Heinrich Federer
Regina Lob
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Herrenstüblein der Krone saß ich nach dem Nachtessen noch ein Verdauungsstündlein lang am Tisch der paar alten Stammgäste und sah ihrem Bierjaß zu. Es waren die nämlichen wohlbestallten Herren, die schon vor zehn und zwanzig Jahren mit dem gleichen Ärger hier eine Nell an den gewalttätigen Bauer verloren und mit dem gleichen Übermut Hundert vom Trumpfaß gewiesen hatten. Sie spielten noch immer mit halb geschlossenen Lidern, langsam den Zigarrenrauch verkräuselnd und viertelstundenlang keine Silbe auf den Lippen. Ihr Bäuchlein war freilich eher runder, ihr rasiertes Gesicht etwas lederner und ihr Scheitel um einen Faden grauer geworden. Aber wenn ich die Augen schloß, so war es durchaus das Gehaben und Gebaren wie vor zwanzig Jahren, da ich mit Theodor und dem Kronenrobert als kleiner Knirps scheinheilig in die Eicheln und Schellen schaute, im Grunde aber recht lausbubenhaft aufpaßte, ob nicht bald einer von den Spielern den Tabakstengel im Kummer oder Jubel des Jasses auf die Seite lege, erst halb heruntergeraucht, so daß wir drei Buben das Kleinod wegstibitzen und hinter dem Haus und zwei hohen Holzbeigen abwechselnd fertigschmauchen könnten. Theodor freilich maßte sich immer einen Zug mehr an, als rechtens war, fünfe statt vier auf einmal . . .

Pünktlich um neun Uhr staffelte auch der alte Bersolt herein und trank seinen Abendschoppen herben Rheintaler, der dem Kopf so wohl und dem Magen so übel tut. Der Doktor kärtelte nicht, sondern guckte lieber mit seinen alten, tagmüden Äuglein dem Kreuzjaß in gefahrloser Neutralität zu. Es freute ihn, wie die Kerls einander zu Boden trumpften und wie der Zufall einen Spieler bald mit einer grandiosen Ohrfeige, bald mit einem süßen Glücksräuschchen bedachte. Er kannte die Karten nicht. Diese sechsunddreißig Papierfetzen dünkten ihn an und für sich eine nichtige, freche Lumperei. Doch die gescheiten Männer am Tisch machten etwas so Großes aus ihnen, daß sie den zuckersüßen Gutnachtkuß ihrer Kinder daheim und den großen herrlichen Achtstundenschlaf und den Morgen mit den frühen grauen Geschäftssorgen darob vergaßen. Das dünkte Bersolt lustig, und er fing nun selber auch an, die Karten wichtig zu machen. Er stellte sich unter den Schellen ein wildes Vergehen gegen die Gesundheit vor, wonach hurtig Herzklopfen, Blutsausen und ein Ohrenläuten wie mit großen Kuhschellen folgte. Mit den Schilten hatte man die volle, schwere, düstere, zum Friedhof zeigende Krankheit vollendet vor sich. Aber wenn eine Eichel über dem Spieltisch grünte, waren die Fieber von 39 auf 37 Grad gesunken, und die aufblühenden gelben Rosen bedeuteten das erst im Schritt noch etwas schwankende, aber selige Spazieren draußen auf der wiedereroberten, selbst so unsterblich grünen und blumigen Erde. Wenn gar Rose Trumpf war, dann hieß das: Genesung auf Genesung, dankbare Quittierung von so und so vielen Doktornötlein! Aber wenn Schelle oder Schilte galt, dann kam das einer Epidemie im Dorfe gleich, einem steten Springen von Patient zu Patient und einem beharrlichen Läuten des Totenglöckleins. Am liebsten waren Bersolt die Eicheln. Da war der Tod schon nicht mehr, aber auch die Gesundheit noch nicht ganz Meister, da regierte noch des Arztes Majestät ungehemmt. Auf diesem grünen Plätzlein reifte sein bester und rühmlichster Weizen.

Diese Auslegung der Spielkarten war in Ilgis kein Geheimnis; denn Bersolt deutete oft in lautem Selbstgespräch vor allen Spielern Karte um Karte. Man betrachtete es als eine witzige Absonderlichkeit des Doktors . . .

Bersolt schüttelte mir langsam beide Hände, indem er mit seinen grauen, aufwachenden Äuglein mein Gesicht schalkhaft durchmusterte und dann fast körperlich fühlbar vom Hals über Weste und Hosen bis zu den Schuhspitzen hinabwanderte, ob ich etwa ein geschniegelter und verdorbener Stadtkauz geworden sei oder ob das mein hoher Stehkragen vielleicht doch nur vorlog und ich das mir einst so geläufige Ilgisser Wesen bewahrt habe. Am Ende der Musterung sagte er: »Willkommen, Walter, da, hock zu mir!« und nun wußte ich, daß er mehr Ilgis als Großstadt in mir gelesen hatte. Mit ältlichem Behagen erzählte er, wie er mir Bübel einst einen argen Stockzahn ziehen sollte; aber ich sei ihm, als es gerade knacken wollte, mit der Hand in die Zange gefahren und heulend und mit blutender Zunge davongelaufen. Ich fing nun von Theodor an. Der Doktor ward seltsam still.

»Die Stöcke von Trumpfschellen!« rief Fritz Eibold. »Zwanzig aufschreiben!«

Ich rückte den Stuhl etwas zurück und bat leis: »Sagen Sie mir offen, wie ist's mit Theodor Weggisser? Sie wissen, er ist mein halbes Leben gewesen in alten Zeiten . . .«

»Schellenaß!«

»Gestochen mit Schellennell!«

»Gestochen mit Schellenbauer!«

So schrie und klatschte es mit hocherhobenen Trümpfen auf den Tisch nieder. Schellen, Schellen!

»Na, Schellen!« lispelte auch der Alte. »Man paßt nicht auf, man meint der Herrgott im Dorf zu sein. Etwas Sonne. Und gleich wollen sie heut mit Flanell und wollenen Unterleibchen weg. Nur zu, nur zu! Und am Mittag weht ein lauer Föhn. Mau schwitzt. Und am Abend geht eine Schneebise, und man friert gotterbärmlich. Und kein Flanell und kein wollenes Unterleibchen! Während unsere gesunden, starken Alten das bis in den Heumonat trugen. Und so nimmt's einen um den andern auf die Matratze. Prosit, junger Doktor!«

Er schlürfte wieder ein Schlücklein des herben Rheintalers ein.

»Aber wie steht es nun um Theodor?« bat ich nochmals. »Selbstverständlich bleibt es unter Kollegen, was Sie auch sagen!«

Webmeister Kühn mischte das neue Spiel und teilte die glitschenden, glatten Karten aus. Der Arzt aber sagte mit ein paar dürren Worten, daß die Auszehrung in der Weggisserfamilie und mit ihr die frechste Unvorsichtigkeit seit Menschendenken wie ein böser Geist niste. Thedis zwei ältere Brüder seien daran in der süßesten Knospe gestorben. Ein Onkel als Bräutigam und ein Großvater als ganz junger Eheherr. Bei Thedi seien Nieren- und Herzgeschichten so übel mitverquickt, daß man nie recht wisse, wo eigentlich der Kern des Leidens sei und wo hinaus es wolle.

»Aber ist noch Hoffnung? Ich meine nicht auf Genesung, ich meine: Kann man das Übel noch mildern? Beschwichtigen? Einige Jährchen hinhalten, bis die Kleinen auf eigenen Füßen stehen?«

»Das ist ja gar nicht Trumpf!« schrie einer neben mir.

»Wo hast du den Kopf? Schilte ist Trumpf!« entgegnete sein Partner, der junge Kürnhelm, gefühllos hart und schleuderte so ein graues Unwesen auf den Tisch. Diese Ilgisser sind schonungslose Menschen!

»Dann gibt es ja einen verflucht feinen Matsch!« frohlockte sein Gespan grausam.

»Schilte, Schilte! Wie ich diese Schilten hasse!« brummte Bersolt, ein neues Schlücklein aus dem Glas saugend und über den Rand hinaus in die schiefergrauen Papiere dräuend, die da siegreich auf dem Tisch die vollsten Rosen und die grünsten Eicheln niederhagelten. »Jaso, du weißt, was ich meine! Probier's du einmal! He,« fuhr er munterer fort, »zeig' mal, was eure vielgerühmte und benedeite junge Schule kann! Soll mich fest freuen, wenn euch mehr als uns Alten gelingt. Im Ernst, Walter,« sagte er leiser und milder und faßte mich dabei unterm Ellbogen, »wenn es dir und deinem Thedi ein Trost ist, so nimm ihn nur gleich tapfer in deine Kur! Ich füg' mich leicht in deine Weisungen. Meine Mittelchen sind fertig probiert, das sag' ich dir ehrlich. Ich weiß nichts Neues!«

Ich dankte herzlich und erzählte, wie ich den Weggisser befunden und was ich ihm angeraten hatte. Bersolt nickte zufrieden zu allem und sog seine letzten Tropfen aus. Dabei rühmte er die Frau Weggisser so freigebig, als wäre es ihm eine große Genugtuung, in einer sonst ganz aussichtslosen Sache dies Lob ausschütten zu dürfen. Er geriet in eine komische Schwärmerei. Sie sei das Muster aller Frauen, in ganz Ilgis hochverehrt, der gute Geist Theodors, und ohne ihre unvergleichliche Sorge täte der Gemahl längst keinen irdischen Schnauf mehr. Es sei ihm oft, als fechte ihre Liebe mit dem Tod in einem grimmigen Zweikampf und reiße dem Gevatter immer wieder, so oft er das letzte Lebensfädlein ausziehen wolle, die Klapperhand weg. Ja, sie mache wahrhaft einen echten Bergler Hosenlupf mit dem Tod und sei bis heute die Stärkere geblieben, stärker als dieser Riese. Aber wie lange noch? Immer zupfe der Mörder doch wieder blitzschnell ein Endchen ab . . .

»Gestochen mit Schilte! Trumpf, Trumpf, Trumpf! Matsch!« jubelten mit immer bedächtigen, kargen Stimmen die siegreichen Schiltenherren.

Der Arzt erhob sich, indem er unmutig am aufgesträubten, grauen, rohen Schnurrbart zerrte. »Da kommt doch nichts Besseres!« meinte er auf den Tisch weisend. Es sollte wie Humor klingen, aber tönte dumpf wie grauester Aberglaube. »Ich laufe davon. Diese verflixten Schilten! Ich wette, das Bärbli Bettlig ist jetzt gestorben!«

»Selbstverständlich,« mischte sich der junge Kürnhelm trocken ein und ordnete ein neues Spiel. »Ich hab' gemeint, das wisset Ihr! Als ich zur Krone ging, um die halbe Neun, war das Kind gerade verschieden. Die Leichenfrau sah ich eben ins Haus gehen, um das tote Wesen zu waschen und aufzurüsten. Soll ja ganz verschwollen sein . . . Na, paß doch auf, Kühn; man sieht dir in die Karten wie durch Fensterglas!«

»Das liebe Kind, das hat mit Sterben pressiert wie ein Vogel,« sagte Bersolt bitter. »In drei Tagen frisch und tot! Und nicht ein einziges Gütterli hat es mir genommen, das wilde! Ist mir aus dem Wickel gesprungen, half alles Wettern nichts. Das mußt' halt sterben. Diese verfluchten Schilten!«

Seine runden Äuglein verdunkelten sich seltsam, sie wurden so düstergrau wie die unheimlichen Schilten. Müd und schwerfällig ging er hinaus.

»Nein, so gescheit und so einen Sparren im Kopf!« spottete Kürnhelm.

Ich saß noch ein Weilchen bei den Spielfexen und studierte, wie alt eigentlich Bersolt sei. So um die Siebenzig. Und immer hier oben im Gestein, unter den knochigen Ilgissern, mit einer gleichaltrigen Haushälterin, die ihm noch Alpenkräuter suchen und abbrühen muß, und mit einem Kutscher, den man den Wasserschmecker heißt, weil er den Bauern mit seinem Haselzwick auf den ödesten Weiden noch irgendein Brünnlein aus dem Boden herausschnuppert. Na, das alles zusammen langt gerade, um im weißen Haar so einen Hokuspokus mit den Schilten zu treiben! Aber merkwürdig genug, ich selber sah nun auch nur immer diese grauen Schilten auf dem Tisch. Sie regten mich auf, sie flößten mir eine eigene Bangigkeit, zuletzt ein eigentliches Grauen ein. Wie Särge erschienen sie mir, die in ihrem schwarzen Hunger den Deckel weit aufsperren, bis ein schönes seidenweiches Leben unversehens hineinflattert und sich plötzlich steif wie ein dürres Scheit vom Kopf zum Fußbrett strecken muß. Dann klappen sie zu, und wieder ist ein Lachen weniger auf der Welt. Ja, so waren sie, und die übermächtige Schiltaß, die war unter ihnen ein Prunksarg. Die fraß kein gewöhnliches kleines Leben in ihren Rachen hinein. Die gierte nach etwas Stattlichem, Herrischem, Großlebigem. Da hatte ein König Platz. Gleichviel, ob ein König von England oder ein Dorfkönig, wie – wie . . . Ach nein, weg damit!

»Rose!«

Ah, da hatten sie nun doch einmal die schöne gelbe Kartenblume zum Trumpf bekommen! Das war wie ein Funke Sonne aus einem grauen, regenschweren, drückenden Himmel. Schnell sagte ich Gutenacht und sprang in meine Kammer hinauf. Ich wollte unter dem Lächeln einer Rose den Tag schließen, bevor wieder so eine leblose Schilte käme. Aber beim Auskleiden schlug ich mir vor den Kopf. Das wäre nun doch köstlich, wenn ich hier oben auch noch so ein dicker Narr von Aberglauben würde!

Ich konnte lange keinen Schlaf finden. War das Geräusch aus der Gaststube herauf oder die muffige Luft in der Kammer oder die Aufregung des Abends schuld? Ich öffnete das Fenster. Der Himmel war goldighell von den vielen scharfen Sternen, die über die Dorfdächer niederhingen und ihre großmächtigen Lichter so nahe zu verspritzen und zu versprühen schienen, daß man meinte, kaum ein kleines Viertelstündchen weit entfernt zu sein. Über den Giebeln tauchten die dunkelblauen Hügel hervor, und hinter ihnen standen meilenweit die Berge aus Fels und Eis umher in einer bleichen, überirdischen Helligkeit. Auf dem Dorfplatz krachten die Schritte eines Mannes über den gefrorenen Schnee. Ob den Markthäusern, oben am Bühl, sah ich zwei Lichtlein. Dort stand das Weggisserhaus. Dort brachte jetzt Frau Regina die Kinder zu Bette. Sie wird jetzt auch mein Mimeli zudecken und fragen: »Hast du Vater gern?«

»Ja, ja!«

»Und hat Vater deine Mutter auch gern gehabt?«

»Ja, ja!«

»Ist's eine liebe Mutter gewesen?«

»O wie lieb!« Mimeli küßt sich ins Kissen. So lieb war sie ihm!

»Hat Vater auch geweint, wo sie gestorben ist?«

»Weiß nicht mehr. O ja, hat sicher geweint!«

»Aber jetzt, ist Vater immer allein?«

»Nein, immer mit mir und mit vielen, vielen Kranken!«

»So, so!«

Sie wird das lange, spitzige Kinn in ihre Hand stützen und studieren.

»Hat Mutter am goldenen Kettli, schau!« wird Klärli sagen. Und Mimeli öffnet eifrig, aber mit einer köstlichen Andacht die Medaille, die sie um das bloße Hälschen trägt, und zeigt das ihm so heilige Bildchen: »Da, schau!«

Und Regina wird sehen, welch ein langes, schmales, frohes Gesicht mein kleines, wie ein Schmetterling in mein Leben geflogenes und wieder enteiltes Frauelein gehabt hat. Wie Urselchens Augen lachten, wie ihre runden, gekräuselten Lippen gleich einer reifen Erdbeere im Gesicht standen, wie sogar das Haar nach vorn an den Schläfen sich lustig ringelte. Alles wollte an dieser Frau spaßen und singen. Man kann sie nur anschauen und zugleich lieb haben. Frau Reginens rauhe Macht wird an diesem sonnigen Ding schmelzen.

Und wieder stützt sie ihr langes, spitziges Kinn in die Hand und studiert.

Dann wird sie nach Tante Pauline fragen. Mimeli wird erzählen, wie sie ein nettes, ziemlich rundes Persönchen geworden ist und von einem Besuch zum andern immer noch ein bißchen hübscher aussieht. Sie hat ein Gesicht wie frische Butter am Sonntagmorgen, und die Augen drin sind wie zwei Honigtupfen, und der Mund ist da nicht wie eine Erdbeere, nein, wie eine große Lilarose mit zwei halboffenen breiten Blättern. Und immer hat Pauline, seit sie auf Engelland gewesen ist, eine grüne Masche im Haar und ein paar zackige Haarnadeln wie Gedörn. Man darf ihr nicht nach dem Haupt langen. So wenig wie einer Rose. Die Dornen, die Dornen! Und Mimeli plaudert auch noch, wie es bei jedem Besuch in Tante Paulinens »Seegstad« von einem Dutzend langer, blonder, süßer Mädchen geherzt und gepreßt und geküßt und herumgetragen wird, als wäre es eine Puppe. Wie es dann immer strampelt und zappelt und das einfach nicht leiden mag, aber wie diese Schelme von Jüngferchen nun erst recht wollen. Endlich kommt Tante Pauline und sagt: »Piano, piano!« aber lacht eben doch auch mit und ist ganz sicher auch ordentlich boshaft. Aber eine schöne Frau, sapperlott!

Und Regina wird lauschen und lauschen und wird – Nein, ich weiß nicht, was sie sagen wird. O ja, sie wird von dem allem genug haben und sprechen: »Schlaft jetzt!« Dann geht sie zu Theodor hinunter und besorgt wieder dieses große, wehleidige, immer hilflose Kind. Und die Nacht hat für sie mehr Arbeit als der ganze lange Sonnentag von einem Siebenuhrschlag zum andern . . .

Diese Regina beschäftigte mich jetzt weit mehr als Theodor. Sie war anders geworden. In ihren Augen hatte ich mehr als nur die frühern Blitze einer zigeunerischen Leidenschaft, ich hatte die beharrliche Wärme einer Mutter und Gattin wahrgenommen. Das hatte sicher das viele, tiefe Sorgen vollbracht! In der Stube war freilich nicht die beste Ordnung gewesen. Unter dem Tisch hatte es einen Fadenklüngel und zwei Pantoffeln gehabt, die nie zusammengehörten. Auf dem Tisch lagen zwischen kleinen Milchtümpeln eine Strickerei und das städtische Tagblatt. Und ich hatte gesehen, daß ein graues Kätzlein – Theodor war immer ein merkwürdiger Katzenfreund gewesen – auf einem Stuhl in stiller, gelassener Schlauheit hockte, aber plötzlich die Vorderpfoten auf die Kante der Tafel setzte und langsam und wie im vollen Familienrecht Klärlis Schüsselchen ausschleckte. So war Regina eben: in Kleinigkeiten hatte sie nie Ordnung gehabt; aber im großen, das war gar nicht zu verkennen, hatte sie Maß und Richtung und Ziel gefunden. Was sie nur immer sprach, war überlegt, was sie anschaute, fest und bestimmt, was sie hantierte, mit überschauender Klugheit geschehen. Wunderbar langsam und sicher war sie geworden. Ah, die Berge, unsere allmächtigen Berge hatten sie eben auch schon in ihr großartiges Maß genommen! Oder soll ich sagen: in ihre ehrwürdige, schweigsame Ewigkeitsschule!

Die zwei Kleinen waren hübsch und geweckt. Eine gewisse körperliche Wohlerzogenheit und ein überaus sauberes Seelchen guckte ihnen kräftig aus allen Nähten, trotz den abgerissenen Knöpfen an der Jacke und den Löchern in den Strümpfen. Solche Kinder mit soviel Stolz, wie dieser Arnoldli besitzt, und mit soviel gütiger Neugier, wie das Klärli aussprudelt, können nur von einer ganz tüchtigen Mutter stammen. Nein, Regina hatte trotz ihrem abweisenden Geiste für mich eine wahrhafte, edle Größe gehabt. Theodor war immer noch ihr Eines und Alles, in ihm ging sie auf. Und nun sollte er aus ihren Armen und sozusagen von ihrem Mund weg in den Tod fahren! Was war sie dann noch? Ein Schatten ohne Halt und ohne Licht. Sie erbarmte mich. In der großen Gefahr, in der sie stand, schienen mir alle Fährlichkeiten meines Lebens Nullen. Nein, einer solchen Frau mochte ich nicht auch noch beschwerlich fallen. Kein Krümlein Mühe sollte sie von mir haben. Ich bereute, daß ich in ihrer Stube mich nicht viel bescheidener benommen hatte. Helfen wollte ich, soviel ich konnte, aber immer von weitem, ungesehen, durch andere Hände und Boten. Es lag mir jetzt hundertmal mehr daran, daß ich von ihr, statt von Theodor ein freundliches Abschiedswort erhielte.

Jetzt erlosch das obere Fenster im Kinderzimmer der Weggisser. Die Kleinen schliefen wohl schon, trotz Walfisch und Speckkönig.

Wie still nun doch hier oben Erde und Menschheit wurden! Wenn man so abends spät in einem hochgelegenen Bergdorf am Gesims seines Schlafzimmers steht und so eine allherrschende, tiefe Ruhe nicht bloß mit dem Ohr, auch mit den Augen und Lippen gleichsam schmeckt, dann kann man es fast nicht glauben, daß kaum zwei Stunden von diesem Schweigen das heiße, verstaubte, verschnatterte, nun erst recht gierig in die Nacht wühlende Leben der Stadt regiert. In der tollen Residenz würde man glauben, man müßte mindestens in einen Stern steigen, um so eine prachtvolle, stumme Gelassenheit des Lebens, so eine entzückende, wortlose Landschaft, so frühschlafende Menschen, so totenstille Häuser, so reinen Schnee und eine so kristallfrische Luft zu finden. Oh, in dieser Ruhe fängt die Seele wieder einmal an zu grünen und wie ein junges Maibäumchen auszuschlagen! Und es duftet um uns herum wieder förmlich von Poesie. Was in uns gut und rein ist, zersprengt die mumienhafte, platte Erstarrung, worein uns das Philisterium einbalsamiert hat, und feiert einen kleinen, warmen Feiertag.

In diesem Stündlein mußte ich an meine Jugend denken, an die frühverstorbenen Eltern, die ich fast nur noch wie aus fernen Dämmerungen mit einer Fingerspitze oder eine Haarlocke winken sah, und deren Stimme mich wie aus einem tiefen, tiefen Wasser kaum noch erreichte. Dann walzte unsere alte Magd Grete heran mit ihren Gespenstergeschichten und den schwarzen Borsten in den Ohren und Nasenlöchern. Nun kam auch mit ihren so kleinen, aber so sichern Schritten meine liebe Schwester daher, die jetzt so großmächtig eigen ohne mich schaltet und glücklich ist. Ich sah meine Knabenzeiten. Und hier begann sich nun dieser Dorfplatz da unten herum solid in mein Leben hineinzulegen. Die Sommer, die Weihnachtsferien hier oben! Dort drüben die Berge von Spitze zu Spitze erzwungen! Das Indianerspiel in den Wäldern! Aber vor allem in solcher Nacht wie heut das Schlittengeklingel, das Hinuntersausen knapp an Dornhecken und Bächen vorbei und Theodors unsterbliches Gelächter! Der Silvesterabend dort drüben in der Kirche, das Volk voll Schneeflocken, des Pfarrers Ansprache, immer ein wenig rührend, aber immer auch mit einem herzhaften Sprung ins neue Jahr hinübersetzend! Dazu die Blechmusik, der Kirchenchor, die falsche B-Trompete, der dreistimmige Sang der Schulkinder, so hoch und silberig wie von Grillen! Die Fastnacht mit bäuerlichem Backwerk und den Kindertänzen bei Geige und tiefsummendem Hackbrett, das Gejodel durch alle Gäßlein, die Dorfgemeinden, die Spritzenproben, die Schwingeten! Reich und sorglos und schön vor allen und über allen der königliche Theodor, vor dem wir uns bogen, Knaben und Mädchen, klein und groß, wie vor einer jungen, glänzenden Gottheit! In dem Haus dort drüben ob dem Tuchladen hatte ich auch ein nettes artiges Mädchen recht wohl leiden mögen. Und dort unten am Sträßchen neben der Säge war ein anderes Schulkind gar oft meine Schlittgenossin den Berg hinunter gewesen. Feine Dirnlein waren es, die sich damals über alle Grenzen hinausträumten. Nun sind es zwei wackere, ziemlich magere Hausfrauen geworden, die ihre Tage da oben zwischen den engen Bergen und noch engern Hauswänden auf siebzig Jahre bringen werden und nur selten einmal in die nächste Stadt hinunterfahren, dritter Klasse, um gute Strumpfwolle für ihre sieben wilden Buben zu kaufen. Wenn wir uns begegnen, werden wir ganz leis lächeln müssen, weil uns das kleine, unschuldige Scharmutzieren einfällt. Aber sobald wir uns grüßen, verlöscht das. Andere Stimmen, andere Gesichter, fremder, schwacher Händedruck. Sie so, ich so! Eine Welt dazwischen . . .

Aber Theodor hatte hier viele Verehrerinnen gehabt. Vielen hatte er seine immer feuchten, vollen Lippen für den Augenblick eines Kelchtrunks geschenkt. Seinetwegen war eine seltsame, mädchenhafte Politik durchs ganze Dorf entstanden. Da hat man intrigiert, geschimpft, verleumdet, anonym geschrieben und sogar mit den kleinen Zähnen und den kralligen Dirnenfäustchen gefochten. Ich habe sie alle wohlgekannt, diese Amazonen um Achilles! Einige treiben nun als handfeste Bäuerinnen das Vieh an den Trog, andere haben sich in den Nachbarsdörfern an einen Krämer oder Handwerker verheiratet, viele sind mittelalterliche, strengblickende Fräulein geworden und haben trotzig Fenster und Türe ihres Jungfernheims zugeriegelt, aber lassen doch noch eine feine Scheibenritze nicht nach der frechen Hauptstraße, nein, nach dem ahnungsvollen Seitengäßlein offen, weil auch in der sprödesten alttöchterlichen Seele noch ein Streifchen Hoffnung und ein verschämter Hunger nach dem Mannsglück wie das verstohlene Licht in einem Blendlaternchen leckt und züngelt.

Und nun war der Abgott dieses vielköpfigen, unruhigen Mädchenfrühlings schon am Erblassen! Ja, ja, da hat man das Leben! Aufknisternd, verlodernd, ein Schäufelchen Asche! Verspritzt nur euer übermütiges Feuer, ihr Wintersterne da oben, ihr habt gut spotten auf uns elende Döchtlein! Von was ihr brennt, brennt ihr in alle Ewigkeit. Da gibt es kein Erlöschen und windiges Anblasen an einem neuen Zunder. Ihr habt eben eine überweltliche Gesundheit und die Berge im Kranz da herum auch und der große, helle Schnee übers Land und die unendliche Luft voll Eis und Tannen und Steingeruch auch. Nur wir Menschen, pfui Teufel, sind wir Zwerge!

Aber in diesem zwerghaften Augenblick war es mir doch ein hübscher Trost, Arzt zu sein. Da muß ich mich minder schämen. Da flick' ich doch noch ein wenig an der Vergänglichkeit herum, mache einiges besser, vielleicht auch einiges schlechter, aber will doch dem Morschwerden und Verwesen wehren und will den Funken retten, den nicht ihr verdammt hoffärtigen Funkenflitzer da oben, sondern ein noch viel höherer, funkliger Lichtherr in die große Asche der Menschheit geworfen hat, so daß er bald da, bald dort aufblitzt und zischt und singt und sich sogar groß gebärdet über alle Gestirne hinaus, dieser Funke Leben, ja noch heißer und schöner brennt als dort oben Jupiter und Venus zusammen!

Da verlosch auch das zweite, untere Lichtfenster droben auf dem Weggisserhügel, und ich stand mit meiner funkenheißen Träumerei allein mitten in der dörflichen Finsternis. Und plötzlich fühlte ich, daß der Boden kalt wie ein Gletscher war und mir die Schneeluft von den Sohlen herauf zu den Knien mit eisiger Schärfe drang. Ich sprang ins Bett und konnte nach dieser gesunden Abkühlung im Nu einschlafen . . .

Allein von den nahen schweren Glockenzeichen am Turm erwachte ich um elf und zwölf Uhr wieder. Das dröhnte, daß die eisernen Bettpfosten mitschwangen. Dann ward es noch viel stiller als vorher. Aber nicht lange. Wie ich mich einmal aufs andere Ohr lege, höre ich jemand in heftigen Sätzen über den gefrorenen Platz wie über klirrendes Eisen springen. Ich höre das laute Schnaufen. Das gilt mir, sag' ich und sitze stramm auf. Ich kenne das von Hause. Wie oft bin ich als Kind erwacht, ehe es meinen Vater aus dem Schlafe geläutet hat, schon wenn die Laufenden erst am Gartentürlein standen! Ich hätte ein geborenes Doktorohr, sagte man.

Es betrog mich auch diesmal nicht. Der Mann zerrte unten an der Klingel; aber sie gab keinen Ton. Mit einem Satz war ich am Fenster. Vom Weggisserhaus flammte mir eine ganze Reihe Scheiben lampenhell entgegen. »Was gibt's?« – »Seid Ihr der Doktor von der Stadt?« – »Ja! Geht's dem Theo – Weggisser nicht gut?« – »Ihr sollt sogleich kommen, mit mir, ich warte!«

Ich flog in meine Kleider. Hab' ich alles, Uhr, Thermometer, Taschenapotheke? So, gut! Ich bin fertig!

Wir rennen die Halde hinauf. Das Licht ist mir gräßlich über diese ganze Front. Die Haustüre steht offen. Ich laufe zur Stube, von da in die Kammer. Theodor liegt hochaufgebettet in den Kissen, den Kopf in Reginens rechtem Arm, den Mund offen, die Nasenlöcher wie verklebt, die Augen in trübem, schwindendem Licht. Er ist farblos, seine Stirne tropft, man merkt keinen Atemzug; aber tief aus dem Hals empor gurgelt und würgt es leise wie in den Kieseln eines verschütteten Brunnens.

Regina ist fast noch bleicher. Ich kenne sie kaum. Ihre Bronze scheint wie mattes, glanzloses Zinn geworden. Ihre Augen saugen sich in die leeren Blicke des geliebten Mannes. Sie sind voll Wasser, entsetzt aufgesperrt, aber lächeln den Armen doch ermutigend an. Es riecht nach Senf und Essig im Zimmer. Im Hintergrund steht die Magd mit Tüchern und einem Waschbecken.

Thedi sieht mich ans Bett kommen, aber zuckt mit keinem Lid. Er kennt mich nicht. Regina aber sagt, ohne einen Blick von Theodor zu lassen, streng und hart: »Hilf, hilf jetzt; er hat den Anfall wieder!«

»Wie lange?«

»Seit einer halben Stunde!«

»Gabst du ihm keine Pillen? Und der Sprayer? Warum denn nicht?«

Sie wurde ein wenig rot und sagte dann still, aber tapfer: »Ich traute dir nicht!«

Ich schoß ihr einen unwilligen Blick zu. Daun legte ich zwei Pillen in Theodors Mund. »Schluck sie, schluck sie sogleich!« sagte ich. »Probier's doch! Und schließe den Mund!«

Aber Theodor bewegte keine Lippe. Da stieß ich ihm die zwei Röhrchen des Sprayapparates in die Nasenlöcher, drückte heftig den Gummiball auf und zu, und tausendfach stob in dünnen, unwiderstehlichen Strahlen der alkalische Dampf zur Lunge des Patienten. Gleichzeitig rieb ich Herz und Brust sanft und eindringlich mit Kampfer ein, machte eine Digitaliseinspritzung und ließ alle Fenster öffnen, so daß die kühle, unvergleichlich reine Bergluft wie ein Eisstrom hereinflog Die Sterne in Theodors schönen blauen Augen standen unbewegt still.

Aber bald blähte er rechts und links den Nasenflügel auf, zuerst ganz leis, dann immer gieriger und stärker. Er sog die Luft in immer längern Zügen und schloß dazu die Augen erquicklich wie ein Kind an der Saugflasche. Die Blässe schwand langsam, der Atem ward tiefer, und er löste nach und nach auf der Decke die blaugelaufene Faust, bis er mit allen zitternden Fingern über das weiße Tuch tasten konnte.

»Nimm ihn noch etwas höher!« gebot ich Reginen, und sie gehorchte mit Aufwand aller Kraft und Sorglichkeit, die sie noch besaß. Wie die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte, färbte auch sie sich aus dem Zinn wieder tiefer und tiefer in ihre wunderbare Bronze. Ihre Augen wurden warm und selig. Sie schimmerten feucht wie ein verregneter Baum im ersten neuen Sonnenschein.

Nach wenigen Minuten tat Theodor die Augen wieder auf, und da waren es ganz andere Augen. Die Sterne flogen wieder ins Leben hinaus. Sie schimmerten. Er bewegte die Lippen, ohne eine Silbe zu sprechen. Aber seine Blicke wanderten bald zu mir, bald zu seiner Frau, fast schon so lustig, wie ein Vogel von einem Sprossen zum andern fliegt.

»Ach, ist das ein anderes Leben!« hauchte er endlich ins Gesicht seines Weibes. »Walter, du?«

»Pst!« machte ich und drohte mit dem Finger. »Regina, wisch' ihm jetzt den Schweiß ab und deck' ihn gut! So! Recht! Und jetzt stäub' ihm noch einmal von der Flüssigkeit in die Nase! Schau' so, nur dreimal! Ich muß in die Küche!«

Sie nickte dankbar. »Geh' nur, mach', was du für gut findest!«

Die Magd zeigte mir, wo Rum und Eier waren. Ich schlug das alles in einem Glas zu einem dünnen Schaum, wärmte die Schleckerei und gab sie Theodor zu trinken.

»Walter,« sagte er hernach, »du verstehst das Geschäft großartig! Ich möchte jodeln!«

»Schlafen mußt du jetzt!«

»Was schlafen? Keine Rede! Jetzt wollen wir lustig sein und plaudern,« forderte er, von den Arzneimitteln wie betrunken.

»Regina, befiehl ihm, daß er schlafe! Er kann's jetzt und er muß es jetzt!«

Da fuhr sie ihm mit der braunen Hand langsam über die Stirne, küßte ihm den Mund und bat: »Schatz, wir müssen dem Walter gehorchen! Es ist besser so. Schau nur, was er für Augen macht! Sonst läßt er uns im Stich!«

In der Tat, ich machte jenes fürchterlich grimmige Gesicht, das so mancher Arzt in gefährlichen Augenblicken bekommt, ohne es zu wollen, das etwa heißt: Vogel, friß oder verdirb! Ein Gesicht, daß sogar der alte Tod recht oft Reißaus nimmt, so sehr erschreckt es ihn.

Folgsam wie ein Kind schloß Theodor sogleich seine Augen, und Regina setzte sich wachsam zwischen ihn und das Lampenlicht.

»Ich möchte nach den Kindern sehen,« bat ich leis.

Sie nickte, ohne mich anzusehen.

Die Magd wollte mir mit einer Kerze vorangehen. Aber ich nahm ihr das Wachs und ging allein hinauf. Geräuschlos öffnete ich die Kammer. Sie war voll lauen Bettgeruchs. Ein elektrisches Flämmlein brannte hinter einem grünen Vorhängchen. Es war ein kleines Zimmer mit einem einzigen Bett. Darin saß Arnoldli aufrecht und die Mohrenaugen angelweit offen. Er hatte den kleinen Finger zwischen die aufgeblähten blutroten Lippen gelegt, ließ die Füße über die Bettlade hinunterhangen und horchte angestrengt.

»Gelt, der Vater?« machte er grollend und warf den Mund hoch.

»'s ist schon vorbei, Arnold, mußt dich nicht mehr sorgen! Schlaf nur wieder!«

»Warum hast du mich nicht gerufen?« grollte der Bub weiter.

»Was hülfe das? Die Gesunden sollen schlafen! Nicht sich auch noch krank machen! Vater schläft auch bald.«

»Ja?« lispelte Arnoldli ungläubig und maß mich von oben bis unten mit seinen hochmütigen Blicken. Denn augenscheinlich wollte ich das Wunder bewirkt und Vater eingeschläfert haben!

»Er hat sogar jodeln wollen, so wohl ist ihm geworden.«

»Bist du so ein Doktor?« staunte der Kleine nun doch.

»Aber jetzt wird er schon schlafen. Und auch ich will zu Bette. Nur möcht' ich schnell schauen, wo mein Mimeli liegt.«

Mit einem katzenleichten Sprung war Arnoldli aus dem Bett bei mir, faßte meine Hand und schritt mit mir im langen, den Boden beinahe streifenden Hemd mit den prächtigen Saumstickereien zur halboffenen Nebenkammer, wo die Mädchen schliefen.

»Nicht da,« sagte er und zerrte mich von einem kleinen Bett zum großen hinüber. »Sie sind zueinander gekrochen. Sie haben sich stark gefürchtet. Ich bin ihnen ja aufs Bett gehockt und habe grausiges Zeug erzählt!« Er lachte mit verspritzenden Lippen und einer prachtvollen Vergnügtheit in den Samtaugen. »O, ich habe sie erschreckt! Siehst du, da liegen sie noch. So haben sie einander an die Wand gedrückt, als ich sagte: ›Und der Walfisch machte mit dem Maul so: Chhhchhchhou–tschst–tschststst!‹«

»Du bist ein Donnerwetterskerl, du!«

»Verschrecken tu' ich heillos gern!« Er knipste hell mit Daumen und Zeigefinger. »Aber ich helf' ihnen auch am Tag gegen die bösen Hunde und die großen Buben.«

Klärli lag am Hals Mimelis und zeigte die oberen breiten Zähne, so hoch hatte es die volle Weggisserlippe im Schlaf geschürzt. Mimelis Backen funkelten wie zwei Leuchtkugeln. Das Haar fiel ihr wirr um die Schläfen. Es runzelte angestrengt das Stirnlein, wie oft bei einer hartnäckigen Arbeit. Der Walfisch zappelte wohl noch immer durch seine Sinne. Arme und Händchen hatten die Mägdlein so durcheinander geschlungen, daß ich nicht gewußt hätte, wem diese oder jene Hand gehöre, wenn nicht Mimelis ganz wenig größer und weißer gewesen wären. Aber die zwei Gesichtlein waren gleich sanft und doch regsam, sie trugen das gleiche, eichhörnchenfarbene Haar und so dünne, blendend weiße, zarte Hälse wie junge Schwäne. Ich küßte beiden die nestwarmen Wangen.

Als ich wieder aufblickte, sah mich der Bub geringschätzig an.

»Ihr seid doch kurios, ihr von der Stadt!« meinte er.

»Warum?«

»Ah bah, daß ihr immer küssen mögt! Das Mimeli hat mich auch wollen. Aber ich habe mich ganz steif und hoch gemacht wie ein Turm. Schau' so!« Er reckte sich schlank in die Höhe, das Kinn wagrecht in die Luft haltend, und glühte mit den Augen vor innerem Lachen und vor Bubenstolz. Es war mein herrlicher Theodor ins Kind übersetzt.

»Sst,« machte ich, »was ist das?« Wir horchten beide.

Der Kleine lächelte flink und sprach langsam und überlegen: »Mutter jodelt dem Vater vor.«

»Was?« rief ich ungläubig.

»Wenn der Vater wieder gut schnaufen kann, muß Mutter ihm jodeln. Los', wie gut kann sie jodeln!«

Schimmerig leis drang es durch die dünne Diele herauf, auf und ab, leichtsinnig und hochgemut, mit wenig Worten, ohne Takt, Note an Note fließend, wie ein singendes, schwimmendes, klares Wasser. Das ist der Jodel der Älpler . . .

Ich wußte von unsern Studentenzeiten her, wie Theodor fast krankhaft das Jodeln liebte. Er selbst hatte prachtvoll gejodelt. Aber nie in der Stadt. Der Jodel in der Stadt ist wie ein zahmer Gemsbock in ihrem Park. Wahr und unvergleichlich ist er nur oben in der kulturfernen, himmelnahen, gipfeljauchzenden Felswildnis. Dahin allein paßt dieses gesetzlose Lied. Es ging Theodor über alle Kunstmusik. Sobald auf der Bergtour die ersten Arven und Wettertannen kamen, warf er Kragen, Rock und Weste von sich, öffnete das Brusthemd und stülpte die Ärmel zurück. Und nun ward alles urmenschlich und wie ein Jodel an ihm, die schwindelnd blauen Blicke, das elastische Knie, die ganze Musik seiner jungen Wohlgestalt, vor allem aber sein Mund. Er sprach dann im melodischen Heben und Fallen der Silben wie die Älpler allhier, stemmte auch die Arme bald in die Hüften, umschlang einen der schönsten, höchsten Gipfel mit den flammenden Augen und begann aus der ganzen süßen Wildheit seines Berglertums zu jauchzen: »Tüoljehuh-u-uh-holio-o–tüoljeuh-u-uh-hioooo!« daß es wie Orgel an die nächsten Wände schlug, von da weiter an die jenseitigen Felsen geschwungen ward und so ferner und ferner ins Gebirge verrollte, bis es an irgendeiner unerreichbaren Zinne mit einer letzten Note feierlich verzitterte. Aber lange, lange bebte die süße Luft allum noch von der Melodie nach.

Jetzt konnte er nicht mehr jodeln. Aber wie damals in der erhabenen Luft der Berge mußte ihm wohl sein. Wie eine Bergschwalbe, so leicht fühlte er sich jetzt. Darum wollte er einen Jodel haben, und darum jodelte sie ihm aus ihrem verängstigten Herzen. Das ergriff mich unbeschreiblich . . .

Und wie sie jodelte! Nicht mehr keck wie früher, sondern mit einer leisen, weichen, züchtigen Stimme, fast wie das Summen einer goldenen Biene oder wie das Auf- und Abwiegen einer Kinderwiege. Ja, einem großen Kinde sang sie hier das Schlummerlied . . .

»Welch eine Frau!« entschlüpfte es mir.

Der Knabe sah stolz, wie ich horchte; dann zupfte er mich am Ärmel und flüsterte: »Ich kann's auch!«

Und ehe ich es wehren konnte, hatte er seine überschwellenden Lippen halb geöffnet, den Kopf schräg auf die Achsel gelegt und begann in rhythmischem Hin- und Herwiegen des kleinen, elastischen, vom schneeweißen Hemd umflossenen Leibes die gleichen, endlosen, stimmungsvollen Noten auf und ab, hin und her, eilend und zögernd, bergan und wieder talwärts. Mit einer so feinen, von keinem Erdstäubchen verunreinigten Stimme jodelte er, daß es einer silbernen Engelstrompete eher als einer Menschenkehle glich: Thüol-jehu-holio-o-o.

Drunten verstummte man plötzlich eine kleine Pause lang; dann kam die Antwort herauf. Aus dem hellen Klingelklang hier oben und aus dem tiefern dunklern Einsatz von unten ergab sich ein Zusammenspiel, als ob von der Erde herauf Menschen danken und aus einem besonders saubern Stern herab ein Engelchen riefe: »Ist gern geschehen, ist gern geschehen!«

Die kleinen Mädchen bewegten sich ein bißchen in den Federn. Sie stammelten etwas Unaussprechliches dazu im Traum und machten erheiterte Gesichtlein – Kinderhimmel!

Mir war, ich lebe in einer frommen, alten Legende, bis das Duett aufhörte. Zuerst verstummte man unten, worauf der Engel hier oben noch einen kurzen, reinsilbernen Triller anschlug und dann Kopf über Hals in seinen Flaum stürzte und einschlief . . .


 << zurück weiter >>