Heinrich Federer
Regina Lob
Heinrich Federer

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Es war tiefgelber Winterabend hier oben in den Bergen, als Mimeli mit mir vom Bahnhäuschen zum Weggisserhof hinaufging. Wie staunte mein Kind über diese nahen, großen, zuckerweißen Berge, über diesen nebellosen Himmel und über eine Sonne, die so goldig groß, aber kalt im Westen niederkugelte! Dann die kleinen, vielfenstrigen, reinen Häuser mit Brettlein vor den Scheiben und Vogelfutter darauf und mit einem strammen Birkenbesen vor jeder Haustüre! Und der saubere, eisblaue, scharfe Wind, der einem so hart um die Wangen saust und doch so köstlich warm macht! Und wie eigen die Leute reden und, wenn der Satz zu Ende geht, fast singen! So einfache Kleider, ohne Überzieher, mit Zipfelmützen, so braune und große Gesichter, gewiß vom Fels und vielen Schnee und Wind so hart gemacht! Na, mein kleiner Balg staunte genau so großäugig und offenen Mundes in diese neue, saubere, eigenschöne Welt wie einst sein Vater als Schulbub gestaunt hatte, als ihm Theodor zum erstenmal soviel Schnee und so nahe, klare Berge und ein so steiniges Volk gezeigt hatte!

Die Schulkinder kamen gerade über die Straße. Sie führten alle Davoserschlitten mit sich und fuhren im hügeligen Dorf, wo es sich nur eine Minute lang bot, die gekrümmten, engen Gäßchen nieder. Das klingelte und schellte und rief Obacht und lachte und schimpfte und überwarf sich mit Schnee, wie so ein richtiges, ungezähmtes Buben- und Meitlivolk es liebgewohnt ist. Es flogen heftige Schneeballen in weiten, glitzerigen Bogen. Aber nicht lange. Der Schnee fing schon an hart zu gefrieren wie abends immer bei so hellem Himmel.

Unter den Zweit- oder Drittkläßlern ging ein Knabe einher, schlanker und höher als die andern, mit braunem Wirbelhaar und dunkelroten, stolz geblähten Lippen. Er trug einen runden Kopf auf dem biegsamen Hals und schimmerte mit zwei goldbraunen Augen links und rechts befehlshaberisch herum. Nun stand er auf seinem Schlitten und ließ sich von zwei Gespannen wegaufziehen, ohne in seiner kerzengeraden Haltung im mindesten zu schwanken. Mit einer jungen, dünnen Stimme herrschte er seine Knechtlein an: »Hurtig! Hui doch! Hurtiger, ich falle doch nicht!« Jetzt schwirrten sie an uns vorbei. Mein weißwamsiges Kind staunte den stattlichen Jungen gewaltig an. Er aber sah hochmütig auf Mimeli herab und freute sich doch, daß wir stillestanden und ihm unsere Andacht schenkten. Laut schrie er: »Wollt ihr wohl besser ziehen! Da habt ihr's!« Damit hieb er mit einer Rute den beiden trabenden Menschenpferdlein scharf übers Bein. Dann blickte er großartig nach uns zurück. »Schaut ihr, ich darf! Die müssen folgen!« hieß das. Nun bogen sie ins steile Sträßchen zum Weggisserhaus hinauf. Da ward der Trab mühsam. Aber der schöne reiche Kerl peitschte und trieb die zwei Untertanen stramm in Lauf. Und sie gehorchten schnaufend und schwitzend und gern. In allen Bergdörfern sind die hübschen und reichen und starken Kameraden Tyrannen der andern.

Ein sonderbares, unheimliches Gefühl beschlich mich. War es auch nur ein harmloses Büblein, sein Tun war mir doch zuwider. Ich konnte jetzt kein herrisches Gebaren ertragen. Denn ich rechnete da oben auf Entgegenkommen und Milde.

»Das ist ein feiner Knab,« rühmte Mimeli; »aber er hat mir die Zunge gestreckt!«

»Aha, der junge Weggisser!« fiel es mir sofort ein. Darum, darum! Dieses Haar, dieser üppige Mund, dieser runde Krauskopf! Ja, ja, genau wie Theodor als Bub. Und so wird er's auch in seiner Kinderzeit getrieben haben. Damals schon haben sie ihn verwöhnt und ihm die Hände unter die Füße gelegt. Aber das Zungenstrecken hat der kleine Bengel nicht vom Vater!

Noch viel schwieriger, als den zwei Rößlein vorhin, ward mir der Aufstieg; denn mich dünkte, ich ziehe die ganze schwere Feindschaft der Vergangenheit mit mir hinauf, um sie dort oben hoffentlich für immer abzuladen. Aber ich war nun einmal so weit und wollte die Sache zu Ende führen. Erst jetzt erzählte ich dem Töchterlein, daß ich da oben im Haus einen kranken Freund besuche. Er habe ein Knäblein und ein ganz kleines Dirnchen. Mit denen solle es sich nur gleich befreunden. Es werde viel Spaß daran haben. »Aber du gehst ja gar nicht gern hin!« wandte Mimeli ein und trippelte ungeschickt im glatten Schnee haldan. »Ich nicht gern hingehen? Warum etwa nicht? Was du nicht alles erfindest!« sagte ich verblüfft und suchte die hellen großen Augen meines Kindes ohne Erröten auszuhalten. »Du hast ja immer die Stirn' gerunzelt und noch nie ›O du lieber Augustin‹ gepfiffen!« neckte das kleine Müsterchen von Bosheit. »Nein, du gehst nicht gern,« wiederholte es bestimmt; »aber ich tu' da oben nicht, als wüßt' ich's!« machte es mit unvergleichlich unschuldiger Schelmerei.

Wir gingen sehr langsam. Niemand kannte mich. Denn ich hatte seit fünf Jahren einen greulich roten Bart, der nur mir gefiel, von Ohr zu Ohr wuchern lassen und zog den Kragen hoch und die Pelzmütze tief ins Gesicht. Als wir an die Haustüre gelangten, wußte ich, daß wir es sehr geschickt treffen. Man wartet hier in allen Stuben mit dem Vesperbrot, bis die Kinder aus der Schule heimkommen. Nun konnte ich sie alle beisammen um den Tisch herum packen. Ganz gut hörte ich durch die kleinen Fenster eine hohe Knabenstimme lärmen und den ehernen Schall der Frauenstimme dazwischenklingen. Ihrer Stimme! Etwas tiefer noch im Alt als früher, etwas nüchterner, aber doch noch immer das gleiche volle Cello. Von Theodor vernahm ich nichts. Immer nur den Buben und die Mutter. Das allein sagte mir genug von seinem Leiden.

Jetzt gilt's! Fest packte ich Mimeli am Händlein, daß es verwundert zu mir aufblickte, und ging, ohne zu läuten, ins Haus hinein. Im steinernen Gange lagen Schlitten, Knabenskier, Schneeschaufeln über einen Haufen, ganz wie zu meinen Zeiten. Nebenan in der Brunnenstube klingelte das Brünnlein. Rasch klommen wir die zwei Treppen empor, drängten uns durch die obere, nur angelehnte Korridortüre in den Stubenflur und sahen in eine offene, rauchige Küche, wo jemand im Herdfeuer mit zündelrotem Gesicht herumschürte. Wohl die Magd. Jetzt klopfte ich an die Stubentüre. Ich tat es in meiner Erregung furchtbar laut. Von innen scholl Tassengeklirr, Kinderlärm, die Frauenstimme.

»Pst! Es hat geklopft!« sagte eine heisere Stimme, die mich beben machte.

Da ward es ganz still.

Ich klopfte nochmals, zaghafter, demütiger.

»Herein!« rief die Frau und schritt zugleich mächtig zur Türe. Aber ich öffnete fieberig rasch und sperrte die Türe ganz auf, damit mich alle im ersten Blick sehen und das Weib mich nicht etwa zurückdrängen könne. Neben mir stiefelte sogleich Mimeli auf den Söller und forschte mit städtischer Keckheit nach den versprochenen, so lustigen und spaßigen Gespanen.

Die bronzebraune Frau im leichten blauen Hausjäcklein wich betreten zwei, drei Schritte zurück. Am Tisch reckte der kleine Schlittenkönig den Hals und baumelte gewaltig mit den Beinen. Daneben hielt ein etwa vierjähriges Mädchen eine große Tasse an beiden Ohren und schlürfte und schlappte Milch, ohne darum ein Auge von uns abzuwenden. Der Tisch war an das Sofa gerückt, wo Theodor neben seiner goldrandigen Tasse halb saß, halb lag. Es war dämmerig. Ich sah alles und doch nichts genau. Und die Spannung, in der ich steckte, spielte mir im ersten Augenblick die vier Gesichter wild durcheinander.

Aber ich mußte bei diesen steinernen Menschen frisch auftreten, das vergaß ich nicht. Mit einem großen, flinken Schritt eroberte ich die Stube, schloß die Tür hinter mir und ließ die Hand Mimelis fahren, als müßte ich sie jetzt gegen alle diese Menschen da brauchen. Die erste Sekunde war unschätzbar. Ich wollte sie nicht dem Feind überlassen. Ehe Theodor oder sein Weib auch nur einen Ton hervorbrachten, hatte ich die Weggisserin stramm an der Rechten erfaßt und ließ sie nicht los, wie sehr sie mich mit Staunen, dann mit Schrecken, dann mit überwallender Wut anblitzte.

»Liebe Frau Weggisser, ich fliege – wie ein Sturmvogel ins Haus! Ich hätte es lieber anständiger gemacht. Aber ich wäre dann nicht so weit gekommen. Jetzt bin ich da, und wenn Sie mich hinausjagen wollen, so – so jagen Sie uns eben wieder in den Schnee hinaus! Aber Ihr großer stolzer Bub da hat uns den Weg gezeigt. Mit dem müssen Sie zuerst schimpfen!«

Regina hatte eine teilnahmlose, tödlich kalte Miene angenommen. Ich ließ ihre kühle, schlaffe Hand los. Wieder stieg eine unsägliche Freudlosigkeit an diesem Weibe in mir auf. Nur beim Melden ihres Jungen zuckte ein Schimmerchen über ihr dunkles Gesicht . . .

Jetzt trat ich um Reginen herum rasch ans Sofa und beugte mich tief zu Theodor nieder. Ich suchte seine große Hand, die unbeweglich auf der Wolldecke ruhte. Mit meinen beiden heißen Händen preßte ich sie innig an meine Brust und sagte, im Innersten von seinem zertrümmerten Wesen erschüttert: »Verzeih mir . . . Ich geh' sogleich wieder, ich . . .«

»Das ist uns sehr recht! Sehr!« sagte die Frau scharf und blickte unruhig zwischen Theodor und mich hinein.

»Aber ich will vorher mein Unrecht gutmachen und meinem lieben Theodor eine gute Gesundheit wünschen und . . .«

»O, wir wollen den alten Brei nicht mehr aufrühren,« schnitt mir Regina den Satz hart ab. »Darüber sind wir lange hinaus!«

»Aber ich nicht! Ich habe damals in einer wilden, gehässigen Laune gelogen, und dieses Lügen läuft mir nach und läßt mir keine Ruhe und brennt mich. Und ich muß, ob's euch gefällt oder nicht, dafür abbitten. Ich habe,« fuhr ich zu Theodor weicher fort, »deine Frau nicht recht gekannt; nur aus kleinen, kindischen Sächelchen habe ich sie beurteilt. Das war falsch. Ich wußte gar nicht, was sie im Ernsten und Wichtigen vorstellt. Und nun hör' ich, was sie da oben für eine Mutter ist, welche Prachtskinder sie aufzieht, welch ein stattliches Haus sie führt und vor allem, welch ein Engel sie in deiner langen Krankheit ist. Und da . . .«

»Wir dürfen Thedi nicht aufregen,« wehrte die Frau ungeschmeichelt ab und schob mich mit ihrem Ellbogen stark vom Sofa. »Gelt, du bist müd! Ich tue meine Pflicht, das ist alles! Das Rühmen hat gar keinen Wert.«

Theodor kämpfte indessen mit einer großen Rührung. Seine Augen waren feucht; ich sah es gut. »Nur nicht streiten!« sagte er kurz und gebieterisch, ich wußte nicht, zu mir oder zu ihr.

»Wir haben hier immer einen schönen Frieden,« wandte die Frau leiser sich zu mir. »Wenn du gekommen bist, um dein . . . dein . . .«

»Sag' nur, deine Flegelei!« bat ich.

»Es ist mehr gewesen! Wenn du darum gekommen bist, so kannst du nun ruhig gehen. Wir haben das vergessen. Laß uns also im Frieden! Wir gönnen ihn dir auch und alles Gute dazu – wenn du nur gehst!« Unruhig schwirrten ihre Zigeunerblicke zwischen mir und der Stubentür hin und her.

»Ich habe gedacht,« verteidigte ich mich, »wenn so viele Jahre vorbeigegangen sind und euch ein liebes Kind gestorben ist, wenn man nun älter und reifer geworden ist und das Leben enger und die wahren Freunde seltener geworden und wenn einem so vom rauhen Leben der unreine Schaum der Jugend scharf genug abgestriegelt worden ist – ich habe gedacht, man sollte dann wieder in der früheren Güte zusammentreten können, sich alles Üble verzeihen und einander wieder kameradschaftlich die Hand bieten . . . Das hab' ich gemeint.«

Die große dunkle Frau schaute mich böse an, aber schwieg. Theodor rutschte unruhig im Kopfkissen hin und her. Er erkannte meine alte Stimme, meine alte Art zu reden und sicher auch meine alte Treuherzigkeit. Die Krankheit mit ihren stillen, einsamen Stunden hatte ihn gewiß innerlicher und lauterer gemacht, hatte wohl manchmal die alten Zeiten wie ein schönes, gesundes Vorleben in ihm wachgerufen, und jetzt, da er mein ehrliches Kommen erkannte, wollte er gut mit mir sein. Was nützt das Grollen, gar auf dem Siechbett? Aber er wußte, welch ein enges, unleidliches Weib er an seiner Seite habe. Diese Schwierigkeit und die aufsteigende Rührung und der arge Kampf zwischen Weib und Freund so nah an seinem Lager, das regte ihn auf: er hüstelte und schwitzte an der Stirne und blähte luftsuchend die Nasenflügel.

»Ich gehe, sobald ich gehen muß,« fing ich ruhiger wieder an; »aber zu allen Zeiten ist hier oben in euern Bergen und vor allem in diesem guten Haus eine große Gastlichkeit gegen jedermann, auch gegen den letzten Bettler geübt worden. Doch mir gebt ihr keinen Stuhl. Ist es denn nicht mehr so wie damals?« Ich wies auf die beiden Bildnisse der Großeltern, die über Theodors Lager an der Wand hingen und Vater und Mutter in steifgezogener Würde, aber mit einem heimlichen Blick von Wohlwollen wiedergaben. Sie hatten mich in den Bubenferien wie ein eigenes Kind gepflegt und immer darauf gehalten, daß Freund oder Feind, solang er in der Stube weile, als Gast behandelt würde.

»Gib Walter einen Sessel!« gebot Theodor mit pfeifendem Atem.

Ich kam der Frau zuvor, ergriff den nächsten Stuhl und rückte damit hart an die Seite des Kranken. Bitterböse belauerte Regina jede meiner Bewegungen. Ach Gott, dachte ich, sie ist ja noch immer die gleiche eifersüchtige, schlimme Katze! Niemand von uns dreien fand ein Wort.

»Sieh da, die Kinder!« unterbrach Theodor die Stille auf einmal.

Regina und ich blickten zum Fenster, wo Arnold und Klärli meinem Kind die Knöpfe des Schneewamses zu öffnen suchten und ab und zu mit wunderlichen Näschen am Parfüm des Pelzes rochen. Mimeli aber sah unverwandt auf uns Große. Es merkte wohl, daß wir recht uneins waren.

»Halt doch mal still, du dummer Gof!« schalt Arnold lachend und die Lippen übermütig blähend.

»Du hast eine schöne Jacke und schöne Knöpfe dran, ja, ja,« machte sein Schwesterchen und tastete an Mimeli herum wie an einem Schmuckstück. Reginen war das alles zur Qual. Ihre Augen brannten, und der dünne Schnitt ihres Mundes, schon mit vielen feinen Fältchen gekräuselt, bewegte sich, als rede sie immer etwas Leises, Bitteres, Gepeinigtes.

Mimeli bekam vor dieser Frau eine große Angst in die Augen. Erst halb aufgeknöpft, riß es sich los und lief auf mich zu. »Vater, Vater,« fragte es tapfer, »sind sie bös mit dir?«

»Dummheit,« machte der Bub geringschätzig, »die Mutter ist halt so! Das ist eben nur die Mutter!« Und er riß Mimeli von mir weg, und Klärchen tätschelte jetzt seine Wangen und schmeichelte: »Liebes du, Liebes du! Wie heißest du?«

»Mimeli!«

»Und ich Klärli!«

»Und ich bin euer König und heiße Arnold. Aber ich habe noch einen Namen, Karl. Ich bin Karl der Große!« Er stellte sich spaßig hoch auf die Zehen, der kühne Kauz, und spritzte einen wahren Sternenglanz aus seinen rotbraunen Samtaugen.

Frau Weggisser ging vor Unleidlichkeit hinaus. Da schaute mich Theodor endlich aus seinem zerfallenen, knochigen Gesicht so recht mit der alten Liebe an. Er versuchte zu lächeln und flüsterte: »Sind das Kinder! Da geht's freilich leichter!«

Aber plötzlich tat er einen Ruck und rief laut: »Grüß' dich Gott, Walter!« Er drückte mich mit seinen zitternden Händen zu sich nieder. Mich übernahm die Rührung, daß ich kein Wort zu entgegnen vermochte.

»Gelt, das ist arg über mich gekommen, daß ich so daliegen muß!«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab' es mir so gedacht . . . Es könnte ja noch viel übler stehen . . .«

»Das sag' ich mir auch,« gab er hoffnungsreich zu, und seine immer noch schönen, blauen, aber rotumränderten Augen strahlten sofort frischer. Soviel vermochte ein einziges Tröpflein Öl an diesem Menschendocht!

Regina trat wieder ein, schon an der Türe auf uns hinüberspähend. Sie hatte keine Ruhe. Es litt sie nicht draußen; doch konnte sie auch drinnen nicht zusehen. Sie war noch die alte grausame Eifersucht. Sie konnte vergessen und am Ende auch verzeihen, was vorüber war. Aber daß ihr Gemahl mich noch immer liebte, wie es sich nun so klar erwies, das war eine neue, unverzeihliche Kränkung. Ihre Augen stachen mich wie Nadeln. Sie machte Licht in der Staube und trat rasch wieder zu uns, sich leise räuspernd, aber fest entschlossen, jetzt den Kampf, koste es, was es wolle, gegen mich wieder aufzunehmen.

»Thedi,« sprach sie laut und wunderbar deutlich, »sieh, wir wollen mit Walter wieder gut Freund sein. Damit kann er zufrieden nach Hause gehen. Das ist genug für den ersten Besuch. Die Geschichte regt uns doch alle auf, und er ist ja ein Doktor und weiß besser als wir, ob das in einer Krankenstube gut tut. Komm du, Walter, nur wieder im Frühling, wenn wir mit Theodor vors Haus aufs Bänklein sitzen oder wieder ein wenig spazieren können! Wir danken dir für deine Freundlichkeit. Das Alte ist vergeben und vergessen, und . . .«

Und . . . nun hätte sie am liebsten die Türe aufgetan und mich hinauskomplimentiert. Aber so leicht sollte ihr das Bugsierspiel denn doch nicht werden.

»Ich danke, ich danke tausendmal,« schnitt ich ihr das gesalbte Sätzlein ab. »So gehe ich auch wahrhaft gern und leicht heim. Und ich freu' mich schon jetzt auf den Frühling.« Ich wußte wohl, daß dieser Frühling in keinem Kalender stehen würde. »Aber heute kann ich nicht mehr heim. Ich habe das Logis in der Krone bestellt und gehe bald, keine Angst! Und morgen will ich nur schnell vor dem Wegfahren Ade sagen. Aber jetzt laß uns noch ein wenig plaudern, Regina . . . Sitz' auch zu uns!«

Sie setzte sich, und Theodor nahm beschwichtigend ihren Arm, indem er sagte: »Walter meint, es stehe gar nicht so schlimm.«

Das Weib prüfte sogleich mein Gesicht mit der Schärfe eines Raubvogels. Sie war viel zu klug, um sich täuschen zu lassen. Ihrem Manne, das wußte sie grausam klar, war nicht mehr zu helfen. Ich log ihm da jedenfalls etwas vor, um ihn zu gewinnen. Aber ich verzog keine Miene und sagte: »In der Stadt mit ihrer schlechten Luft sind solche Fälle im Winter so häufig wie die Spatzen vor euren Fenstern; aber im Frühling bessert es dann vielen unerwartet, mit einem ersten warmen Lüftchen oder einem ersten Veilchen oder einer ersten milden Mainacht bei offenen Fenstern, was weiß ich. Wir Ärzte staunen oft selber darüber. Da ist noch viel Geheimnis. Aber nun seid ihr ja gar noch an einem Kurort. Denn eine bessere Luft als die Ilgisser haben sie auch auf der Rigi und in Davos nicht. Da kann es ja fast nicht anders als recht gut werden . . .«

Ich fügte diesen halben Wahrheiten, halben Lügnereien aus meiner Praxis eine Reihe von verzweifelten Fällen bei, wo man mit dem kleinen Finger schon an die graue Sense rührte, aber zuletzt doch mit beiden Juhebeinen wieder ins gesunde Leben zurückstrampelte. Dabei ließ ich die Patienten die höchsten Fieber leiden und die rasendsten Pulse schlagen, schwitzen bis zur Ohnmacht und kaum noch einen haardünnen Atem spinnen. Aber, sagte ich, es bleibt wahr, was schon die Alten rühmten: Von allem das Gewaltigste ist eben doch der Mensch! Er leidet mehr als die Erde und die Bäume und alle Tiere zusammen und überwindet doch alles. Und so zeigte ich denn auch jene jämmerlichen Patienten nach so und so vielen gescheiten Rezepten und Arzneien und Kuren auf einmal wieder groß und stark und in Genesung lachend.

Bei dieser tapferen Erfindung erstrahlten die runden, großen Augen Theodors hoch auf wie zwei Kronleuchter. Aber auch die Blicke Reginens erglommen etwas heller. Noch verstohlen, noch klein, noch widerwillig! Aber Geduld, ich lasse das Feuerchen nicht mehr ausgehen!

Theodor wurde jetzt gesprächig und erzählte mir seine Krankheit ausführlich. Er war sehr unzufrieden mit dem alten Doktor Bersolt und schimpfte wie alle unheilbaren Kranken auf den Arzt, statt auf das Übel. Das Schlimmste seien die häufigen Blödigkeiten. Dann werde ihm immer, als sinke die Herzseite wie eine mürbe Mauer ein. Dann rinne keine Luft in die Lunge und das Leben wolle stillestehen. Das ist entsetzlich. Wie Nacht! Oder wie in einem verschütteten, licht- und luftlosen Tunnel! »Kein Vorwärts, kein Rückwärts, am Ersticken und doch nicht ersticken, schlimmer als sterben . . . O Gott, o . . .«

»Ängstige dich nicht unnütz, Thedi,« bat Regina und wischte ihm die feuchte Stirn ab.

»Nein, da versagt Doktor Bersolt völlig,« widerredete Theodor ungeduldig. »Ruhe, Ruhe und Kognak mit Ei, das ist seine Losung. Gibt es da nichts Besseres, Walter?«

»Freilich, freilich,« tröstete ich. »Von Jahr zu Jahr erfindet man für solche Herzschwächen neue prächtige Sachen. Da gibt es Pillen, Einspritzungen, Sprayapparate, die unfehlbar die ärgste Not sogleich lindern . . .«

»Was, was?« schrie Theodor jäh und zerrte mich am Ärmel.

»Glaub' mir, es ist so!« sagte ich mit eiserner Festigkeit. »In die Dörfer hinauf kommt dergleichen natürlich erst langsam, gar, wenn da ein uralter Arzt regiert, der noch selber Kräuter preßt und Salben siedet. Und erst recht, wenn das Volk, wie ihr Ilgisser, an nichts als an diese Kräuter und Salben glaubt!«

»So ein neues Mittelchen, o ja, das wäre eine große Gnade!« bekannte nun auch Regina und schenkte mir zum erstenmal einen nicht ganz unlieben Blick. »Verschreib uns so was! Oder könntest du nicht mit Bersolt selber darüber reden? Das wäre noch besser!«

»Warum denn nicht? Noch heute in der Krone oder doch morgen früh. Der Alte kennt mich ja so gut wie euch. Übrigens seh' ich da ein Spritzlein, wohl für Terpentin? Na, das ist oft auch eine Erleichterung!«

»Es hilft wenig,« seufzte Theodor; »aber Regina tut eben, was sie kann. Sie ist ein Engel.« Er tastete nach ihrer Hand und versuchte sie zu küssen. Aber Regina ließ es nicht zu. Sie mochte mir nicht einmal den Anblick ihrer ehelichen Zärtlichkeiten gönnen. Ich gehörte da nicht hinein, ich Fremdling!

»Eine gute Frau leistet am Krankenbette mehr als sieben Äskulape, pflegte Doktor Billroth zu sagen. Ich hab' das auch oft genug bei meinen Patienten erlebt.«

»Hörst du da, hörst du nicht?« neckte der Kranke Reginen, die sich abwandte. Sie duldete von mir immer noch kein Lob. Dagegen brachte sie jetzt die Medizin Bersolts. Ich sollte sie einmal prüfen. Es war eine große altväterische Flasche. Ich nahm sogleich einen Löffel vom Kaffeetisch, füllte ihn halb und trank die dicke braune Brühe in einem Zug und ohne die geringste Grimasse aus. Es war eine Mischung von Kreosot mit Lebertran, das gewöhnliche Mittel zur Milderung des Hustens und zum Lösen des Schleims. Es mochte auch ein Sprenkelchen Morphium beigemischt sein zum Einschläfern.

»Es ist eine ganz brave Arznei,« sagte ich, gemächlich den Schluck nachkostend. »Aber ich will Doktor Bersolt doch in aller Ehrerbietigkeit ein paar Mixturen aufdringen, die wir jetzt in der Stadt mit großem Erfolg in solchen Fällen anwenden. Ich red' ihm das leicht auf.«

Mein Experiment mit der Medizin hatte Reginen ungeheuer imponiert; das merkte ich ihrem unverhohlenen Staunen an. Nun aber nickte sie drei- und viermal zu meinem Entschluß, mit dem Hausarzt zu sprechen. Es spielte ein kleiner Hauch von Zufriedenheit und schier gar von Dank über ihre harte Bronze. Das machte mir Mut.

Ich entnahm meiner Taschenapotheke ein Fläschlein, worin aus allerhand giftigen und belebenden Elementen, dunkelgrün wie ein großes Geheimnis, eine ölhafte, auf die Respiration fast augenblicklich wirkende Flüssigkeit lag. Dazu ein äußerst fein schaffendes Spritzlein. »Probiert das einmal, wenn ein Anfall kommt! Sechs, siebenmal den Gummi scharf pressen, daß der Strahl möglichst fein und scharf gezückt in die Nase schießt. Für den ersten Augenblick regiert das wie ein Wunder. Hernach rat' ich euch solche Pastillen an; sie geben dem abgeschusterten Herz frische Wichse, sagte Doktor Koch. Besser wäre Einspritzen von Digitalis. Das könnte ich Reginen leicht lehren, es heißt dabei nur fein aufpassen . . .«

»O, sie wird's gleich können, die liebe Hexe!« lächelte Theodor. »Wenn's nur nicht weh tut!« fuhr er bänglich fort und sah mich zweifelnd an. »Oder gar gefährlich! Ihr Dökter, ihr Dökter, seid verflucht unheimliche Gesellen mit Gift und Messer! Doch dir, Wälti, trau ich,« sagte er etwas tapferer. »Aber du kommst ja wie der reine Samichlaus zu uns, und wir tragen dir nicht einmal von unserem guten Most und von Reginens Äpfelschnitten auf! Hurtig, die Leutchen hungern!«

Ich wehrte ernstlich ab. Keinen Tropfen und keinen Bissen! Ein andermal! In der Krone kocht man uns unterdessen schon ein Süpplein und etwas Fleisch dazu. Lieber noch ein Weilchen plaudern, leise, leise, daß es nicht weh, sondern wohl tut . . .

So entstand nun doch eine leidlich gemütliche Stimmung in der Stube. Zögernd zwar nahm Regina das Mittel und besah es mißtrauisch. Wie sie es dann aber sorglich einwickelte und ganz vorn in den Wandkasten stellte, damit man es gleich bei der Hand hätte, und wie sie mit einer gewissen erquicklichen Genugtuung den Schlüssel wieder drehte und in ihre Schürzentasche steckte, so, wie man nur etwas Gutes einsteckt, zum Beispiel einen lang und sehnlich erwarteten Brief, der viele Wünsche nun endlich hübsch erfüllt – o ja, daran erkannte ich, daß Regina aus Not oder aus Ehrlichkeit mich schon ein bißchen anders ansah als unter der Türe. Theodor aber schwatzte drauf los, er übersprudelte sich fast. In drei Wochen könnte er ganz wohl wieder hergestellt sein. Diesen Abend zum Beispiel atme er so tief und fühle sich so leicht wie in den besten Tagen auf einem der Gipfel da drüben im Schnee. »Weißt du noch, Walter?« Aber ich merkte, daß er übermäßig erregt war. Hoffnung auf Hoffnung berauschte ihn. Aller Leichtsinn seiner ewig jünglinghaften Seele erwachte. Er gebärdete sich wie ein Gesunder. Jene roten, blühend schönen Rosen gluteten immer tiefer über seine Wangen, die wir an den Schwindsüchtigen so gut kennen und womit sie das, was Schwäche und Fieber ist, dem Laien als aufgehende Gesundheit vorlügen wollen. Theodor mußte jetzt unbedingt Ruhe haben.

Ich wollte Mimeli zum Aufbruch mahnen. Die Kinder knieten am Boden und blätterten in einem großen Bilderbuch. »Grad wie meine Mutter!« hörte ich eben mein Geschöpflein sagen.

Alle drei Kinderköpfe bogen sich tief und aufmerksam über eine junge kleine Frau mit einer langen Nase und zwei kleinen lustigen Augen.

»Deine Mutter?« staunten die beiden Ilgisserkinder.

»Mußt mitbringen, du Mimeli! Mutter holen!« sagte Klärchen und zog Mimeli am Ärmel, als wollten sie beide sich gleich aufmachen und die schöne kleine lustige Frau holen.

»Ist ja tot!« erwiderte Mimeli in der Stammelsprache des kleinen Klärchens.

»Gestorben, deine Mutter? Tot?« schrien die Geschwister und sperrten die Augen groß auf. »Du bist ja noch viel kleiner als ich! Da mußt du doch noch eine Mutter haben; das, das . . . Na . . .« Arnold schüttelte den Kopf. Darüber kam er mal nicht weg.

»Ist halt doch gestorben,« sagte Mimeli leiser und recht niedergedrückt.

Da sahen mich beide Kinder an, als sollte ich Mimeli widersprechen. Aber auch Regina und Theodor blickten mir mit heftiger Überraschung ins Gesicht. Ich senkte den Kopf. Mehr konnte ich nicht antworten.

»Aber das haben wir ja gar nicht gewußt! Verzeih, Walter!« bat Theodor und drückte mir aufs innigste die Hand.

Regina war völlig ratlos, was sie mir sagen sollte. Es entstand eine bange Stille, in die das Kindergeschwätz wieder tröstete: »So mußt du eine andere Mutter kaufen, Mimeli!«

»Man bekommt doch nicht noch einmal eine Mutter!« widerstand mein Kind mild. »Du bekommst auch nicht noch einmal einen Vater, Arnoldli, wenn . . . wenn . . .«

Ich wollte ins peinliche Gerede einspringen; aber da lachte der stolze Arnold schon hochmütig und klob ein klirrendes Beutelchen aus den Hosen. Das warf er großartig zu Boden und prahlte: »Hab' heut für bloß drei Batzen ein Küngeli gekauft! Hei, alles, alles kann man kaufen, Küngeli und Kühli und Vater und Mutter, soviel man will!«

Ich sprang vom Stuhl auf. »Mimeli, wir müssen gehen! Schau, wie es vor den Fenstern schon dunkel wird!«

Aber Klärli und Arnold umschlangen das Mimeli. Dieses so gar nicht hübsche, aber milde und klare Kind hatte ihre kleinen, härteren Berglerseelen ganz gewonnen. »Es soll bei uns schlafen!« schrien sie. »Mit mir, mit mir!« flehte der vierjährige Weggisserzopf.

Mimeli sträubte sich gar nicht. Bisher hat es immer allein geschlafen. Na, einmal mit andern Kindern, das muß lustig sein! Ist's ja schon zweimal seliger in Kissen und Decken drin, wenn man nur so eine kalte, stumme Puppe neben sich hat. Nun mit seinesgleichen, hoi! Wie im Bilderbuch, wo die sieben Zwergmännlein alle in der gleichen Kammer in sieben sauberen Bettlein nebeneinander schlummern. – Schlummern? Warum nicht gar, nein, noch allerlei Hokuspokus treiben, daß es stäubt und federt und wolkenwirbelt! Dem Arnold, so einem Wildstrubel, ist ein ganz gehöriger Spaß zuzutrauen!

»Was denkt ihr denn?« machte ich jetzt ganz ernsthaft. »Das Mimeli kommt doch mit dem Vater. Morgen kommt's noch schnell . . .«

»Nichts da!« entschied Arnold heftig und vor Eifer über seine breiten Lippen geifernd und stand wie ein junger Kaiser vor mich hin. »Es hat mir schon versprochen, das Medaillchen zu zeigen, wo die Mutter drin steckt, da unter dem Lätzchen, gelt, Fratz du!«

Und sogleich nestelte Klärli am Halskragen Mimelis mit beiden zappeligen, wilden Händchen herum. »Wo? Wo? Die schöne Frau?«

»So laß du die Kleine da!« bestimmte nun auch Regina mit einem kurzen, wenig frohen Lächeln. »Wir wollen es schon gut zu Klärli hineinbetten. Sie haben eben Freud' aneinander!«

»Und für dich haben wir auch Platz genug,« sagte Theodor und wollte mich wieder auf den Stuhl herabziehen; »kannst in dein altes Zimmer! Wirst den Weg wohl noch wissen, alter Kerl!«

»Das geht nicht,« entgegnete ich fest. Ich wollte es nicht gleich das erstemal übertreiben. »Die Kammer in der Krone ist schon bestellt, mein Handgepäck drin und das Nachtessen angesagt.«

»Das kann er doch halten, wie er will,« erklärte Regina zu Theodor. »Ein Zimmer ist ja immer schnell gerüstet. Das Mimeli soll nur hier bleiben. Unser Kinderzimmer ist geheizt; aber in der Krone sind alle Kammern eiskalt.«

»So, so, Mimeli, soll ich denn wirklich allein ins Dorf? Ist's dir ernst?« fragte ich und zeigte eine kleine scheinheilige Betrübtheit.

»Ja, ja, sicher! Geh nur!« nickte mir das Dirnchen ruhig zu. Es war schon ganz von dem munteren Klärli und noch mehr von dem strahlend stattlichen Arnoldli eingenommen. Sie wollten mit ihm insgeheim ein bißchen hinter dem Haus über den Hügel hinunterschlitteln, wahrhaft schon bei Nacht! Das lockte ungeheuer. Dazu hatte Arnold ihr ins Ohr getuschelt, daß er vielleicht, wenn's ihm so recht drum zu tun sei, zu ihnen hinüber ins Meitlizimmer komme, wenn sie schon zu Bette gegangen seien. Dann drehe er das Licht aus, gehe wie ein Gespenst vor ihrem Bette auf und ab und erzähle ihnen mit einer furchtbar tiefen Stimme – puh! – eine sehr feine Geschichte, so daß sie vor Angst schwitzen: Armer Fischer – Eismeer – Walfisch – Schiff verschluckt – aber Bauch aufgeschnitten – Speck verkauft – Millionär geworden – Hurrah!

Alle drei lachten. O, sie werden sich nicht fürchten! Er soll nur kommen! Sie spritzen ihm ein Glas voll Wasser an. Er soll nur kommen! Großer Gott, welch ein Abenteuer das gibt, welch ein Lachen, welch ein Gruseln immerhin doch und welch einen Jubel, daß der arme Fischer nun doch noch ein Millionär geworden! Wär's nur schon so spät!

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