Heinrich Federer
Regina Lob
Heinrich Federer

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Ich weiß nicht mehr, wie lange ich bald zusah, bald mechanisch mithopste. Verärgert bis in den Grund meiner Seele lief ich endlich in den Rauchsalon, wo ältere Philister sich aus den Witzblättern vorlasen oder einen Königsjaß spielten. In einer wolkigen Ecke saß zu meinem Staunen der schöne, olivenbleiche Echino Gonzal Deflores allein an einem Tischchen und dampfte wütende Nebel aus seiner Virginia. Er stierte mit seinen unvergleichlich großen, samtschwarzen Augen steif in die Diele. Dem war etwas Böses passiert, das merkte ich auf den ersten Blick. Er hatte die Schärpe um den zarten, schlanken Hals gewickelt und trug den Hut auf den Knien, als wollte er im Augenblick heimgehen.

Ich empfand eine seltsame Freude, ihn so zu treffen, und sagte mit erzwungenem Spaße: »Was? Amor höchsteigen tanzt nicht? Willst du denn heute alle hübschen Kinder zur Verzweiflung bringen?«

Unser achtzehnjähriger Don Juan machte eine unliebe, abwehrende Geste. Sein schmales Aristokratengesicht wurde ganz hart und farblos.

Die Gonzal waren eine vornehme alte Familie unserer Stadt, Tabakfabrikanten von Ruf. Vor dreihundert Jahren waren sie aus dem spanischen Cuba eingewandert, hatten sich seitdem reichlich mit nordischem Blut vermischt und schrieben sich nun Gonzi. Aber der Sprößling Echino blieb beim Gonzal, denn in seinem Gesicht war das schönste, dunkelste, härteste Spanien wieder rein erblüht. Dutzend Sünden verziehen wir ihm, seiner zauberischen Fremdartigkeit zulieb, die wir an den heimischen, blonden Kameraden bitter gerügt hätten.

»Nein, Echino Gonzal Deflores, so entrinnst du mir nicht!« prahlte ich. »Was fehlt dir? Ich bin auch nicht munter; aber zum Teufel, das muß man eben hinunterschlucken!«

»Ach was!« sagte er leis mit seinem weichen spanischen Akzent.

Ich setzte mich neben ihn und schlang den Arm um seine schlanke Schulter. »Bitte, was ist's?« Aber sogleich riß er sich behend los, stand auf und setzte den weichen Banditenfilz, der ihm so prächtig anstand, auf die kastaniendunkeln, halblangen Locken. An der Türe verzog er sein schönes Herrengesicht zu einer häßlichen Grimasse und kerbte leis und böse zwischen den blassen Lippen hervor: »Kannst deine Schwester fragen und dich bei Regina bedanken! Addio!«

»Was ist das doch für eine Nacht!« dachte ich. »Am Ende geht heut noch die Welt unter! Meinetwegen!«

Doch dieser stoische Gedanke beruhigte mich nicht. Ich durchstöberte das ganze lichtdurchflutete Haus nach meiner Schwester. Endlich stieß ich auf Theodor. »Was hat's gegeben?« fuhr ich ihn an. »Wo ist Pauline?«

»Pst!« machte er und zog mich aus den vielen Menschen ins leere Vestibül hinaus, wo wir uns in eine dichte Lorbeerlaube setzten.

»Also!« hastete ich in der Angst vor etwas Bösem.

»Der freche Spaniol hat mit Elfchen getanzt. Dann spazierte er mit ihr ein wenig abseits . . .«

»Und dann?« schrie ich und sprang entsetzt auf.

Die Riesentatze Theodors bog mich wie ein Hälmchen in den Sitz zurück. »Ruhig! Du weißt, Gonzal ist in dein Schneeglöcklein verliebt. So was Blondes gibt es in seinem dürren Spanien nicht. Da hat man nur Narkotika wie Mohn und Schierling und . . .«

»Laß doch das! Was haben . . .«

»Gonzal zog das Kind hieher, wo wir sitzen. Elfchen merkte natürlich nichts. Er setzte sich neben Pauline und tat verflucht artig, bis ihm das dicke andalusische Blut überlief und er wie sinnlos Elfchen mit Bitten und Drohungen bedrängte und umarmte und küßte und mit seinen Gewaltsaugen fast verzauberte und weiß Gott was getan hätte, wenn nicht ihr schöner großer Schutzengel hergeflogen wäre . . .«

»O Gott, red', red'!«

»Natürlich meine allgegenwärtige Regi! Sie suchte ihr Täubchen und hörte es irgendwo gurren und schoß wie ein Falke herzu und kam präzis recht, um dem wüsten Mädchenplager mit ihrer großen, schönen Hand eine Ohrfeige zu hauen, daß ganz Spanien mit den Pyrenäen zitterte . . . Das gibt ein Gedicht, he, Walter?«

»Theodor,« schnaubte ich, »sag' die Wahrheit!«

»Ich steh' dafür: Nichts als Küsse und Umarmungen! Dafür ist er nun bezahlt. Ich kam gerade dazu, wie er aus diesen Stauden heraus- und davonschlich. Ich sag' dir, wie jene berühmte schöne Paradiesschlange, als der Erzengel sie aus dem Garten stieß. Regina ließ ihn nicht aus dem Auge, bis er sich spurlos hinausgeringelt hatte, dieser glatte, vermaledeit schöne und böse Evaverführer! Ja, wie der Paradiesengel sah sie ihm nach. Und er wagte kein einziges Mal zurückzuschauen und zu züngeln, wie sonst die Schlangen tun. Siehst du, das ist meine Regina! Glaubst du jetzt an sie? Hättest du nur gesehen, wie sie das Elfchen dann tröstete! Eine Mutter am Schaukelbett kann's fürwahr nicht so gut . . . Eia, da kommen sie selber, sieh! Nur dies noch ins Ohr: Mit dem Spaniol rechne ich ab!«

Regina gab mir das bleiche Mädchen mit den leise geröteten Augenlidern sorglich in die Arme, nachdem sie es auf Mund und Stirne mit unsäglicher Zärtlichkeit geküßt und immer wieder umarmt hatte. Darüber waren dem Elfchen neue Tränen gekommen.

In der Kutsche umschlang ich mein geliebtestes Wesen auf Erden so heftig wie wohl noch nie. »Lach' jetzt wieder!« bat ich.

»Darf ich denn? Ist denn das nicht so schlimm gewesen?« fragte das arglose Tröpfchen und verbarg das Gesicht an meiner Brust.

»Für dich doch nicht! Was kann man dafür, wenn uns eine Schlange beißt? Was machen sie in Sizilien? Sie tanzen dann! Also, lach' wieder!«

Wahrhaft, da wischte sich Elfchen die Tropfen vom Gesicht und redete sogleich wieder mit einem so erlösten und fröhlichen Orgelstimmchen, wie ich es selbst nie vermocht hätte. Sie erzählte von den goldigen Trauben des Goldlack, die sie ganz allein für diesen Abend gekauft und Reginen zulieb in die Vasen gestellt habe. Denn Regine sei vernarrt in solche betäubende Duftblumen. Sie malte mir aus, wie gut die Torte gewesen sei. »Ach, hab' ich das Stücklein wohl noch?« klagte sie plötzlich und knusperte in der Tasche herum. »Nun ist es wohl verbröckelt!« Nein, da kam das aufgehobene Schnittlein sauber im Seidenpapier aus der Tasche, und im Nu hatte Pauline es aufgeschnäbelt. Dann plauderte Elfchen mir etwas von drei Kinderpärlein vor, die auch getanzt hätten und mit denen sie viel Spaß getrieben habe. »Nachher, weißt, nach dem Wüsten da, hat Regina mich zu diesen sechs Kleinen geführt. O, diese Engelchen! Ich mußte sie zu Bette bringen. Da schoß mir bald ein Büblein, bald ein Zopf aus den Federn, und das war ein Kichern und Kobolden, ja, da hatte ich eigentlich schon alles vergessen mit diesem . . .«

»Red' nicht mehr davon!«

»Und Regina, wie die hereinschoß, wie das rauschte, Gott, wie von einem großen Vogel und wie es dann klatschte, als wenn er seinen Flügel an einen Felsen schlage . . . Der Elende! Ach, weißt du, Walter, er ist doch ein Armer! Ich sah's ihm an, er ist doch ein Armer!«

»Du bist mir eine hübsche Klägerin,« lachte ich und drückte dieses gute, übergute Wesen fest an mein Herz, damit von solcher Reinheit auch etwas zu mir übergehe.

»Gonzal hat mich gern, furchtbar gern, ich hab's gesehen. Seine Lippen haben geblutet, er ist abgekniet, er hat geweint . . . Er wußte nicht, daß ich das nicht verstehe, daß mir ein Kindlein lieber ist als der schönste Prinz von Spanien . . . Aber er hat mir doch leid getan, so leid, daß ich . . .«

»Ach, Närrchen, so ein Schauspieler! Hast du nicht jüngst gesagt, wie gut er Theater spiele?«

»Still, still, das war nicht Theater! O Gott, nein! Und doch war es gut, daß Regina kam. Aber wie sie dreinschlug, ihn fortstieß, wie der Arme davonkroch! Es war zum Erbarmen . . . Jedoch, warum auch ließ er mir keine Ruhe?«

›Welch ein Kind!‹ dachte ich.

»Ich habe gehört, daß Theodor morgen dem Gonzal Zeugen auf die Bude schickt; Regina hat ihn darum gebeten. Aber das will ich nicht. Höre, Walter, das mußt du verhindern. Ich will dem – dem – dem Schlingel selbst schreiben, daß ich ihm verzeihe, wenn er mich fortan genau so behandle wie sein Bäslein Ponce Teresa. Er führt sie kaum an den Fingerspitzen, küßt ihr nur den Handschuh, wie ein Grande! Er soll mir das Ehrenwort geben. Dann darf er wieder zu uns kommen.«

»Bist du denn toll?« entfuhr es mir nun doch. »Weißt du denn nichts von . . . Ach nein, lassen wir das!«

Was sollte ich gerade jetzt von Fräulein Pia Lehner reden, die Gonzal so lang liebkost hatte, bis sie meinte, ohne ihn nicht mehr leben zu können. Er aber schob sie, als er genug hatte, mit kühler Grausamkeit von sich. Nun wagte sie kaum noch in einen Wohltätigkeitsverein zu gehen. Und sie trug Schwarz wie eine Witwe und redete nichts und sah irgendwo ins Blaue, wenn man sie ansprach. Wie eine Verstörte! Aber noch schlimmer war, was man von den Mägden im Hotel der Gonzal erzählte . . .

Er war ein Deflores nicht nur dem Namen, sondern auch der Tat nach. Indem ich das erwog, übertrieb ich bei mir, in welcher heillosen Gefahr mein Täubchen noch eben geschwebt habe. Gerührt küßte ich sie und schloß sie wieder und wieder wie etwas köstlich Errettetes an mich.

»Aber was sagst du von Regina?« frohlockte Elfchen in ihrer jetzigen, seltsamen Erregung. »Wie bist du geschlagen, Walterli! Bekenn' es nur! Nun mußt du alles zurücknehmen, was du verleumdet hast, alles, gleich, gleich!«

»Ich werde Reginen morgen danken!« versprach ich kühler.

»Das ist zu wenig, nein, das ist gar nichts! Du mußt zu ihr gehen und sie um Verzeihung bitten, morgen, ich komme mit und helf' dir!«

Unwillkürlich lockerte sich unsere Umarmung.

»Ich werde nie mehr etwas gegen sie aussagen,« fügte ich eisig hinzu. Regina war großartig gewesen, ohne Zweifel. Aber deswegen haßte ich sie nicht weniger. Im Gegenteil! An mir wäre es gewesen, meiner Schwester in der kritischen Minute beizustehen. Regina war mir zuvorgekommen. Oder besser, sie hatte getan, was der eigene Bruder versah. Darauf wird sie nun erst recht pochen und nicht bloß das Mutterrecht, sondern auch das Bruderrecht über Pauline sich anmaßen.

»Walter, soviel wirst du doch einsehen, daß du schlecht gegen Regina gehandelt hast!« kämpfte Elfchen mit einer ungewohnten Festigkeit weiter. Dabei ließen wir uns langsam aus den Armen gleiten.

»Du hast sie schwer beschimpft! Mit ganz gemeinen Schimpfereien hast du meine Königin besudelt! Sei ehrlich, gib das zu!«

Ich stemmte meine breiten Zähne aufeinander, um keine Silbe entschlüpfen zu lassen.

»Walter, lieber Walter!« Ich fühlte, wie ihre kleine Hand im Dunkel die meine suchte. Aber nun war es einmal Zeit, hart zu sein. Ich fing an, leise zu pfeifen: »La donna è mobile . . .«

Darüber erboste Elfchen so sehr, daß es in die andere Ecke des Wagens kroch und ein Weilchen totenstill blieb. Sie überlegte etwas. Da, auf einmal brach sie gegen mich in einem Tone los, den sie heute abend erfunden haben mußte, in einem ganz unabhängigen, trotzigen, neuen Ton: »Gut, du willst nicht . . . Aber höre: Du verdammst Gonzal und hast meine Regina viel ärger beschimpft, als der Spaniol mich beschimpfen konnte!«

»Paulina!« brauste ich auf.

»Lärme nur; aber das bleibt doch wahr!« Ich hörte deutlich, wie sie eigensinnig ihren Kopf in die Ecke schlug, um zu sagen: Punktum, so ist's! Amen!

»Ei, das ist ja schon weit mit dir gekommen! Da muß der Vormund ins Werk! Ein paar Jahre fort, ins kühlere England, bis du nicht mehr verhext bist!« sprudelte ich blödsinnig durcheinander.

»Jetzt schwatzest du große Dummheiten, Walter!«

»Du wirst früh genug erfahren, wo die Dummheit . . .«

»Ich fürchte dich nicht!«

»Um so besser!«

»Du willst uns trennen, das ahnten wir schon lange. Aber das bringst du nicht fertig. Ich habe Reginen alles erzählt. Ich habe sie gewarnt vor dir. Du habest Übles gegen sie im Sinne. Aber sie fürchtet sich noch weniger als ich. Alle Tage gehen wir nun zueinander. Wir wachsen zusammen wie Zwillinge . . .«

Zwillinge! Dieses Wort schoß wie ein scharfer, schmerzhafter Sonnenschein mitten in das schwarze Gewölke unserer verzwisteten Seelen. Pauline vermochte nicht sogleich fortzufahren, so voll ihr Mund auch war. Zwillinge! Waren denn nicht wir zwei so seltene Leutchen im gleichen Atem in den süßen Tag gesprungen, gleich jung an jedem Morgen, gleich alt und reich an jedem Abend? Hatten wir nicht die Wiegen und dann das Bettlein nebeneinander gehabt, gleich groß und gleich schmal? Und dann am gleichen Tag die ersten richtigen Schuhe bekommen, das gleich schwere Ränzlein in die Schule getragen? Zwillinge . . . Hatten wir nicht bisher so, wie wir am Geburtstag einen einzigen großen Kuchen zusammen aßen, auch das Leben, die Welt, die Zukunft gemeinsam naschen und leiden wollen? Dieses Wort Zwillinge machte uns jetzt beiden Heimweh. Wir erbebten bei seinem Klang wie vor einem tiefen, tiefen Vorwurf; aber während Elfchen dabei in eine ehrliche Reue geriet, schlug mein Weh in eine ebenso große Wut um, weil all dieses Trauliche und Heilige der Zwillingschaft nun an meine Feindin verloren gehen sollte . . .

»Du kannst da,« lenkte Pauline ungeschickt ein, »du kannst da gar nichts machen als schimpfen! Schimpf' in Gottes Namen, Walter! Aber nein, sei mein guter, alter Bruder, bitte, lieb' mich doch wie früher! Laß mich eine Freundin und einen Bruder haben, das geht doch gut zusammen! Lieb' mich wieder!«

Aufs neue suchte sie meine Hand im Dunkel des Wagens und fand und faßte sie fest. Ich ließ es geschehen, ohne einen Finger zu rühren. Da ließ sie mich wieder los und schwieg.

In diesem Augenblick wußte ich, daß sich meine Schwester von mir befreit habe, daß sie ein unabhängiges, starkes Jüngferchen geworden und daß ich, ihr bisheriger Meister und Schirmer und Halbgott, in dieser Minute aus allen meinen schönen und hohen Ämtern entlassen sei. Das Unausdenkliche hatte sich wie von selbst erfüllt. Zwischen uns gar zu verklebte Geschwister war das rauhe, unerbittliche und doch so gesunde Leben getreten – zuerst mit der geliebten Freundin. Aber das ist nur der Anfang, und immer tiefer wird das Leben seinen unwiderstehlichen Keil zwischen uns treiben, bis wir nichts mehr gemein haben als den Familiennamen und das helle Haar und die grauen eigensinnigen Augen. Aber sonst gar nichts mehr!

Vor unsern Kammern gaben wir einander wie immer die Hand. Aber ich sagte nur: »Gute Nacht!« Sonst hatte ich immer eine Litanei von Spitznamen und Süßigkeiten daran gehängt. Jetzt wurden mir schon die zwei Worte zuviel. Traurig und schüchtern erwiderte Pauline: »Gute Nacht! Bist du nicht mehr böse?«

»Ach nein . . . Aber wir wollen schlafen . . . Es ist schon spät!«

Von da an gingen wir beide unsere eigenen Wege, zuerst zögernd und oft wehmütig zurückblickend, dann tapferer und mit der wachsenden, bittern Kraft der Gewohnheit. Aber von da an haßte ich Regina Lob mehr als alles Böse in der Welt, jedenfalls viel mehr als hundert Echinos Gonzal Deflores!

*           *
*

Dieser Haß starb nicht; aber er schlief nach und nach ein wie alles, das sich ermüdet und seinen Tag vollendet hat. Es gab überdies so vielerlei Neues.

In unserer Familie herrschte die Arzneikunde wie eine Überlieferung. Das einzige unberatene Glied, das vom kahlen Äskulap zu Apollo gesprungen war, starb zur Strafe für diese Fahnenflucht auf einem Laubsack im Armenhaus. Da warf sein Sohn sich wieder in die längsten Rezepte, und als er das Zeitliche segnete, um, wie er spaßte, selber nachzusehen, ob denn wirklich Doktoren im Himmel wären, lag wieder ein sauberes Häufchen Gold in der Truhe.

Nachdem ich durch mehrere Semester mich mehr mit Nebensachen als mit meinem Fach beköstigt und mir vor allem am lyrischen Zuckerstengel für lange den gesunden Appetit fürs große schaffende Leben verdorben hatte, erwachte endlich auch in mir der alte medizinische Familiensinn, und ich warf mich nun mit Kraft und Ziel auf das Studium des äußern und innern Menschen, seiner Unarten und Bravheiten. Die seelischen Erfahrungen mit den zwei Jungfern hatten mir sicher keinen kleinen Stoß in dieses Studium hinein gegeben. Besonders war ich auf die Erforschung des Schädels versessen, dieses kunstreichsten und köstlichsten aller irdischen Gefäße. Wie nur je ein frommer Ritter von Montsalvat den heiligen Gral, so betrachtete ich mit immer gleicher, wahrhaft kirchlicher Ergriffenheit diesen Becher, bis an den Rand mit Wundern gefüllt. Ich konnte vor einer einzigen Naht oder dem unscheinbarsten Joch oder Kerb im Gebein stundenlang sitzen und mir ein Bild des ehemaligen Menschen daraus formen: wie er sprach, blickte, unter einer glatten oder gefurchten Stirne arbeitete, wie er eilig oder sachte ein Ja, ein Nein aus der verzwickten Werkstatt des Gehirns entließ . . . Und von den Formen des Bechers stieg ich zu seinem dunkeln Inhalt und wollte alles bis auf die Nagelprobe erfahren. Und tausendmal jammerte ich, daß man das alles am Menschen nur tot und kalt in die Hand bekommt, nicht wenn es spielt und funkt und klingt. Ach, wenn nie eine Brille erfunden wird, mit der man durch den Menschen wie durch ein Kristallwasser schaut, oder wenn nie ein Element entdeckt wird, das tausendmal tiefer als die Augen des Radiums durch Fleisch und Blut blickt, so bleiben wir ewig arme Schlucker an diesem Kelch voll Geist und Unsterblichkeit! Entmutigt wandte ich mich dann von den Organen, die im Spiritus schwimmen und doch keinen Spiritus mehr haben, zu dem zurück, was hell und fest gemodelt steht, zum tapfern Knochen, womit der Mensch seinem Leben gleichsam das Gemäuer mit lichtem Tor und klugen Fenstern gibt. Hier gab es sicher nichts Rundes noch Plattes, nichts Gebuckeltes und Gehöhltes ohne strengen und unfehlbaren Einfluß aufs Leben, das da ringsum flutete. Da bedeutete jeder Zentimeter etwas Großes. Da ist vielleicht schon alles, alles gesagt, was wir Physiologen, Psychologen und Somatologen – ach was! – was wir Schüler des Menschlichen seit Jahrtausenden suchen. Da ist es vielleicht so deutlich ausgesprochen wie die Zeit am Zifferblatt, so daß man nicht erst jedes Rädchen und Schräubchen und Umschalten der Arbeit im lebendigen Innenwerk totmachen und zerlegen muß. Neben dem allgemeinen medizinischen Lehrgang verfolgte ich diesen Seitenweg mit wachsender Liebe, und ich bedauerte, daß der Marsch auf der Hauptstraße mir so wenig Muße zu jenem vielleicht noch nützlicheren Abstecher gestattete.

Bei diesen Knochenstudien war mir eine geordnete, lebhafte Phantasie von unschätzbarem Wert. Ich bekleidete nach und nach so ein Gerippe in der Anatomie mühelos und gewiß nicht unwahr mit seinem Fleisch und Blut. Und umgekehrt schälte ich das schöne warme Gewand der Sinnlichkeit von den straßenwandelnden Menschen ab und erblickte ihre steifen Gerippe. So gewöhnte ich mich, die Formen des Lebens am toten Gebein und die Formen des Gebeins am wandelnden blühenden Fleisch zu schauen. Und durch die unzähligen Entdeckungen und Folgerungen, die man aus dem Vergleich des Starren mit dem Flüssigen, des Gerippes mit dem Leben, des Knochens mit dem Geist an einer und der nämlichen Person macht und die in ihrer Buntheit doch ein geschlossenes Gesetz darstellen, kommt es ganz von selbst, daß man gelassener über das menschliche Gebaren urteilt, weil das Böse nie so böse verschuldet und das Gute nie so gut verdient ist, indem der Knochen mit seinen Wölbungen und Gruben wohl mitgeholfen hat. Oder haben etwa dieses eng verstemmte Gebein nicht den Eigensinn, jener grandiose Bogen nicht den erhabenen Schwung der Gedanken unterstützt? Hier sind die Schläfen eingedrückt, und wahrhaft, der Mann hatte seine liebe Not, ein eigenbrötlerisches, geiziges Wesen nicht aufkommen zu lassen. Aber dem gewaltigen Hinterkopf dort ist ein schwerfälliges und hinterhältiges Leben zuzumuten . . . Wo ist wohl, fragte ich mich, jene Anordnung des Schädels zu finden, die Tücke und Katzenhaftigkeit, und wo die andere, die einen offenen, sichern Charakter begünstigt? Und immer, wenn ich an solchen Sachen herumgrübelte, nahm ich von Regina und Pauline wieder ein Pfündchen Verschuldung weg. Freilich, das war Fach und Wissenschaft. Gar oft stellte das Leben außer dem Hörsaal mir wieder alles auf den Kopf.

Eines Tages wurde uns auf einer Studienreise in einer alten deutschen Stadt der Schädel eines berühmten historischen Taugenichts gezeigt. Er hatte gezankt, gemordet, geplündert und sich dabei immer im Recht geglaubt und war dann unter stundenlangen Feuer- und Messermartern wie ein Held gestorben. In der Politik verfemen ihn alle heutigen Parteien; aber in der Anthropologie, das sah ich nun schlagend, mußte der Unselige schonender behandelt werden. Es lag eine Größe und Festigkeit in diesem Schädel und eine flinke, rastlose Freude, jetzt hier, jetzt dort etwas Buntes zu treiben. Hätte man nun diesen Menschen mit seinen prachtvollen Eigenheiten so, wie schon äußerlich Stirne, Schläfenbein und Kinn, kurz die ganze Sprache seines Schädels heischte, auf ein tüchtiges und angepaßtes Ziel gerichtet, wie groß stände er heute in den Büchern! Aber da gab es noch keine Anthropologie und keine ihr gemäße Pflege und Erziehung – gibt es das heute? – und so genügte ein Steinchen im Weg oder ein mißverstandenes Wort, diesen genialen Burschen auf so ungeheuerliche Abwege zu bringen . . .

»Beachten Sie wohl, meine Herren,« sagte unsere Autorität, »was die Hauptmerkmale dieses Kopfes sind: alles geht sich nahe, packt sich fest, greift ineinander, klemmt sozusagen Bein in Bein. Es herrscht die Tendenz, sich zäh zu verschließen, nicht froh zu öffnen; die Geste des Zuklammerns, nicht die des Ausgebens, drückt dieser historische Schädel aus.« – Das wies uns nun der Professor scharfsinnig an hundert Merkmalen von den Occipitalia an bis hinunter zum Kinnhöcker nach – »Und so war die Politik dieses Kopfes einst gewesen, zäh und hart und mit Leib und Seele in das, was er einmal für recht ansah, verklaubt und vernarrt, mochte es noch so verrückt sein, so daß er lieber sich zu Tode foltern als zum allerkleinsten Zugeständnis bewegen ließ – standhaft wie ein Bär!«

Wieder fragte ich mich: Und Regina? Ihre geschmeidigen Knöchelchen werden wohl auch so instrumentiert sein, daß es eben die mir so verhaßte Musik geben mußte. Aber es könnte wohl auch, wie beim Helden da, eine andere Musik geben. Und wahrlich, das ist nicht allein ihre Schuld, daß nur die eine Tonart spielt, diese zänkische, lügnerische, katzenfalsche, sondern da ist wohl auch die Mutter mitbeteiligt, der Vater im Irrenhaus und noch hundert und hundert Leutchen mit hundert und hundert Kleinigkeiten. Ich bin sicher auch vom ersten Schulbänklein an gehörig mit dabei. O Gott, was will ich einen lebendigen Menschen hassen, dem die halbe oder Dreiviertelssünde durch Erbschaft und Anerziehung und durch uns Mitlebende alle aufgehalst und erst noch durch so bequeme und verführerische Knöchlein in den Weg geleitet wird! Wie wenig gibt es da zu strafen und wie viel minder noch zu hassen!

Mit diesem guten Gedanken kehrte ich heim. Zwei Briefe lagen auf dem Pult. Der eine kam von Ilgis und enthielt die offizielle Verlobungskarte meines Freundes. Anderthalb Jahre ruhe sein Vater im Grabe. Er hoffe, ihm mit diesem Papier nicht mehr weh zu tun. Die Anverwandten wehrten und ermunterten nicht. In den nächsten Wochen komme er zum Examen in die Stadt herunter. Zum letztenmal! Dann rüste er sein Staatshaus zum Einzug der Braut. »Gehe hin und tue desgleichen!« schloß er.

Der Spaß machte mich nicht lachen. Ich hatte meinen einzigen, unendlich lieben Freund für immer verloren.

Indem ich das erwog, zerstoben alle anthropologischen Barmherzigkeiten wie Spreu. Nun war die Katze am Ziel. Sei's denn! Ich will all das vergessen. Brief und Karte warf ich ins Ofenfeuer. So, sagte ich, als die verkohlten Fetzen zur Asche verfielen, so soll mein Gedächtnis an euch erlöschen!

Unwirsch riß ich den zweiten Umschlag auf. Aber bei den schönen, runden Wörtlein und zierlichen Zeilen wurde ich sogleich sanfter gestimmt. Das kam ja von der Schwester aus London. Pauline wollte Lehrerin und Erzieherin werden. Seit Jahren arbeitete sie daran. Nun weilte sie schon lange in einem feinen englischen Institut als praktischer Lehrling und hatte sich so tief und herzlich bei den blaßhaarigen kleinen Misses eingenistet, daß sie nicht einmal auf Weihnachten oder in den Sommerferien heimkam. Viel schöner kam ihr Christabend und Sommerfrische mitten unter den lieben Zöpfchen vor, mit denen sie lesen, rechnen und so drollig runde Buchstaben in die Hefte schnörkeln mußte und mit denen sie daneben wie die Jüngste der Jungen hüpfte und Kurzweil trieb. Sie hatte fast nie Lust, ein Brieflein zu schreiben. Aber Karten mit langen, magern englischen Kindsköpfen bekam ich die Stube voll. Von Theodor vernahm ich, daß Regina erst einen Brief, und zwar einen zehnzeiligen, nichtigen, aber Dutzende solcher langweiliger, langhalsiger Mädchengesichter bekommen habe. Das war leicht zu fassen, und ob es mir auch nichts mehr half, freute ich mich doch darüber. Pauline spielte jetzt selber die Rolle eines Mütterchens und einer lieben Meisterin bei achtundsechzig Töchtern! Wie hätte sie da noch von Regina bemuttert und gemeistert werden mögen!

Auch der Brief, den ich von Pauline erhielt, zählte kaum zehn Zeilen. Er klang treuherzig, aber auch kolossal selbstsicher. Elfchen teilte kurz und wie selbstverständlich mit, daß sie das erste englische Lehrerinnenpatent erhalten habe und nun schon im Hause neben der allmächtigen Oberin ein eigenes, kleines Zepter schwinge. Das zieme sich ja auch. Aber ewig bleibe sie doch nicht auf der Insel dieser Beefsteak-Menschen. Wenn sie alles gelernt habe, was man diesen trefflichen Briten abgucken könne, dann wolle sie irgendwo in einem obstreichen Tal unseres kleinen Vaterlandes, an einem gemütlichen, kleinen Gondelsee ein eigenes Töchterhaus führen und mit der prächtigen englischen Freiheit – einer Freiheit groß und frech, aber auch kalt wie die Freiheit der Fische! – die liebe vielwinklige Gemütlichkeit der deutschen Stube verbinden. O, sie führe Großes im Schilde! Sie schreibe sogar an einem Buch über englisch-deutsche Erziehungsfreiheit, sie werde bald über den Kanal und alle andern irdischen Kanäle hinaus berühmt und ohne Zweifel den Professortitel von Oxford eher als ich meinen ordentlichen medizinischen Doktorhut erhalten . . .

Das war Scherz. Aber es erinnerte mich an meine Langsamkeit. Auch stimmte es mich doch ernst, daß alle diese nächsten Bekannten die Nomadenzelte ihrer Jugend abbrachen und sich in ein festes Haus und in einen soliden unverrückbaren Amtssessel verschanzten. Mein Elfchen doziert schon vom hohen Pult herab, Theodor siedelt sich bald mit seiner Gattin im alten Herrenhaus zu Ilgis an und wird ein stattlicher Ratsherr da oben in den Bergen. Auch Willi Leimers, Gottfried Diener, Jost Sulzer und andere Kameraden waren bereits besoldete Philister geworden und sagten um halb zehn Uhr im Stammlokal: »Ich muß heim – aufs Ohr! Morgen um sieben beginnt meine Arbeit!« Selbst unser Echino Gonzal Deflores ging durch ein glanzvolles Examen sogleich in eine sehr fleißige, von Schreibmaschinen, Dublikaten und Audienzen erfüllte Advokatur, die nur dann und wann von der Verteidigung einer waghalsigen und blutigen Sache wie von einem Blitz durchfunkelt wurde. »Ich habe mich ausgelümmelt,« sagte er einst vor der Aufführung der Maria Stuart, indem er seinen wunderbaren Pelz ablegte, zu mir, »und der böse Bube wird nun ein ganz anständiges und nützliches Glied des Staates. Ich rühre keine Karte und kein Mägdlein mehr an und besuche nur noch Tragödien!«

Das war nicht aufs Strichlein wahr, und seine heißen, rauchenden Lippen verrieten den alten Sünder; aber er spielte wirklich nicht mehr Hasard und ward auf keinem Tanzboden und in keinem anrüchigen Gäßlein mehr gesehen.

So fiel eine Säule um die andere an meinem poetischen Jugendtempel. In unserem Korps verschwanden die alten, trauten Gesichter aus dem Haufen neuer, frischblütiger Herrchen, die uns beinah' wie Gnadenbrötler und alte Pfründner ansahen, denen eigentlich nur noch ein halber Sitz zukomme. Auch unser mehrjähriges, unvergleichliches Präsidium, das wir seiner Beredsamkeit und Flinkfüßigkeit wegen Merkur tauften, schien mein Gefühl zu teilen und legte eines Abends seine Chargen nieder. Aber wie war ich entsetzt, als er auf die knabenfrische Antrittsrede des neuen Präsidiums mit einer fast großväterlichen Langsamkeit antwortete und sich zugleich von der Aktivitas verabschiedete! »Kommilitonen,« sagte er, »ich gönne den Jungen die lustigen Semester; aber gönnt auch uns Alten die Pantoffel unter dem Ofen, den bezottelten Hausrock und das ideale Mittagschläfchen auf dem Sofa! Gönnt uns die Nacht, wenn wir tagüber die Arbeitsmaschine müd getreten haben. Das Schlafen ist doch das beste! Und wir haben soviel aus der Studentenzeit nachzuholen, mehr als hundert wilde, unverantwortliche Nächte. Laßt uns die Dummheiten und Flegeleien, die ihr noch golden preist, für immer ausschlafen, damit wir jeden Morgen ein bißchen kühler und weiser erwachen! Laßt uns . . .«

Weiter hörte ich ihn nicht an. Ich lief zur Kneipe hinaus. Das reute mich später, als ich vernahm, dem Ex-P. C. seien so viele Bierjungen angehängt worden, daß er bis weit über Mitternacht daran genug zu trinken bekam; danach habe die hohe Corona erst noch die Lichter gelöscht und einen Totensalamander auf ihn gerieben. Aber er war wirklich vereinstot. Das überwand ich lange nicht. Also auch Merkur rupfte sich die göttlichen Schwingen von den Füßen, setzte und mästete sich auf der Philisterweide und ging im plumpen, fetten Haufen unter! Die letzte Säule war gefallen. Ich schämte mich für diese Philister und schämte mich doch auch, weil ich allein noch kein Philister war. Nicht weil ich elastischer, sondern vielmehr weil ich weit schwerfälliger als alle meine Genossen war, blieb ich doch noch vier emsige und bedächtige Semester im grünen Land der Burschen.

In dieser grämlichen Zeit des Übergangs, viel später als in allen Freundesbuden, erschien endlich eines schönen Tages auch auf meiner Schwelle jener lose, furchtbare Knabe mit dem Köcher und den herzdurchbohrenden Pfeilen. Plötzlich stand er da, flog herein, flirrte und schwirrte voll Gefährlichkeit um mich, und bald war meine Philosophenstube von den Kümmernissen und Entzückungen der ersten Liebe voll.

Bierzipfel und Cerevis und Doktorhut und Totenschädel und Regina und Elfchen und alle Freunde verdämmerten wie in einem tiefen, fernen Nebel. Und wenn ich mich heut recht auf jene Zeiten besinne, so scheinen mir auch diese Liebschaft mit Ursula Horat, die Hochzeit und die drei Sommerjahre der Ehe wie ein zerfließender, rosiger Nebel in der Landschaft meines Lebens, während die Geschichte mit Regina Lob dahinter wie ein hohes, unverrücktes Gebirge stehen bleibt.

*           *
*

Aber sieh da, schon hab' ich die Gelassenheit des Erzählers verloren und unbillig vorgegriffen! Wo hab' ich nur den Faden?

Indem ich danach taste, wie eine greise, kurzsichtige Spinnerin nach den zerrissenen Enden, erinnere ich mich, daß ich ja in der Eisenbahn sitze und alle diese lieben und bösen Dinge weit hinter meinem Rücken habe. Ich hatte die Vergangenheit geträumt. Etwas war doch davon übriggeblieben, mein herziges Mimeli! Da stand es noch immer aufrecht am Fenster und las die Natur von Gesicht zu Gesicht, wie nur der allwissende Gott da oben und die einfältigen Kinder hier unten das können. Was dazwischen kriecht, ist verdorben (ein ganz reiner und natürlicher Dichter vielleicht ausgenommen). Wir fuhren gewiß schon die dritte Stunde landauf. Ein magerer Schnee lag wie ein abgebrauchtes und zerlöchertes Armenhemd über der Erde. Die Bäume standen grau und leer da. An den mittäglichen Halden war der Schnee völlig zerronnen, und die nackte, farblose Wiese ward bloß. Aber die Hügel trugen noch einen makellosen Winter auf ihrer Schulter. Hohe, feine Nebel lasteten in der Luft und narrten die Sonne und die Menschen, indem sie sich ein wenig lüfteten, so daß man schon einen Tropfen Licht fühlte und »Guten Tag, Frau Sonne!« grüßen wollte. Dann verwoben sich die Wolken wieder rasch, und es dünkte uns finsterer als zuvor. Heute wird es früh nachten da unten. In Ilgis freilich, so hoch im Gebirg, haben sie jetzt sicher einen gewaltigen Sonnenschein.

Endlich hat Mimeli genug gesehen und gesonnen. Es verschlüpft sich in meinen Arm, schließt die Äuglein und nickt sogleich ein. Sagte ich es nicht: Wie ein Schwälblein! Ich aber spule am großen Werg der Vergangenheit weiter . . .

Genau an einem solchen Nachmittag, im gleichen schmutzigen Hornung, auf der gleichen Schiene, bin ich vor neun Jahren nach Ilgis hinauf zur Hochzeit des Weggisser gefahren. Das war reichlich drei Semester vor der jähen Visite Amors, also zu einer Zeit, wo ich noch ganz und gar der Freundschaft lebte und mich mit allen Fasern meines Wesens an unserer Burschenschaft festsog, einem Efeu ähnlich, der einen starken Turm mit tausend innigen Trieben umschlingt.

Zwischen der Verlobungs- und Trauungskarte lagen nur drei Monate. Das war eine Zeit, wo Regina niemand als Theodor und Theodor niemand als Regina und seine Bücher anschaute. Es ging ein erstaunlicher Klatsch über die Braut und ihre Eifersucht um. Er studiere in ihrem Nähzimmerchen. Sie schreibe ihm die Hefte ins Reine und frage ihn ab. Für ihre Freundinnen war sie in jenen Tagen nie zu haben. Die seltsame, hitzige Zärtlichkeit für meine Schwester schien sich jetzt zu aller übrigen Liebe in einer einzigen, großen Leidenschaft über Theodor zu entladen.

Baldur bestand die Prüfungen wider Erwarten fein. Es rollte wie Donner durch den Professorenring, wenn er eine Antwort gut wußte und mächtig ins Breite auslegte. Und wußte er keinen Bescheid, so warfen seine muntern, blauen Augen so ungeheure Blitze ins Gesicht des Fragers und sagten so freimütig: »Na, wie kannst du mich so peinlich verhören? Jus Aelianum? Was soll das? Nützt es dir, nützt es mir? Also denn! Sei so gut und frage mich über das Eherecht und über die Folgen der Mündigkeit und über die Rechtslage, die durch eine Hochzeit geschaffen wird – das betrifft mich – und treibe keine Sottisen mit mir, du Zwerglein, sonst . . . Schau' mich ordentlich an!« daß die Examenherren sich wirklich ihres vielschachteligen und spitzmausigen Firlefanzes schämten und, von dem Prüfling unwiderstehlich angezogen, in die große, saubere Allgemeinheit hinausruderten und mit einer ihnen sonst fremden und ungeheuerlichen Einfachheit fragten: »In welchem Alter kann ein ordentlicher Schweizer heiraten? – Gut! – Was ließen sich hier für soziale Ausnahmen im sittlichen und sozialen Sinne geltend machen? – Sehr richtig! – Vielleicht sagen Sie uns noch, welchen Bestimmungen die Mitgift der Frau unterliegt? – Zutreffend, durchaus zutreffend! – Meine Herren Kollegen, ich denke, wir können schließen . . .« Nun Händedruck, Gratulationen – »Ruhen Sie sich vorerst tüchtig aus!« – und die höflich herablassende Frage des Erziehungsdirektors: »Wo gedenken Sie nun, Herr Doktor, Ihre Rostra aufzustellen?« Und der neue, noch ungewohnte und darum so süße Ruf Herr Doktor rechts, Herr Doktor links, Herr Doktor von allen Seiten! Ein paar Tage besitzt er den Sonntagston. Später, ach später klingt er langweilig wie irgendein werktägliches Gebimmel . . .

Der junge Doktor sollte großartig in einer Kneipe von purem Schaumwein eingesegnet werden. Wir Bockianer liebten ihn alle ja noch genau wie früher. Einst wie Held Gottfried im Feld, jetzt wie Gottfried im Banne Armidens. In dieser Kneipe wollten wir alle Register am Orgelwerk unserer Freundschaft ziehen, ihn geradezu überwältigen. Er sollte sehen, daß neben einem Weibe auch der Kamerad stattlich bestehen kann, und er mochte immerhin seine Zärtlichkeiten dieser Frau, uns aber seine kecke Männlichkeit erhalten. Das Präsidium würde also eine seiner funkelnden Reden losbrennen, der Komiker Mock würde die Ballade vortragen: »Baldur auf Walhalla«, und man sähe, wie unser junger Doktor sein Diplom dem alten Wotan und der herben Ertha vorzeigte. Dann würde gesungen, die Pfropfen müßten knallen, und endlich käme meine rührend lose Erfindung: der Fuchsmajor erhöbe sich nämlich mit wallendem Federbusch und schilderte den Lebenslauf unseres Weggisser von den ersten zarten Fuchsspuren bis zum regierenden Burschen, und da kämen die Füchse, einer um den andern, vor den Gefeierten und legten ihm auf silbernen Platten, genau im Takt der prächtigen Lebensskizze, alle seligen Erinnerungen in natura vor, so seine erste Studentenmütze, die in meinem Kasten lag, mein berühmtes Tintengeschirr, aus dem wir zusammen die ersten falschen Imperfekta und Perfekta gekleckst, aber auch den ersten Liebesbrief zusammengeschustert hatten, dann die erste quittierte Rechnung wegen zertrümmerter Straßenlaternen und erschossener Katzen, jetzt das verschwitzte Stenogramm seiner ersten verunglückten Pauke – denn er konnte wundervoll plaudern, aber keine Rede halten – jetzt das Rasiermesser und die Bartsalbe, die er erstmals gebraucht, weiter zwei Hosenknöpfe, die er im siegreichen Hosenlupf mit drei Polizisten verloren hatte und die wir wie die Reliquien eines Heroen in der Schatzkammer des Vereinshauses aufbewahrten. Zuletzt – natürlich von Gonzal Deflores aufgesetzt – käme ein ellenlanges Verzeichnis der breiten und schmalen Weiblichkeiten, denen er mit mehr oder minder Getöse den Hof gemacht. Mitten drin in der Papierschlange läge ein feines, uraltes Körblein, von dem Echino versichert, es sei von den Sklavinnen ihrer Plantage auf Cuba geflochten worden. Dieses boshafte Ding stellte den einzigen Fall dar, wo Baldur von einem Mädchen großartig abgefertigt worden war, man denke, von Echinos Schwester Christina, die so stolz und schön wie der Bruder, aber so ernst wie er lose war . . .

So müßten alle diese drolligen und doch ergreifenden Kleinigkeiten vor ihn gestellt werden und er sollte sehen, was das für ein tüchtiges Leben war und wie grob er sündigte, wenn er ihm für immer den Rücken kehrte. Ja, er müßte im Angesicht der vielen soliden Zeugen geloben, die Bockianer jeden Oktober, wenn der Sauser aus den Fässern singt, in sein Bergdorf zu einem gastlichen Nachmittag zu laden. Und erst, wenn der Schwur in die Hand des P. C. geleistet, würde unser kleines Fuchsenorchester aufrücken, wo Bursche Gonzal mit seiner süßesten Primgeige regiert und jedem, der eine Note fehlt, mit seinem Herrenschuh einen Tritt versetzt. Aber das merken nur die armen Füchse, und wir andern bekämen Theodors Lieblingsstück zu hören: den Krönungsmarsch aus dem Propheten.

Und das Schönste: den ganzen Abend keine Silbe von der Zigeunerin!

Als ich mit zwei Hornfüchsen im vollen Wichs Baldur abholen wollte, hieß es, wir müßten ihn bei Lobs suchen. Gut, also dorthin, wenn schon klopfenden Herzens! Da saß er im Salon, seine Riesentatzen mit Reginens langen Händen verknüpft, und lachte uns wie aus einer Verzauberung an. Godefredo bei Armida!

Wir brachten unsere Einladung vor. Sie rührte ihn. Aber Regina warf uns ungute Blicke zu.

»Das ist schade,« sagte sie mit ihrer tiefen Altstimme, »ich wollte diesen Abend am liebsten dich hier still und allein haben, Thedi« – ich sah wohl, wie sie dabei sein Handgelenk fester preßte – »diese Stürmer haben dich doch lange genug gehabt! Soll denn eine Braut weit hinter dem Flaus kommen?«

»Bah, bah!« scherzte Theodor und küßte ihre Hand.

»Sie irren sich wohl, Fräulein Lob,«sagte ich höflich und zum erstenmal das kühle Sie gebrauchend, »auch wir Bockianer glauben, die Braut gehe allem voran. Es handelt sich hier doch auch nicht um das. Wir folgen nur der alten, ehrenwerten Korpssitte, daß ein neuer Doktor an seinem großen Tag in unserem Kreis gefeiert wird. Nachher« – ich verneigte mich mit leisem Spott – »nachher gehört er Ihnen ohne Pause!«

»Wie gütig!« spann sie im gleichen spöttischen Ton fort, wurde aber dabei unter dem feinen, schwärzlichen Flaum ihrer Wangen womöglich noch härter und dunkler in ihrer Bronze. »Aber könnten wir, sehr verehrte Herren, denn nicht den Abend gemeinsam genießen? Ja, ich lade Sie gleich ein, die ganze Corona hierherzubringen. Sie dürfen hier poltern und die Schläger schmeißen wie im Stamm, und ich will auch alle unsere gemeinsamen Damen herbestellen . . . Wie? Wollen Sie?«

Ich schnitt unwillkürlich ein höchst verlegenes Gesicht. Das war so nicht mehr das gleiche Fest. Heut abend konnten wir keine Jungfern und dieses Bronzefräulein schon gar nicht brauchen. Heut mußten wir unter uns sein, nur Burschenhosen, Burschengesichter, Burschenherzen!

»Ich verzichte auf meinen Spinnabend mit dir!« lachte Regina wie aus einer Erzglocke heraus und drückte Baldur noch inniger an sich. »Aber nun sollen auch deine Freunde eine kleine Gnade gewähren!«

»Fräulein Lob,« sagte ich endlich bedrückt, »Ihre Einladung ist großartig und macht Ihrem bockianischen Herzen alle Ehre . . . Aber es bleibt doch immer ein großer Unterschied zwischen einer Stammkneipe und einem – Gesellschaftsabend – oder Familienfest oder wie ich es nenne. Dürfen wir morgen, übermorgen kommen und Ihre Gastlichkeit genießen? Der heutige Abend ist vergeben, alles ist vorbereitet, Baldur muß kommen!«

»Muß?« läutete die Altglocke heftig. »Du mußt wirklich? Ist das die sogenannte Burschenfreiheit?« Sie lehnte sich fest an ihren Geliebten.

Baldur fühlte sich zwischen uns Streitern wohl wie ein schöner Kater an der Sonne, den eine Hand rechts und eine links streichelt, weil ihn alle so lieb haben. Macht das unter euch aus, und wer Meister wird, dem schenk' ich den Abend, dachte er bei sich.

»Gewiß, Fräulein, das ist Burschenfreiheit,« versetzte ich spitziger, als mir selber lieb war, »von der schönsten der schönen Zauberinnen sich jeden Augenblick losmachen und sagen können: Frei ist der Bursch! Ich geh' ins Stamm . . .«

»Bravo, bravo!« lachte Regina und klatschte in die langen, braunen Hände. »Sie sind immer noch jener Dichter, der Mediziner werden will . . .«

»Ich verdanke das Kompliment pflichtschuldig, schöne Regina Lob; aber hierher bin ich weder als Poet, noch als Mediziner, sondern wirklich nur als Busenfreund meines Baldur gekommen!«

»Busenfreund!« Ich sah, wie sie aufzuckte und ihre Aufregung nicht anders verbergen konnte, als indem sie der Dienerin die Platte mit Wein und Backwerk abnahm und uns zu servieren begann . . . Freund! Das war das verhaßte Wort! Keine Freunde sollte es mehr für ihren Baldur geben, nur das Weib, das untrennbare Eheweib! Freund! Was lag doch Bitteres und Eifersüchtiges für eine Braut in diesem Wort! Eine Nacht voll stürmischer Kameradschaft – Baldur in unsern Armen – trinkend aus unsern Gläsern – schwärmend von den alten Seligkeiten, wo sie noch nichts in seinem Dasein bedeutete – und, weiß Gott, in der Begeisterung des Abschieds auf die Lippen geküßt, hier von einem Milchgesicht, dort von einem bärtigen Leibburschen, auf die Lippen, die doch nur ihr gehörten!

Ihre Bronze wurde noch finsterer, ihre Augen schräger, so recht zigeunerisch; sie zitterte beim Einschenken des Weines und verschüttete davon in der Angst, sie könnte sich nicht schnell genug wieder neben Theodor setzen. Ich sah, wie sie auf die Stühle acht gab und es so einrichtete, daß der schmächtige, mädchenhafte Fuchs Zio zwischen mich und Theodor zu sitzen kam; aber damit auch dieser bildhübsche Junge nicht zu nahe rücke, hatte sie das Rauchtischlein eingestellt, während sie die andere Seite hart neben Baldur belegte. Und ich sah, wie sie darauf hielt, daß unser Freund zuerst und zuletzt mit ihr anstoße. Und noch viele solche Kleinigkeiten erwischte ich. Keinem andern fielen sie auf als mir, weil auch ich in den kindischen Zeiten der Freundschaft und der Bruderliebe an so unsinniger Eifersucht gelitten hatte. Eigentlich waren Regina und ich einander immer sehr ähnlich gewesen. Denn ich fühlte wohl, wollte ich aufrichtig sein, daß ich gerade so wenig als die Jungfer neben einer ernsten Liebe noch mitschmarotzende Freunde duldete. Aber zurzeit war ja mein Herz ganz frei. Und so gab ich mir keine Rechenschaft darüber, sondern hielt Regina für eine häßliche, engherzige Tyrannin.


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