah eben die alte, unfertige Baute und schalt: »Diese Fassade, ach, diese Fassade wird nie fertig, miserable Zeiten!«

»Elvezio dalla Rocca«, gab sich der Jüngling zu erkennen.

»Ah, du willst zur Libreria. Mußt dich beeilen. Piso kommt.«

»O,« widersprach Don Massimo, »überlauf dich nur nicht. Ihr kommt alle zu früh oder zu spät. Ich kenne die Golzi.«

»Was heißt jetzt das wieder?« fragte Pigrino.

»Das sind Leute, die sich nie entschließen können. So war's mit der Mutter selig. Man hat ihr den Gemahl fast anschmieden müssen. Und er war auch ein Golzi und hätte hundert Jahre gewartet. Sie sind freundlich, sie lieben beinahe, haben gern Freunde, aber dann, so um die elf, bleibt der Zeiger stehen. Die Uhr tickt schon weiter. Aber der Zeiger bekommt Angst vor der zwölf und bleibt stehen.«

»Eine sonderbare Alte war die Nina, Ihr habt recht. Immer hat sie das, was sie las, und das, was sie erlebte, miteinander verwechselt . . . Ah,« der Oberst scharrte mit den Stiefeln, »ah, Piazza Pignattara. Freund, Freund, hier wenigstens hab' ich's nicht gelesen, sondern erlebt: das Kloster ist sauber gefegt von den Dunkelmännern!«

»Wer redet denn von Dunkelmännern, wenn ihn Gott selbst mit der tiefsten Dunkelheit schlug«, wollte der Canonico zum ixtenmal sagen. Aber Elvezio kam ihm zuvor und fragte: »Hochwürden, wieso komm' ich auch zu Jungfer Mala zu früh oder zu spät? Wir sind doch Verlobte.«

»Verlobte!« lächelte Don Massimo und schwenkte den bezottelten Muschelhut. »Da steht der Zeiger noch immer auf elf.«

»O ich habe einen Magnet, der ihn auf zwölf zieht«, betonte der Junker.

»Auch Piso hat einen Magnet. Siehst du nichts?« Der Domherr zeigte auf die Farben und Fahnen der Häuser. »Piso kommt morgen. Schon rüstet man.«

»Und sein Magnet ist ein Lorbeer«, fügte der Oberst hinzu.

»Der meinige ist von Gold und Adel.«

Damit maß der junge Herr überlegen das greise Kameradenpaar, grüßte und sprang weiter.

»Auch von Gold?« sagte Don Massimo verwundert.

»Gold und dalla Rocca!« lachte Pigrino. »Schaumgold!«

»Ach, lieber Freund,« bat der Geistliche leise, »was ist denn eigentlich nicht Schaum? Mein Altes und dein Neues auch! Seifenblasen, und jede platzt.«

»Bitte, keine Predigt, liebes Pfäfflein.«

*

Als Elvezio in den Laden sprang, hatte Mala gerade eine Historie der Santa Teresa unter den Händen. Sie trennte die Bogen aus dem alten Rücken und las Stück für Stück von dieser außerordentlichen, männerbeherrschenden und doch so unterwürfigen Frau. Wie sie voll Leidenschaft und voll Ruhe war wie ein tiefes Wasser! Sie diente allem und gebot allem. Klein wie Spielzeug erschien um diese Mächtige das Küssen und Kosen verliebter Jugend.

Mala wurde ernst. Sie lehnte sich ins Stühlchen zurück und hielt die Hand vors Auge. O diese liebe Buchbinderei, diese Zuflucht, dieser Trost, dieses Heim! Sie hat den Piso gehen lassen, sie wird auch den Elvezio lieber als ihr teures Klecks- und Klebeamt verabschieden. Hier wurzelt sie; hier bleibt sie.

Es zieht wohl oft das Seelchen dahin, dorthin. Sei klug! Wart', bis der ärgste Wind aufhört. So steht es auch im Theresienbuch. Dann bist du nachher froh genug, daß du nicht im ungewissen verkamst. Bleib bei dir! – Das Buch sagt freilich: bleib beim Gewissen! Ist das denn nicht dasselbe? Wohl, wohl. Mit den zwei Gespanen geht die unsicherste Zukunft, das merkt sie wohl.

Gut, sie wird Elvezio heiraten. Aber sie wird Buchbinderin bleiben. Und er darf nicht mehr faulenzen. Einen Nichtstuer könnte sie nicht dauerhaft lieben. Sie wollen nach und nach die Schulden einlösen, dann soll sich der junge Gemahl an die Bewirtung der Güter machen. Bei Pondero hängt ein verwildertes Gehölze vom Berg. Das gehört ihm. Er soll einen Pfad zur Straße bahnen und dann teures Holz verkaufen. Ein Vermögen verfault jetzt dort. Dann sind die drei Äcker bei Preghia. Er hat sie einem Schlendrian von Pächter sozusagen um nichts vergeben. Nicht Korn, Steine wachsen darauf. Hop, hop! Selber in die Faust nehmen! Sie will Pflug und Geräte kaufen, einen Knecht besolden und für die Stiere aufkommen. Sie hat ja ein hübsches Geld zur Seite, geerbtes viel, erspartes noch mehr.

So kommt der Baron in Wohlstand und wird gut gelitten. Man wählt ihn in die Stadtämter, Sindaco Elvezio dalla Rocca. Er ist gescheit und kann trefflich kommandieren. In ihm steht das niedergeworfene Geschlecht wieder auf und hebt den Kopf hoch.

Derweil er wirtschaftet, wird sie täglich ihre vier, fünf Stunden buchbinden. Daran liegt alles. Von da kommt ihr Kraft, Humor und Geld. Mit Bücherbinden wird sie sich und Elvezio auch das Leben zu einem stattlichen Band zusammenbinden. Am Feierabend, von allem Schaffen gesegnet, lesen sie dann, Wange an Wange, vom Besten zusammen, was sie über Tag gefunden.

Sie rutscht erfrischt auf ihrem Stühlchen herum. Auf diesem Schemel ist sie stark. Hier haftet sie mit Leib und Seele. Auf diesem Schemel will sie dienen und herrschen. Elvezio wird das begrei . . .

»Mala, Malina, Maletta!« rief und stürzte wie ein Windstoß der flotte Bursche selber herein. Nein, nicht wie ein Wind, wie eine Sonne. Die ganze Kammer schien unter seinen Siegeraugen von Licht zu flimmern. – »Kind, wir zwei gehen nach Amerika!«

Sie wehrte mit beiden Händen wie vor einem Tollhäusler. Aber er war schneller und drückte die Widerstrebende an seinen Mund. Und der Duft des herrschenden Geschlechts und einer echten Liebe betäubten sie einen Augenblick.

»Jetzt gilt kein Zaudern mehr«, sagte er mannhaft. »Der Prozeß ist gewonnen. Ich erbe die große Pflanzung in Florida. Aber ich muß hin, muß sie selber leiten, muß . . .«

»Elvezio!« schrie die Jungfer ungläubig.

»Dreißig Jahre lang! Aber das wird wohl nicht so buchstäblich gelten. Amerikanisches Testament, bah!« – Er knipste mit den langen, weißen Fingern.

»Dreißig Jahre . . . ich verstehe nicht . . .«

»Wenn es uns verleidet, gibt es dann schon Auswege, Reisen, Besuche. Aber ich glaube, wir bleiben gerne dort. Dutzende von Dienern, Neger auf den Feldern, großes, bequemes Landhaus, nur zwei Stufen in die Stube, ganz wie hier. Pfirsiche, Trauben, Orangen, reicher Wald, Jagd, liebe Nachbarn, zu denen man reitet, wir halten Feste in einem grünen Laubsaal, und wir kaufen alle kurzweiligen Bücher für den Abend, und du bekommst Gold, alle Schürzen voll zum Reißen . . .«

»Ich verstehe gar nichts«, flehte Mala und wischte sich die schönen Augen wie von einem Schwindel rein. Dann packte sie das Theresienbuch wie eine Waffe und drückte es an die Brust. Auf einmal schien ihr Elvezio, der nach Amerika wollte, ganz fremd.

Als Elvezio ihr das Ereignis nochmals ruhiger erklärt hatte, spitzte sie den Mund scharf wie einen Dolch und sagte fest: »Ich komme nicht mit, ich kann nicht, ich will nicht.«

Elvezio griff nach der Tischkante, so heillos traf ihn diese Antwort. Seine Lippen wurden blau, und in seinen Augen ward es wie Mondfinsternis.

Nein, wirklich nicht. Sie bleibe hier. Es wäre ihr Tod, von Todi wegzugehen. Auch das Buchbinden würde sie nie aufgeben. Ganz anders habe sie sich das Leben mit ihm vorgestellt. Beide würden arbeiten, sie am Tisch hier, er auf seinen Gütern. Dazu hätte ihr Vermögen völlig gereicht. An den Schürzen voll amerikanischem Gold liege ihr nichts. Wie gesagt, für sich habe sie genug Marenghi. Und auch für ihn, wiederholte sie schon etwas schalkhaft, besäße sie mehr als genug.

»Du!?« Beinahe wie ausgespuckt kam dies Wort.

O das hätte er nicht sagen sollen. Vielleicht hätte es doch noch eine Verständigung gegeben, trotz dem nahen Piso und aller Glorie dabei. Dieses Du, in diesem Tone, wie von einem Turm herab auf die Bettlergasse, nie hätte er es aussprechen sollen. Er sah wohl wunderbar vornehm, hart, elfenbeinern aus in diesem Augenblick, er glänzte wie ein kaltheißer Sirius am Nordhimmel. Aber sie konnte nur anstarren, schaudern, kopfschütteln davor. Gott weiß, was sie spürte im hintersten Herzwinkel. Denn dieses Buchbinderinnenherz war doch auch von rotem rauchendem Blut durchsaftet. Aber dieses hochmütig erhabene Du zeigte ihr auf einmal eine feste Schranke zwischen ihnen, die nie umgerissen, nur von der Liebe, diesem Königsadler, überflogen werden konnte. Aber wenn nun die Liebe etwas müder und kleiner würde, nur noch ein Falke oder gar ein Spatz! Wie dann?

Du?!

Vielleicht hätte sie doch noch den Schleier einer reisenden Todifrau umgeworfen, die Schuhe geschnürt, den Laden zugeriegelt und wäre mit ihm gezogen. Denn nicht bloß ihre Augen und ihre Phantasie, sondern auch ihre Liebe hatte etwas Lichtes, Vertrauliches, Hingebungsvolles. Sicher hätte sie von Gummipinsel und Kleistertopf nicht für ewig Abschied genommen, sie hätte sehr wichtig Auf Wiedersehen gesagt und vielleicht einiges Geräte mit übers Meer geschleppt. Aber sie hätte doch ihr Zaudern und ihre Winkelsüße überwunden, und dann wäre das große Leben jenes Weltteils und das größere des Zusammenseins in Fleisch und Blut mit dem bewunderten Jüngling über sie hingegangen und hätte ihr Wesen groß und frei gestaltet.

Aber ein einziges Wort kann töten. Hier geschah es. Vor diesem zu Boden schleudernden Du erlosch ihr Mut und Glauben an ihn. Sie gefror sozusagen in ihrer kleinen, engen Bürgerlichkeit vor diesem Du zu Eis.

Sie redeten nicht mehr viel. Die Sache lag zu klar. Mala hielt sich geduckt, über ihn aber ging eine Art von Versteinerung.

Er war dennoch nicht zornig. Vornehm grüßte er, duldete es leise, daß sie seine schöne Hand suchte und an ihre Lippen drückte und ging dreimal langsamer, als er gekommen war, davon.

Später hieß es, der junge dalla Rocca liege schwer krank in Perugia. Andere sagten, er fahre bereits über den Ozean. Nach vier Monaten erst bekam der Vater eine Post von Florida: fünf, sechs trockene Worte und fünf- oder sechshundert Goldstücke.

*

Als Elvezio hinausgeschritten war, fühlte Fräulein Mala sich so, als wäre etwas Köstliches, Schweres von ihr gefallen. Ja, etwas Köstliches und das machte sie düster, aber auch etwas Schweres, und das ließ sie aufatmen wie schon lange nicht mehr. Hurtig setzte sie sich an die Bogen und begann zu heften.

Der Tag war lang. Nach dem Zunachten sollte sie mit den Schwestern Golzi durch die Stadt spazieren und gucken, wie man für Piso schmückte. Es war nur noch ein Bogen von Santa Teresa einzuhaken. Da stand: »An einem Karfreitag abends kam eine stattliche Jungfer zur Heiligen und gestand, sie liebe einen Jüngling und wisse doch, daß er schlecht sei und Tag für Tag trinke, falsch spiele, Mädchen betöre und die Bauern seines Dorfes elend presse. Sie kämpfe umsonst, aber liebe ihn trotzdem.«

Ob er denn so schön sei, fragte die Santa freundlich.

Nein, eher garstig. Aber er küsse so herrlich und habe Augen so finster und traurig wie die Mitternacht.

Alma dachte an Piso. Ihre Füße zitterten.

»Kommst du endlich? Wir gehen«, riefen die Geschwister Serra.

»Geht nur, ich hole euch schon ein.« Die Mädchen verschwanden vom Fenster.

Ob sie denn meine, ihn retten zu können, fragte Santa Teresa mit seltsamem Lächeln.

Sie wisse nicht. Sie habe nie daran gedacht. Sie liebe einfach ganz maßlos.

Maßlos sei nur Gott. Nichts Menschliches könne maßlos sein. Da irre sie. Jedoch ihre Liebe zu jenem Manne sei noch lange nicht groß genug. Sie müsse über alle Menschenköpfe hinausgehen und bis zu Gottes Füßen reichen. Fast übermenschlich sei das.

Die junge Dame meinte, sie liebe so.

Wenn sie ihn wirklich so liebe, so sollte sie ihn auch retten können, das heißt geben, nur geben! Gar nichts für sich wollen . . . So fange das Retten an . . . Wolle man auch noch einen Profit für sich, viel oder wenig, so habe man schon eine Hand zur Rettung nicht mehr frei. Man müsse ganz unbelastet sein.

Hier hielt Mala inne und fiel in ein langes Nachsinnen.

»Mala!«

Himmel, Erde . . . Mala erbebte. Sie blickte nicht vom Buche auf. Diese schöne, tiefe Stimme klang aus der Zimmerecke, von Piso.

»Mala!«

Sie hielt die Hand vor die Kerze und blickte in den Schatten. Da tauchte etwas langsam auf, kam näher, warf die Kapuze weg, ja er, Piso.

Die Türe war offengestanden, auf der Piazza lärmte es. Da hatte sie ihn nicht hereinschleichen hören.

»Du, Piso?« schrie sie leise, und eine bange Wohligkeit durchströmte sie.

»Lösche!«

Sie blies die Kerze aus. Nun leuchtete nur von der Piazza her eine schwache Laterne.

Er setzte sich neben sie und schien ihr im Dunkel größer.

»Nun, kannst du nicht grüßen?« sagte er lustig.

»Wenn man so hereinschleicht . . .«, nörgelte sie zum Schein.

»Was soll das dumme Zeug da draußen? Das mag ich nicht. Drum bin ich nachts unbemerkt heraufgekommen. Sorget nur, ihr Mädchen, daß man morgen weiß, ich sei schon daheim.«

Sie begriff das. Er war ja im Grunde so schüchtern.

Übrigens habe er es noch zwei Kameraden zugesteckt. Die werden auch helfen. Ein kleines Abenteuer, was ist das? Gott, da gab es andere Helden. Aber die bekamen Erde zu schlucken, kein Mensch kennt das Loch. Wozu dann diese Dummheiten!

Unwillkürlich fanden sich im Dunkel ihre Hände. Die seine war groß und stark und hart. Da hielt man etwas in den Fingern. Sie vergaß, daß sie vor wenigen Stunden eine viel schwächere Hand verehrt und sogar geküßt hatte.

»Ich muß dich anschauen«, sagte sie und staunte selbst, wie schnell die alte Vertraulichkeit gefunden ward. Flink schloß sie die Laden, zündete wieder an und bestaunte ihn. Er trug einen kleinen, krausen, schwarzen Bart von Ohr zu Ohr. Das Haar fiel schwer wie Nacht in die Stirne. Die Augen brannten etwas trüb und hinterhältig. Aber der Mund war derselbe, groß, reich, glüh wie hoher Sommer und die Stimme daraus wie Nachtigallenschlag.

»Wenn du mich fertig beguckt hast, dann bring mir etwas zum Trinken. Ich laufe schon sechs Stunden ohne Einkehr.«

Nun saßen sie da beisammen, lachten, scherzten, gaben sich leichte Püffe und schwere Spitznamen und fühlten sich wie alte Spielkameraden, die einst vom selben Pfirsich gebissen. Das Stüblein schien total ein anderes, als wenn jeweilen Elvezio drin weilte.

»Und Elvezio?« brach er plötzlich heraus.

»Der! Nach Amerika reist er für immer.«

»Und du nicht mit?« – Sie hörte ihn leise keuchen.

»Warum sollte ich?« machte sie trotzig.

»Waret ihr denn nicht fast versprochen?«

»Ich sagte ihm, was ich dir gesagt habe: Buchbinderin bleib' ich.«

Da zog er sie mit unnennbarer Gewalt an sich und küßte sie auf Stirne und Mund. »Wie ein Bruder!« entschuldigte er und lächelte. Eine graue verschmitzte Unklarheit wich nicht völlig aus seinen Augen, aber es glänzte dazwischen etwas Gutes und Dankbares. So war es immer gewesen. Über dem rechten Ohr, gegen den Wirbel empor, gab es eine kahle Stelle, die er nicht ganz mit dem übrigen Haar verdecken konnte, und das Ohr selbst war verstümmelt. Das alles wirkte häßlich. Aber man spürte Kraft und Hitze in ihm, und auf seiner Stimme lag Seele. Mala fühlte sich seltsam zu ihm hingezogen. War es Sinnlichkeit, Kameradschaft, Kindertreue, Rührung, sie wußte es nicht; aber sie hob sich auf die Zehen und berührte seinen Ohrstummel mit andächtiger Lippe. Und gleich fiel ihr die stattliche Jungfrau bei Santa Teresa ein, sonderbar . . .

Er trank, rauchte, erzählte, trank wieder. Seine kleinen Augen wurden kindlich. Er ließ sie nicht mehr aus dem Arm. »Ich hab' dich nötig, Mala,« schrie er plötzlich, »immer hatte ich dich nötig, du Böse. Aber von jetzt an am meisten.«

»Ach was plapperst du«, sagte sie und schlug ihm auf den Mund. Ihr schien, er lalle schon ein wenig. Sie suchte sich loszuringen.

Er plauderte weiter, nicht vom ernsten Krieg, nein, von Raufereien, Bettlerstücken, Gepolter, Schmutziges und Holdes, von feilen und feinen Mädchen, falschen Genossen, ehrlichen Feinden und daß er es nicht über den Hauptmann hinauf brachte trotz mangelnder Führer, weil er zuviel Räusche gesoffen habe. »So mach' ich's«, stammelte er, schob das Glas weg und trank geradeswegs aus dem Kruge.

Entsetzt riß sie ihm das Gefäß weg. »O Piso, sei vernünftig!«

»Der Wein, der Wein, der tötet mich noch. Und das Faulenzen.« – Er stand auf. »Mala, ich verwüste dir die Stube. Da ist nichts als Ordnung. Da pass ich nicht mehr hinein. Da stürbe ich.« – Er schüttelte sich und begann wie ein Kind zu schluchzen.

Sie nötigte ihn auf den Stuhl zurück, streichelte ihm den Bart, tröstete, das überwinde er bald, andern gehe es nicht besser. Sie küßte ihn vor Mitleid und wußte nicht, daß Leidenschaft dabei war. Und wieder kam ihr ein Wort Teresas in den Sinn und biß sie: ›Geben, immer geben, nichts für dich wollen, so fängt die große Liebe an, die retten kann.‹

Sie wurde rot und wußte auf einmal, wie ferne sie noch von dieser göttlichen Selbstlosigkeit war. O nie könnte sie so werden, sie mußte von allem Süßen auch einen Schleck haben. Bücherbinden, Bücherbinden, ja! Aber Menschen in eine gesunde, glückliche Fassung bringen, selbstlos, ohne Profitchen, nein, diese Kunst war ihr zu hoch.

Piso hatte sich einen schweren Rausch aufgeladen. Er schlief über den Stuhl hängend ein, schnarchte wie ein Bär, und Mala mußte schließlich die beiden Schwestern holen, um den Helden von Todi, dem man die Straßen bekränzte, zu Bett zu bringen. Diese guten Seelen hatten sich den Empfang des Bruders wahrlich anders vorgestellt.

Das ganze Quartier lachte, als Piso am Morgen in Zivilkleidung durch die Gassen spazierte und da und dort einen Kranz abriß oder einer Matrone zornig zurief, sie möchte die bunten Lappen zum Fenster hereinziehen. Aber er konnte es nicht hindern, daß in der folgenden Nacht die Musik vor der Libreria spielte, eine Rede auf das geeinte Italien und auf seinen schlauen Hauptmann gehalten, nachher in der Golzi-Gaststube bankettiert und der gefeierte Piso von allen Festleuten zuerst benebelt wurde und unter die Bank fiel.

In dieser geräuschvollen Nacht war der halbkranke Elvezio mit seinem Vater in geschlossener Kutsche gen Perugia gefahren. Nach einigen Monaten waren alle Schulden bezahlt, und zwei alte Livreediener hüteten bei gutem Sold das graue dalla Roccahaus. Fast wie zwei Spinnen klebten sie rechts und links am Steinrahmen des Portals, gähnten etwa in die Sonne, rauchten, verschwanden zum Essen, kamen wieder an beide Türseiten und wußten nichts auf die hundertfache Neugier zu erzählen als buchstäblich den einen steifen Satz: »Baron Elvezio ist glücklich, unser Padrone auch, alles geht gut, Millionen!«

»Was Millionen?«

»Millionen, basta!«

*

Mädchen, Mädchen, was ist mit dir? Hübsch bist du wie eine junge Beere, und Jünglinge kommen und möchten dich pflücken, und Jünglinge gehen ungestillt weg. Du lauschest, flüsterst, erbebst, loderst auf, duckst dich wieder und liegst da wie noch warme, stille Asche. Warst du vielleicht immer Asche? Hast du das Glütlein nur vorgetäuscht?

Tag für Tag saß der knochige fahlbraune Piso mit dem großen Mund in Malas Lädchen. Die grünblaue Uniform hängte er an den Nagel. Hier sollte sie ewig vor Malas Augen bleiben. Er hatte einen Krug Wein neben sich, horchte viel, schwieg noch mehr. Abends lasen sie zusammen, er die rechte, sie die linke Buchseite. Ihr Atem vereinigte sich. Beim Blattumwenden profitierte er und küßte sie, wo es traf, ins Gesicht.

Seine Schwestern vergötterten ihn. Und doch tat er nichts als kleine Schlücke Chianti läppeln, sitzen, die Beine strecken, träumen, schlafen, lesen und . . . Mala anschauen. Selten einmal führte er den blinden Oberst auf die Rocca. Aber Pigrino erklärte, es wäre viel kurzweiliger allein mit einem Hund am Bändel als mit diesem verdrückten Burschen zu gehen, der nur Ja und Nein und Ich weiß nicht und Vielleicht antwortete. So ein Schnauzerli würde wenigstens zwanzigmal knurren und bellen.

Es ist ihm ins Gehirn gefahren, hieß es im Städtchen, wenn man ihn so allein und scheu an den Wänden der Gäßlein hinstreichen sah. Saht ihr nicht, das halbe Ohr ist auch weg. Wie hat er das nur angestellt? Wie wild! Wie grausig!

Zu leben hatte er genug. Die Serra sind so hablich wie die Golzi. Aber man muß doch sogar in so einem trägen, alten Landstädtchen tun, als ob man etwas täte. Piso gab sich nicht einmal diesen geringen Schein.

Nicht einmal die leichte Aufsicht über die Waldungen der Stadtgemeinde auf den nächsten Höhen wollte er auf sich nehmen. Zwei Vettern im Rat konnten sie ihm leicht verschaffen.

Wenn er nüchtern war, konnte er sich oft mit einer Güte benehmen, die Mala tief ergriff. Dann hätte sie in einer Aufwallung der Seele ihm alles geben und nichts für sich nehmen wollen, ganz wie Santa Teresa riet. Aber nur drei Minuten lang. Und gerade diese drei Minuten war es nicht nötig, wollte er nicht, hätte er selbst alle Dienste getan. Jedoch wenn er dann trank und schläfrig oder grob ward und scheinbar gleichgültig hindämmerte, dann wurde er ihr lästig. Er stank dann von Wein und Magensäure und trug sich unordentlich in den Kleidern. Etwas Gemeines geriet in seine flackerigen Augen, und er wollte sie mehrmals lüstern herumreißen.

Jetzt, o jetzt hätte sie wohl an Santa Teresa denken müssen. Es hätte kein Abscheu ins Auge, kein Groll auf die Zunge, kein Ekel in ihre zarten Fingerchen kommen dürfen. Jetzt hätte sie sich seiner annehmen müssen mit jener Liebe, die »über alle Menschenhäupter hoch hinaus bis zu Gottes Füßen reicht«. Sie erinnerte sich jener Worte, wollte sich erheben, zu ihm eilen, vor ihn hinknien, ihn stützen und ganz mit Herzlichkeit umgeben und läutern. Aber dann blieb sie doch im Stühlchen am Buchbindertisch. Es war zu groß, zu schwer. So sehr liebte sie doch nicht. Und sie seufzte leicht, griff zum Karton, schnitt, heftete und band ein und fühlte, daß sie klein sei und nur Kleines vermöge.

Ach, was waren das für Zeiten voll Licht und Dunkel durcheinander.

Oft, wenn sie zu Bette ging, dachte sie an Elvezio. noch öfter freute sie sich, jetzt eine ruhige Nacht allein zu sein, und am meisten – o Eva! Eva! – gefiel ihr, daß Piso morgen wieder ins Lädelchen komme.

Sie zählte jetzt einundzwanzig Jahre. Soweit sie sich besann, war immer ein Knabe und ein Kleistertopf um sie gewesen. Sie konnte ohne das nicht mehr leben. Aber das konnte doch nicht das Richtige sein, nicht für sie, noch weniger für ihn.

Doch eines Abends kam er sehr spät zum Lesen. Er roch nicht von Chianti, sondern von Tannen. Er war nun doch einmal mit seinem Oheim, dem Oberförster, durch die Forste gestrichen. Es war still, kühl und kurzweilig gewesen und hatte ihm so gefallen, daß er eine Probe machen, den Aufseher spielen wollte. Er war ja einst als Bube oft mitgegangen, kannte die Hölzer und hatte eigentlich nichts zu tun, als zwischen den Bäumen zu spazieren, die verdorbenen Stämme und die überalten anzuzeichnen mit einem roten Klecks, dann etwa ein, zwei Gesellen zum Putzen mitzunehmen, zu achten, daß nicht im Holz gefrevelt, aber auch nicht gewildert werde. Das ginge in einem. Ab und zu hätte er einen Bericht einzuliefern, doch gehe das auch mündlich.

An jenem Abend wehte etwas Frisches aus Piso, woran sie keinen Verdienst trug. Das quälte sie. Er sah stolzer aus als damals in der Uniform. Die freie Arbeit im Walde hatte ihm wohlgetan. Das Gebietendürfen flößte ihm Würde ein. »Zieh mir die Stiefel aus!« sagte er klar und bestimmt. Und sie bückte sich und tat es und legte ihm sogar die Pantoffeln an.

»Gib mir etwas zu trinken! Eine Grenadina!«

Sie lief. Sie konnte nicht anders. Beinahe hätte sie ihm noch das Glas an den Mund gehalten.

›Was ist mit ihm?‹ dachte sie.

*

Von nun an sah man Piso nicht mehr herumhocken und zechen. Er nahm sich des Waldes so ernstlich an wie einst seiner Kompanie. Knaben und Gesellen kamen mit. Mit Axt, Gertel und Hacke ward im Wirrwarr gearbeitet, der Boden gesäubert, faules Holz gefällt, wilde Wucherungen beschnitten, Kanälchen für das Wildwasser gegraben und Jungwuchs eingesetzt. Dabei stieß man auf allerlei heimliches Schattenvolk, Strolche, Gauner, Diebe, Wilderer. Es gab hie und da Flintenschüsse und Arrestanten. Pisos Kühnheit und großer Zorn siegten jedesmal ohne obrigkeitliche Zuhilfenahme. Die Behörden und die reichen Waldbesitzer setzten bald rücksichtsloses Vertrauen in den Eifrigen. Aber das niedrige Volk sah in ihm je länger je ungemütlicher einen Zerstörer des alten Schlendrians. Heimlicher Groll entstand.

Kam er abends zu Mala, so duftete der häßlichschöne Bursche geradezu von Wald und Herrschaft. Ihr freilich kam er nun durchaus schön vor. Schnell stellte sie den Kleister vors Fenster, den er so ungern roch, und zog ihm die langen Kniestiefel aus. Dann lasen sie. Jetzt befahl er den Stoff. Von den Römern. Wie sie Kolonien gründeten, Straßen bauten, Wildnisse reinigten, überall siegten, aber dann leider entarteten und vor Barbaren den Nacken biegen mußten.

Es ergab sich aber oft, daß Piso sehr spät kam. Dann zählte sie die Schläge an der Domuhr, horchte auf die Schritte über der Piazza Garibaldi, bürstete seine Uniform, küßte sie dort, wo ihr Tuch sein Herz, das tolle, zudeckte und konnte nicht mehr recht kleistern oder allein lesen.

Manchmal kam er gar nicht. Dann wurde sie unwirsch über diese Försterei, die ihn ihr stahl, und über seine Arbeitsglut. Fast hätte sie ihm wieder ein Räuschchen gegönnt. Die Einsamkeit abends wurde ihr unheimlich. Ist es wirklich nur der Wald, warum er sich so verspätet? Könnte nicht ein Mädchen dahinter stecken? Und wäre das so unbegreiflich? Sie verdiente es nicht besser, da sie ja immer nur im Halben stehen blieb. Er war ein Ganzer und wollte etwas Ganzes.

Aber vor diesem Ganzen schauderte ihr.

In einer illustrierten Volksausgabe des Cantu stieß das lesende Paar auf den Mönchvater Benedikt mit seinen Kindern, und man erlebte eine neue Eroberung Europas, indem diese Kutten Jesum predigten, die Wälder rodeten, Gärten anlegten, Korn und Obst pflanzten und dem heillosen Ur und Bär und Wolf wehrten.

Piso dachte, daß er ja im kleinen auch so etwas tue, und meinte, das Mädchen neben ihm müsse das gleiche denken. Sie jedoch fühlte, daß sie in kurzem dem Piso vor die Füße fallen müsse, wenn ihr Herz nicht zeitig vorsehe. Und dann würde der Dunkle, der sich jetzt so eigenwillig und beinahe hart bezeigte, sie vielleicht gar mit den Füßen von sich stoßen. Da wußte sie denn nichts Gescheiteres als sich Elvezios helle Person, seine silbernen Blicke, sein feines Haar und feines Reden und die vornehme Trauer vorzustellen, womit er von ihr schied.

Und jetzt, da man von fernen Urwäldern las, dachte sie wirklich nicht an Pisos nahe kleine Försterei, sondern an die wilden, freien Gebiete Elvezios in Florida. Der Oberst Pigrino sagte, es sei ein waldreiches Land, voll Sonne und Papageien, und ein kühler Meerwind fingere nachmittags ins Laub. Man beiße die Feigen vom Ast, besitze dreißig Dienstboten und werde hundertjährig.

Der Canonico brachte dann ein dickes Buch voll Bilder. Herrliches stand darin von Orangen, Palmen, Hängematten unter duftenden Bäumen und von einer Pflanze, die Papier gebe, sehr schönes Druckpapier, und von einem Tier, das allerfeinstes Leder liefere, womit man die köstlichsten Bücher einbinde, und von einer Pflanze, deren Schweiß den besten Klebstoff ergebe . . . zum Kleistern! . . . Das erschütterte Mala geradezu, noch mehr als Hängematte und Papagei. Freilich hause dort auch eine böse, gefleckte Riesenkatze und ein Bär. Doch wozu hätten sie so famose Reiter und Jäger, wandte der Oberst ein. Das sei ein adeliger Sport, so recht für Elvezio. – Aber hier stehe noch, fuhr Don Massimo fort, daß diese Jaguare Frauen und Kinder überfallen und in den Wald schleifen. – Versteht sich, gab Pigrino zu, aber nicht, wo ritterliche Kavaliere sind. – Und Mala spürte, wie so ein Untier auf sie losstürze, aber noch im letzten Satz unter einem Schusse zusammenknickt und auf den Rücken rollt und wie sie ihr nasses Gesicht lachend und weinend an Elvezios Retterbrust birgt . . . O wie ihr doch, der nüchternen Buchbinderstochter, die vielen Romane im Kopfe herumspuken! Wenn sie doch mit ihm gereist wäre! Vielleicht wäre ihr jetzt wie einem Vogel, der immer meinte, im Käfig sei es am besten, aber nun doch ins Freie mußte und Besseres schmeckt. Auch Elvezio geht jetzt mit Werkleuten in die Wildnis und reutet aus und säet. Und wenn er auch nur auf dem Pferde sitzt, die Gerte sausen läßt und zuschaut und regiert, so ist es doch von der gleichen Arbeit. Es muß Kommandanten haben. Piso bückte sich gewiß auch nicht zur Erde. Aber was sind Pisos Tannen gegen Elvezios Urwald!

»So schaufelt jetzt auch Elvezio drüben in Amerika«, unterbrach sie die Lesung.

»Red' mir nicht von diesem Zuckerstengel«, gebot Piso rauh und hoch von oben herab.

»Zuckerstengel?« wiederholte sie empört. »O gib acht, was du schwatzest.«

»Was soll ich acht geben? War er etwa nicht ein Puppenkönig? Konnte nur schlecken, spielen und den Mädchen den Hof machen! Aber das gefällt euch.«

Jetzt verteidigte sie Elvezio so bitter ernst, wie sie einst Piso verteidigt hatte. Gewiß, er sei zierlich und faulenzte gern. Aber er kannte alle alten berühmten Bücher, er verstand die Dichter und wußte schier alles, was vor und seit Christi Geburt auf der Welt vorgegangen war. Und wie höflich, wie vornehm war alles an ihm. Er kannte kein Arg. Und ob er schön war? Frage man die Straße! Warum hieß er denn Bellino? – Und ein gutes Herz besaß er . . . das wisse sie besser als die andern.

Dunkel hörte Piso zu Ende. »Reut es dich wohl gar,« kerbte er nach einer Pause langsam aus den Zähnen, »daß du nicht mit ihm übers Wasser gefahren bist?« – Er zog die Stiefel wieder an.

Sie bewegte den Kopf seltsam hin und her. Hatte sie genickt? Oder ein Nein geschüttelt?

»Es fahren jetzt noch genug Schiffe hinüber!« fuhr er hochmütig fort. Aber seine Lippen wurden fahl.

»Vielleicht nehme ich eines«, trotzte sie gereizt und klappte das Buch zu. Fast ging ihr der Atem aus.

»Gute Reise!« – Er wandte ihr den Rücken und marschierte fest hinaus.

Sie hörte ihn über den Platz schreiten. Aber sie war so zerquält, daß sie nicht merkte, wie sein Schritt immer langsamer wurde, fast tonlos und leise, leise zurückkam. Sie lief zwei, dreimal im Kämmerlein hin und her, stand vor der Uniform still und roch daran, als wäre Atem darin. Dann küßte sie verschämt den Brustlatz und sprang zum Tischchen zurück.

Und da fiel ihr just ein, daß vom Pflanzenbuch des Martin Grosso noch zwei Bogen in der Hafte fehlten. Gleich setzte sie sich, glättete die Bogen, nähte sie am Rücken ein, und das untiefe Seelein ihrer Seele hatte sich schon ein wenig beruhigt.

*


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