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7

Ich muß mich von Catriona trennen, treffe Bessy und gerate in die Hände des Rauhbolds

 

Wir fuhren mit dem wirklich wieder zum bewußten Dasein erwachten Fischer Rickmers nach Schaprode hinüber, und da in Schaprode alles mit der Heuernte beschäftigt war, machten wir einen Fußmarsch nach Trent. Auch in Trent waren sie eifrig dabei, ihr Heu zu bergen, und wir wanderten zu dreien weiter, diese endlosen, vom Wind zerrauften Landstraßen bis Kluis. Zu dreien? Ach nein, jeder von uns ging wohl sehr für sich allein. Im Anfang hatte Professor Arland noch Versuche gemacht, die Unterhaltung in Gang zu halten, aber das mußte er bald aufgeben. Keiner von uns antwortete ihm auch nur mit einer Silbe.

Ich sehe uns da noch wandern, Kilometer um Kilometer, Meile um Meile, meine Zunge war mir trocken wie ein erfrorenes Stück Speck: Nicht ums Verrecken hätte ich eine Silbe über die Lippen gebracht. Ich trug meine beiden Satteltaschen über der Schulter, ein wahrhaft lächerliches Reisegepäck, als ritte mein Alex auf mir. Der Professor aber schleppte den Koffer der gnädigen Frau. Zwischen uns marschierte Catriona, die Hände in den Taschen ihres Staubmantels, und sah kühl und unbeteiligt in die Welt.

Lieber Himmel, diese endlosen, zerrauften Landstraßen mit ihren vom Sturm verkrüppelten Bäumen! Wir marschierten und wir marschierten, und wir schienen nirgendwo hinzukommen. Immer waren neue Höfe längs der Straße, immer neue bissige Köter, die uns anfielen, immer neue Leute, die auf ihren Wiesen und Äckern über die Fremden zu kakeln anfingen! Wir marschierten und marschierten, und was mich anging, so taten mir meine Füße in meinen wunderbaren Lackstiefeln bald verdammt weh! Wie es Catriona mit ihrem Schuhwerk erging, weiß ich nicht zu sagen, sie äußerte kein Wort. Der Professor aber verfluchte mit aller welschen Lebhaftigkeit seine Chaussure, und nachdem er genug geflucht hatte, schwieg er stille – wie wir! Kein Mensch hatte ein Wort zu seinen Flüchen und Leiden gesagt. Catriona hatte die verächtlichste Miene von der Welt aufgesetzt, als ginge sie nur mit Pennern und Stromern. Wir schienen ihr schlecht zu riechen!

In Kluis ergatterte der Professor wirklich für uns ein Fuhrwerk (währenddessen saßen Catriona und ich uns im Krug gegenüber und starrten alles an, nur nicht uns), und die lendenlahmsten, abgetriebensten Schinder waren es, die uns dann in einem sogenannten Kälberwagen nach Bergen brachten. Mittlerweile hatte auch der Professor kapiert, daß wir beide völlig zerstritten waren; das war auch ihm auf die Laune geschlagen, und nun ließ er wie ich die Unterlippe hängen – oh, der Henker hole diese ganze so gelungene Fahrt!

In Bergen auf Rügen saßen wir lange herum, auf einen Personenzug nach Saßnitz wartend. Umsonst beschwor uns Professor Arland, unsere deutschen Heiligtümer zu pflegen und auf den Rugard zu steigen, wo Ernst Moritz Arndt so vieles für Deutschlands Erhebung gedichtet hatte. Wir erhoben uns nicht von unsern Sitzen und starrten wieder alles an, nur nicht uns.

Dann fuhren wir nach Saßnitz, mit zwei Satteltaschen und einem Handkoffer. Ich erinnere mich noch, daß wir am Strande standen, Catriona und ich. Es gab da viele Steine, und wir standen da und hörten es uns an, wie die Wellen mit diesen Steinen spielten. Sie spülten sie herauf und hinunter, es knirschte und rieb und mahlte, und ich sagte zu Catriona: »Wirst du mir denn nie verzeihen können?«

»Nie!« sagte sie leidenschaftlich. »Nie!«

Dann nahm sie den Arm des Professors und ging von mir. Ich hörte sie lachen und reden mit ihm; es wäre mir ganz recht gewesen, wenn mein Kopf einer dieser Steine gewesen wäre, von den Wellen gerollt und gemahlen, ich verachtete mich selbst!

Wir hatten einen ganzen Nachmittag und frühen Abend in diesem Saßnitz zuzubringen, und der Himmel ist mein Zeuge, mit welchem Ekel ich auf dieses modische Badegetriebe schaute! Da hüpften sie, in Damen und Herren getrennt, teils hinter Verplankungen, teils an Seilen auf und ab, kreischten entsetzlich, wenn ein handhohes Wellchen kam, und bis an den Strand konnte ich die vollen Formen unter den angeklatschten Badeanzügen und Röckchen sehen, deren Stoff, meist rot mit weißen Kanten, wie gewachst aussah! Kühne männliche Schwimmer von nicht zu überbietender Schamlosigkeit versuchten, das wüste Meer zwischen Herren und Damen zu durchqueren, um als kühne Helden dazustehen und um vielleicht auch intimere Einblicke in weibliches Badeleben zu erhalten. Aber unfehlbar jammerte dann schrill die Tute der Badefrau auf, hinter der Planke der Badeanstalt schoß ein Boot hervor, und ehrliche Saßnitzer Fischer mußten, statt Heringe zu fangen, diese frechen Schwimmer zurückscheuchen!

Wie widerlich mir das alles war, diese Entblößungen, dieses Gekreisch, diese Männchen mit Heldenpose! Frau von Lassenthin und Herrn Professor Arland schien das auch noch zu amüsieren, sie unterhielten sich wenigstens eifrig und zeigten sich den und wiesen sich jene. Ich aber ging wie ein stummer Schatten hinter ihnen drein.

Auf die Dauer wurde mir diese stumme Verachtung doch zuviel: Ich kletterte eine Treppe zur hohen Steilküste hinauf, bis ich oben unter riesigen Buchen stand und auf das kleine, quietschende Gewimmel hinabblickte. So klein es war, den Professor und Catriona konnte ich wohl unterscheiden. Jetzt, da er nicht mehr hinter ihnen war, schienen sie ihren Schatten zu vermissen. Sie schauten hierhin und gingen dorthin, aber nach oben, wo ich stand, sahen sie nicht!

Auch daraus machte ich ihnen in meinem kindischen Trotz einen Vorwurf. Ich sah spöttisch auf sie hinunter und dachte: Ja, sucht nur! Jetzt tut es euch natürlich leid, daß ihr mich so behandelt habt! Aber nun ist es zu spät!

Der etwas unbestimmte Gedanke, daß es nun zu spät sei, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich ging auf dem Fußweg unter dem hohen, grüngoldenen Buchengewölbe immer weiter, immer schneller, als müßte ich nicht nur ihnen, sondern auch mir selbst entfliehen. Je stiller es um mich wurde, je ferner die Rufe vom Strand verhallten, desto lauter wurde es in mir, mit Vorwürfen und Anklagen. Aber auch die Klagen gegen mich selbst blieben nicht aus, ich hatte mich schmählich betragen, und je klarer mir das wurde, um so unerträglicher schien mir die Last, die ich mit mir im Walde herumtrug.

Da ging ich vom Weg ab und tiefer in den Wald hinein und warf mich zwischen Farnkraut und Himbeergerank auf ein grünes Moospolster, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte, weinte, wie ich seit meinen Kindertagen nicht mehr geweint hatte. Weinte über mein verpfuschtes Leben, meine verlorene Ehre, weinte über Catriona, die Verlorene – ach, ich weinte wohl nur über mich selbst!

Man kann sich sehr leid tun, wenn man erst dreiundzwanzig Jahre alt und einem im Leben bis dahin eigentlich noch nichts schiefgegangen ist! Das Muttersöhnchen hatte seinen ersten Ausflug gewagt, und es war recht schmerzhaft dabei gefallen! Alles Sichere schien in dieser Stunde verloren, ich war nichts, und ich leistete nichts, ich war genauso, wie mein Onkel Gregor mich beurteilt hatte ...

Aber mit dreiundzwanzig Jahren liegt schon eine unendlich mildernde Kraft in solchen peinigenden Betrachtungen. So intensiv man Schmerz und Scham empfindet, so schnell überwindet man sie auch. Ich war viel zu gesund, um da lange in meinem Schmollager zu verharren, und die Tränen taten auch das Ihre.

Ein wenig beschämt über diesen unerwarteten Ausbruch stand ich auf, suchte mich bis an die hier ganz einsame Steilküste zurück und wagte den schwierigen Abstieg. Diese fast senkrechten, nahezu hundert Meter hohen Kreideklippen, die man dort den »Hengst« nennt, hinabzuklettern war noch viel schwieriger und gefährlicher, als ich mir beim Hinabschauen gedacht hatte. Einmal, als ein Stein unter meinen Füßen wegrollte und in die Tiefe voraussprang, ich aber ihm nachfiel, dachte ich im Fallen: Wenn du dir hier ein Bein brächest oder gar das Genick und kämest nie wieder zurück – was würde Catriona wohl von dir denken? Da wußte ich: So schnell wie nur möglich mußte ich zu ihr zurück!

Ich bekam eine kleine Birke zu fassen, sie hielt mich – so zähe hatte sie sich mit hundert Wurzeln und Würzelchen angeklammert. Ein Weilchen pendelte ich atemlos über dem Abgrund, ein Schauer von Sand und Steinen löste sich von den Wurzeln der Birke ab, aber sie hielt mich. Dann hatten meine Füße wieder Halt gefunden, und vorsichtiger setzte ich meinen Abstieg fort.

Ich war unten, und nun tat ich das, warum ich diese gefährliche Kletterei überhaupt gewagt hatte, statt oben den bequemen Weg wie auf meinem Hermarsch zurückzulaufen. Es war natürlich ausgeschlossen, daß ich, Ludwig, Jungherr von Strammin, so verheult vor einen Menschen treten konnte, und nun schon gar vor Catriona und den scharfsichtigen Professor! Ich wusch mir das Gesicht gründlich in der See, immer wieder erfrischte ich mich, erst dann trat ich meinen Heimweg nach Saßnitz an.

Dort war es am Strande unterdes fast still geworden. Die Sonne stand schon tief, es war Abendessenszeit, und niemand lachte noch in den Badeanstalten oder hing an den Seilen. Auch Catriona und der Professor waren nicht mehr zu sehen, ich wußte aber schon, wo ich sie finden würde, und dort fand ich sie auch, nämlich im Wartesaal des Bahnhofs, wo sie bei Brathähnchen und Rheinwein saßen.

Sie begrüßten mich, als sei meine Abwesenheit ganz selbstverständlich gewesen, auch Catriona gab mir die Hand. Mein Anzug und meine Reitstiefel, die kreidige Spuren genug von meiner Kletterei trugen, gaben den ersten Gesprächsstoff ab, und ich erzählte Wahrheit und Dichtung von meinem Abstieg über den »Hengst« und schilderte etwas übertrieben die Wonnen solcher Kletterei. Wohl sah ich Catriona und den Professor bei meiner Erzählung einen Blick tauschen, der nichts anderes sagte wie: Was ist er doch noch für ein Kind!; da ich's aber besser wußte, und da auf meinem Moospolster sich vieles in mir gelöst hatte, da Hähnchen wie Wein mir vorzüglich schmeckten, ärgerte ich mich gar nicht über diesen Blick. Im Augenblick war ich wieder einmal recht zufrieden mit der Welt und mit mir. Zwar redete Catriona mich noch immer mit »Sie« an (während ich jede direkte Anrede wohlweislich vermied), aber auch das würde sich noch geben. Vorläufig lag noch die lange Bahnfahrt im Schwedenzug bis Stralsund vor uns.

Doch umsonst hatte ich mir viel von dieser Fahrt versprochen. Der Zug war überfüllt, und wenn es auch dem Geschick des Professors gelang, einen Sitzplatz für Frau von Lassenthin zu erobern, uns beiden Männern blieb nichts wie das Stehen auf dem Gang. Da standen wir nun also, der Professor sah durchs Fenster in das dämmrig, dann dunkel werdende Land, ich aber hatte meinen Rücken gegen dieses Fenster gelehnt und schaute in das Abteil zurück, wo Catriona recht eingepfercht zwischen zwei dicken Schweden saß, die sich ungeniert an ihr vorbei unterhielten. Je länger ich sie ansah, wie sie dort saß, das liebe Gesicht so müde, so müde, um so mehr entbrannte wieder mein Herz für sie, und ich hätte viel, wohl alles dafür gegeben, um es wieder so zwischen uns zu machen, wie es vor jenem Ausspruch vor gut zwölf Stunden gewesen war.

In dieser Stimmung schien es mir selbstverständlich, Catriona ohne weiteres meinen Eltern zuzuführen. Papa war der geborene Kavalier, und wenn Mama auch stets sehr auf das Schickliche hielt, so kannte niemand besser als ich ihr gutes Herz. Ich begriff mich selbst nicht mehr, daß ich nicht sofort auf den Vorschlag des Professors eingegangen war. Aber es ließ sich sicher noch alles ins rechte Lot bringen.

Ich war schon im Begriff, dem Professor das alles auseinanderzusetzen und ihn um seinen Rat zu ersuchen, wie doch etwa heute abend noch Frau von Lassenthin zu einer Fahrt nach Strammin zu gewinnen sei. Da hörte ich, daß er ein Liedlein vor sich hin sang, wozu er den Takt eifrig gegen das Gangfenster klopfte, während das Rollen und Donnern der Räder ihm die Begleitmusik abzugeben schien. Es war aber nichts anderes als dieses verfluchte Hasenlied, das der Professor vor sich hin summte. Mir verschlug's auf der Stelle die Rede, daß dieses unselige Lied mir gerade jetzt wieder begegnete. Nicht nur bei der Bessy, sondern auch bei der Catriona. Als besonders schwerwiegend empfand ich, daß es der Professor sang, dem doch gar kein Hase fort-, sondern allenfalls einer zugelaufen war. Und am Ende meinte er's gar so!

Von neuem zornig, wandte ich mich wieder von ihm ab und dem Abteil zu. Frau von Lassenthin schien jetzt zu schlafen, trotz des Gelächters und Geschwätzes der Schweden. Ich aber starrte sie immer wilder und entschlossener an, wobei ich dachte: Du sollst und sollst mich jetzt ansehen, Catriona, ich befehle es dir! Ich habe so was von Gedankenübertragung gehört oder gelesen und meinte, es müsse mir gelingen. Catriona aber schlief fort, wie der Professor fortsummte und trommelte. Da gab ich das Befehlen und Starren bald auf, nicht aber das Hinsehen auf die Schlafende.

Bergen, Samtens – Frau von Lassenthin schlief fort, und nun war auch meine letzte Hoffnung auf einen gemeinsamen Besuch im Speisewagen entschwunden: Stralsund zog immer näher herauf! Altefähr – und gerade unser Wagen wurde mit auf die Eisenbahnfähre geschoben, so daß Frau von Lassenthin weitersitzen und -schlafen konnte! Fast verzweifelt sagte ich zum Professor: »Aber ich werde Sie beide doch noch bis zu Ihrem Sanssouci bringen dürfen? Und vielleicht haben Sie gar in einem Giebel eine Kammer für mich? Ich bin doch schließlich auch interessiert in dieser Sache und wüßte es gern so schnell wie möglich, wie Ihr Schulausflug morgen ausfällt!« Dabei sah ich ihn sehr bittend an.

»Mein lieber Herr von Strammin«, antwortete der Professor und legte sanft seine Kinderhand auf meinen Jackettärmel, »es gibt ein Lied des Textes, daß nicht alle Tage Sonntag ist und daß es nicht jeden Tag Wein gibt. Sie sollten die Stunde auch nicht zwingen wollen. Nein, ich denke, wir schütteln einander auf dem Bahnhof freundlich die Hand und machen uns jeder auf seinen Weg, Sie nach Strammin und ich mit unserer Schutzbefohlenen in mein Sanssouci – ziehen Sie doch kein Gesicht, Lutz, es ist wirklich das Klügere. Bedenken Sie auch, daß Sie in Stralsund kein ganz unbekannter Mann sind und daß uns Ihre Begleitung darum leicht gefährlich werden könnte, während bis jetzt kein noch so kluger Major von Brandau den Professor Arland mit Frau von Lassenthin in Verbindung bringt.«

»Aber«, rief ich, »ich kann doch nicht ganz tatenlos in Strammin sitzen und Ihnen alles überlassen!«

»Wer verlangt denn das von Ihnen?« fragte der Professor. »Einmal wird es ganz gut sein, wenn Sie sich erst einmal bei Ihren Eltern sehen lassen und dort Ihre Lesart dieser Abenteuer zum besten geben. Denn ich halte es sehr wohl für möglich, daß der Major oder gar Herr von Lassenthin dort schon vorgearbeitet haben – und in welchem Sinne, das können Sie sich wohl denken. Da bleibt Ihnen recht nützliche Arbeit zu tun. Zum anderen schlage ich Ihnen vor, daß wir uns morgen abend auf der Straße zwischen Ückelitz und Stralsund treffen. Wenn ich da mit meinen Trabanten heimwärtsziehe, habe ich Ihnen sicher allerlei zu berichten und wohl gar Ihre Hilfe zu erbitten.«

»Es will mir noch immer nicht in den Kopf«, rief ich, »daß Sie morgen irgend etwas ausrichten mit Ihren Jungens, ich glaube, Sie unterschätzen die Lassenthins – alle beide!«

»Ich will's auf einen Versuch ankommen lassen«, meinte der Professor lächelnd. »Und nun, Herr von Strammin, sehen Sie sich einmal wirklich an, wie blaß und müde Frau von Lassenthin aussieht! Meinen Sie nicht auch, daß ihr ein kräftiges Essen und eine lange Bettruhe besser tun werden als – Auseinandersetzungen?«

Ich sah sie wirklich an, und dieser Appell des Professors entschied bei mir. »Es ist gut«, sagte ich. »Ich werde alles so tun, wie Sie sagen, und morgen gegen Abend treffen Sie mich irgendwo auf Ihrem Heimweg!«

So geschah es denn auch, und wir trennten uns aus lauter Vorsicht nicht erst im hellen Licht des Bahnhofs, sondern schon im Zuge.

»Ach«, sagte Catriona und gab mir fest ihre Hand, »ich habe so schön geschlafen und so gut geträumt. Schlaf du auch schön, Lutz, mein irrender Ritter!«

Das war nun ein Abschiedsgruß, wie ich ihn mir besser nicht wünschen konnte, und fast ganz glücklich sah ich dem seltsamen Paar nach, dem kleinen, beweglichen, etwas übereleganten Mann mit dem Eierkopf und der großen, schlanken Frau. Sie schoben sich durch das Gewühl der Reisenden, näherten sich der Sperre, wurden langsam hindurchgepreßt, und nun verschwanden sie in der Eingangshalle. Erst da fiel mir ein, daß bei Catrionas Abschiedsworten der Ton vielleicht doch auf »irrender Ritter« gelegen haben könnte. Irrend – nun wohl!

Ich warf meine lächerlichen Satteltaschen über die Schulter und schloß mich den letzten Nachzüglern an. Plötzlich wurde es mir klar, wie auffallend ich mit meinem Gepäck aussah, daß es Herrn von Brandau, wenn er wirklich nach mir jagte, nicht schwerfallen konnte, mich zu erwischen. Aber unangefochten kam ich durch die Sperre, und der Schutzmann in der Eingangshalle sah mich wohl nachdenklich an – ich schob's aber auf die Satteltaschen. Trotzdem wagte ich nicht den geraden Weg durch die Stadt, sondern schlich mich hinten herum, gar nicht auf Stramminsche Weise, durch die Knieperwallstraße und die Mönchstraße nach dem Alten Markt. Erst dort, angesichts des »Halben Mondes«, kam mir der Gedanke, daß der Major vielleicht meinen Alex mit Beschlag belegt oder mir bei ihm einen Hinterhalt gelegt haben könnte. Ich stand lange an der Seite, beobachtete die aus und ein Gehenden, sah bekannte Gesichter hinter den großen Scheiben sitzen und essen, beneidete sie ein wenig (denn ich hatte schon wieder Hunger) und konnte mich nicht recht entschließen. Aber alle Bedenken halfen zu nichts. Meinen Alex mußte ich haben, sonst kam ich heute nacht nicht mehr nach Strammin, und so schob ich mich unbeobachtet auf den Wirtschaftshof und spähte aus dem Dunkel in den hellen Gästestall, dessen Türen weit offenstanden.

Es waren nicht viele Pferde darin, der Friedrich hatte schon abgefüttert und war gerade dabei, jedem Gaul einen kleinen Armvoll Heu vorzulegen, und ich sah mit Befriedigung, daß der Armvoll für meinen Alex viel größer ausfiel als bei den andern Gäulen. Nicht darum aber fing ich an, nach einem kleinen Goldfuchs für den Stallburschen zu suchen. Übertriebene Trinkgelder geben nur Leute, die nicht wissen, was sich gehört; ich war mir ganz klar darüber, daß dieser kleine Goldfuchs kein Trinkgeld für gutes Füttern, sondern eventuell ein Bestechungsgeld war. Wer wußte, was für Weisungen der Friedrich, meinen Alexius angehend, erhalten hatte! Nun mußte es sich eben erweisen, was alte Anhänglichkeit und ein Goldfuchs ausrichten konnten.

Ich hatte die kleine, schwere Münze gefunden. Sie in der Hand, trat ich in den Stall auf den überraschten Friedrich zu und sagte eilig: »Friedrich, Sie fragen mich nichts und Sie sagen mir nichts! Sie helfen mir jetzt bloß schnell den Alex satteln, und in fünf Minuten will ich abreiten, ohne daß jemand weiß, daß ich überhaupt hiergewesen bin.«

Ich hatte ihn aber zu sehr überrannt, er war in der Eile gar nicht fähig gewesen, alles aufzufassen, sondern rief: »Oh, guten Abend, Herr von Strammin! Sie sind also doch wiedergekommen! Fräulein von Schalenberg sagte mir doch –«

»Nicht, Friedrich!« sagte ich. »Dieser Fuchs ist nur für Sie, wenn Sie gar nichts erzählen. Ich will heute eben nichts mehr hören.« Und ich hielt ihm das Goldstück wieder hin.

Er wollte es noch immer nicht nehmen. »Aber ich soll Ihnen doch bestellen ...«, fing er wieder an.

»Nichts sollen Sie mir bestellen!« rief ich. »Da, stecken Sie das Geld ein! Wo haben Sie denn den Sattel?«

»Hier hinten, Herr von Strammin! Ich danke auch schön, Herr von Strammin. Der Herr Vater hat auch angerufen ...«

»Still doch, Friedrich!« rief ich, über so viel Unverstand jetzt wirklich ärgerlich. »Verstehen Sie denn nicht, daß ich heute abend nichts hören oder sehen will? – Halt, Friedrich, geben Sie dem Alex jetzt nichts mehr zu saufen. Er pustet sich dabei immer etwas auf, und nachher rutscht der Sattelgurt ...«

»Ich werde von Herrn Ericke aber einen Dicken gepfiffen kriegen«, brummte der Friedrich. »Er hat mir doch extra gesagt ...«

»Für zehn Mark können Sie sich schon einmal anpfeifen lassen«, meinte ich. »So, Alex, ja, freust du dich, daß ich wieder hier bin? Hast lange genug gestanden, was? Ja, mein Alex, jetzt geht es endlich wieder nach Haus, das heißt ...« – ich hätte das ja nun wieder vor dem ob meiner Geheimnistuerei so aufmerksamen Friedrich nicht sagen dürfen –, »das heißt, heute noch nicht nach Haus, aber einen schönen Ritt wollen wir beide machen, was, Alexius? Nein, mein Guter, Zucker habe ich heute nicht bei mir ...«

»Ich habe noch ein paar Stückchen in meiner Futterkiste«, meinte Friedrich. »Wenn ich Ihnen die anbieten dürfte?«

»Nur her damit!« rief ich fast übermütig, denn nun freute es mich doch, endlich wieder auf meinem Gaul sitzen und ins weite nächtliche Land traben zu dürfen. »Hier, Alex, und hier noch ein Stück!«

»Wenn ich nur noch eines sagen dürfte«, fing der Friedrich noch einmal an. »Der Wachtmeister Pieplow vom Polizeirevier war auch da –«

»Aus!« schrie ich wütend und zog den Alex hinter mir aus dem Stall. »Heute sind Sie wirklich keinen Goldfuchs wert, Friedrich!« Ich saß auf, und wie ich erst oben war, legte sich mein Ärger schon wieder. »Nehmen Sie's mir nicht übel, Friedrich. Wir haben alle unsere guten und schlechten Tage. Auf Wiedersehen, gute Nacht!«

Diesmal ritt ich nicht heimlich durch die Straßen Stralsunds, auf meinem Alex trotzte ich allen Schergen Brandaus und passierte öffentlich den sommerlichen, lebhaften Bummel in der Ossenreyer. Es wäre mir aber beinahe übel ergangen, denn ich wurde angerufen, und zwar von keinem andern als dem ältesten Strasen-Sohn auf Groß-Ellerau. Er war also auch noch immer nicht von den Versuchungen der großen Stadt losgekommen, und das sah man seinem Gesicht auch an: Es glühte rot wie einer dieser neumodischen Liebesäpfel, die auch Tomaten genannt wurden.

»Heh, Strammin!« schrie er. »Einen Mordsdusel, daß ich Sie treffe! Mein Zaster – verstehen Sie, ich bin nämlich völlig blank! Diese verdammte kleine Cancanöse – Sie verstehen?«

Und dabei schmunzelte er mich mit seinen kleinen, verquollenen Augen so gerissen an, daß ich unwillkürlich lachen mußte. »Ach, Strasen«, rief ich lachend, »sind Sie denn wirklich schon ganz blank? Das ist doch wohl kaum möglich – eine ganze Weizenladung? Da haben Sie sich aber anständig amüsiert!«

»Das meiste von dem Geld habe ich natürlich in einem lichten Augenblick nach Haus geschickt«, sagte er. »So leichtsinnig bin ich nun doch nicht, wenn mir was Weibliches über den Weg läuft. Aber jetzt kämen mir meine fünfhundert gerade recht, Strammin!«

Ich lachte wieder, diesmal aber war meine Heiterkeit bloß verstellt. »Lieber Strasen«, rief ich. »Sie haben verdammtes Pech! Ich laufe meinem Geld nämlich noch immer nach, das heißt, es ist schon nicht mehr in Stralsund, und ich will nun sehen, daß ich's in Strammin auftreibe! Von dort schicke ich es Ihnen sofort, morgen schon, meinethalben auch telegrafisch.«

Die Wahrheit zu sagen: Von seinen fünfhundert Mark hatte ich noch über vierhundert in der Tasche. Aber ich mochte sie ihm nicht geben, ich nahm mit ziemlicher Sicherheit an, daß mein Geld noch nicht in Strammin eingetroffen war und in den nächsten Tagen auch kaum eintreffen würde. Ich kannte doch Gregor!

Bei meinen Worten hatte sich die weinselige Miene Strasens in eine recht finstere verwandelt. Jetzt kniff er die Augen wirklich schweinemäßig ein und sagte ziemlich erregt: »Hören Sie zu, Strammin, so was können Sie mit mir nicht machen! Sie haben sich den Zaster für ein paar Stunden ausgeliehen, bis Sie mit der Schalenberg zusammengewesen wären. Und mit der sind Sie zusammengewesen, ich habe Sie selber im ›Halben Mond‹ sitzen gesehen. Also machen Sie keine Geschichten!«

Ich versuchte es noch einmal mit Lachen. »Ja, lieber Strasen«, lachte ich, »aber sie hat das Geld nicht 'rausrücken wollen, vielleicht hat sie mir nicht recht getraut. Unglücklicherweise habe ich ihr nämlich erzählt, ich sei mit Ihnen im Ratskeller verabredet ...«

Mein Lachen aber half gar nichts mehr, seine Haltung wurde immer krakeeliger: »Wenn Ihnen die Schalenberg das Geld verweigert hat, so wird sie schon ihre Gründe gehabt haben. Man hört ein bißchen viel von Ihnen reden dieser Tage, Strammin. Das sage ich Ihnen: Wenn Sie mein gutes Geld dazu benutzt haben, es einer Erpresserin in den Rachen zu stecken, so bekommen Sie es mit mir zu tun!«

Jetzt wurde auch ich etwas hitzig. »Ich glaube, Herr Strasen«, antwortete ich, »Sie haben mit Herrn von Lassenthin zu lange an einem Tisch gesessen. Übrigens – als Sie mir Ihr Geld liehen, wurde es mein Geld, und Sie haben mir nicht die geringsten Vorschriften über seine Verwendung zu machen, das merken Sie sich nur!«

»Es ist also wahr, was von Ihnen erzählt wird!« rief er wütend. »Nun, Strammin, ich hätte Sie für ein bißchen schlauer gehalten. Freilich, wenn solch ein Muttersöhnchen wie Sie erst einmal ausschlägt, weiß man nie, wohin das noch führt.« Er musterte mich spöttisch, ich konnte ihm seine dreckigen Gedanken unschwer von der Stirn ablesen. »Aber«, fuhr er fort, »ich will das nicht haben, daß mit meinem Geld Unfrieden gestiftet wird und daß solche Weiber damit unterstützt werden.«

»Hören Sie zu, Strasen«, sagte ich, beugte mich weit von meinem Alex hinunter und sprach ihm direkt ins rote, schwammige Gesicht. »Sie haben ein bißchen viel getrunken und wissen nicht, was Sie jetzt reden. Ich finde Ihre Cancanöse nicht sehr appetitlich, aber ich mache Ihnen deswegen keine Vorschriften. Was aber Ihr elendes Geld angeht, um das Sie mich hier auf offener Straße plagen, als wären Sie ein alter Mauscheljude und kein pommerscher Landwirt, so will ich Ihnen davon geben, soviel ich noch in der Tasche habe.« Ich war jetzt zornig und riß die Scheine und Münzen aus der Tasche, wie es kam. »Da, Herr Strasen, zählen Sie nach, meiner Ansicht nach sind es vierhundertzwanzig Mark. Die paar Mark, die mir jetzt noch in der Tasche klimpern, bewilligen Sie mir vielleicht gütigst als Zehrgeld für den Heimweg. Und die fehlenden achtzig Mark, mit denen ich Erpresserinnen gemästet habe, werde ich Ihnen so rasch wie möglich senden! Der Himmel soll mich davor bewahren, noch einmal Ihr Schuldner zu werden!«

»So!« sagte der Strasen, steckte das Geld fast triumphierend ein und grinste. Aber böse. »Das ist ja reizend von Ihnen, Strammin! Sie lassen mich hier um mein Geld reden und betteln, und dabei tragen Sie es fein säuberlich in der Tasche herum. Der Henker soll mich holen, wenn ich Ihnen das vergesse. Sie sind mir ein komischer Heiliger. Ja, das sind Sie! Was wollten Sie denn eigentlich mit meinem Geld jetzt noch in der Nacht anfangen, daß Sie's mir so hartnäckig verweigerten, heh?«

»Nicht, was Sie damit anfangen werden!« schrie ich wütend. »Im übrigen, Herr Strasen, wissen Sie ja wohl, was Sie mir können –? Ja, ich sehe es Ihnen an, Sie haben's kapiert! Jawohl, das können Sie mir, Herr Strasen, genau das! Das heißt, nicht einmal das können Sie mir –!«

Damit ritt ich ab, ließ ihn da stehen auf der Ossenreyer, kirschrot vor Wut, tomatenrot, truthahnkullrig.

Aber wir pommerschen Landleute sind einen recht derben Ton untereinander gewöhnt. Wir sagen uns dann und wann kräftig unsere Meinung und nehmen das noch lange nicht tragisch. Schon als ich in die dunkle Nacht auf der Greifswalder Chaussee hineinritt, war mein Zorn zur Hälfte verraucht. Ich hatte ihm tüchtig was versetzt, o nein, ich war ihm nichts schuldig geblieben. Er würde eine Weile daran kauen, vor allem, wenn er erst wieder nüchtern und seine krakeelige Stimmung verflogen war. Ich kannte doch den Strasen ... Eigentlich ein gutmütiger Kerl, aber der Alkohol bekam ihm nicht. Er würde der erste sein, wieder einzulenken. Und dann – mir das Geld so auf der Straße abzujagen, das war wirklich keine Ruhmestat gewesen. So etwas war bisher unter uns eigentlich nicht üblich.

Bedenklich blieben nur zwei Dinge an diesem Gespräch. Einmal, daß ich wieder ganz oder fast ganz ohne Geld dasaß und ohne viel Aussicht, bald wieder etwas zu bekommen. Denn ich wußte ja, wie leer unsere Kasse daheim war. Viel bedenklicher aber war noch zum andern, daß schon so viel über mich und Frau von Lassenthin geredet wurde. Das konnte unserer Aufgabe noch sehr abträglich werden. Jetzt zeigte es sich, wie gut es doch war, daß ich mich von Frau von Lassenthin heute abend getrennt hatte und schon nach Hause ritt. Das Geschwätz würde sich mit Windeseile über ganz Vorpommern ausbreiten. Schon jetzt saßen vielleicht alle möglichen Waschweiber, männlich und weiblich, hinter ihren Briefmappen und teilten ihren Anverwandten auf dem Lande brühwarm mit, was sie wußten – oder doch zu wissen glaubten. Ich mußte dem allen bei den Eltern zuvorkommen, von mir mußten sie alles zuerst hören!

Daß eine solche Aussprache nicht ganz einfach sein würde, war mir klar. Nie hatte ich über solche oder ähnliche Dinge mit Mama oder Papa sprechen müssen. Aber einmal dabei, würde es schon gehen. Ich wußte es doch, eine Gefahr war nie so schlimm, wie man sie sich in der Phantasie vorstellt. Wesentlich einfacher würde allerdings alles sein, wenn ich wenigstens das Geld von der Weizenverladung bei mir hätte, dachte ich.

Damit war ich wieder bei meiner Geldklemme angelangt, und von ihr geriet ich ohne weiteres auf den verhaßten Gregor von Lassenthin, der das Geld in seine Tasche gesteckt hatte und der es kaum so bald wieder herausrücken würde.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, ritt ich immer weiter durch die Nacht, und es war wirklich kein Wunder, daß ich durch die Dunkelheit – der Mond war noch nicht hoch – immer eifriger nach rechts schaute, als könnte ich den düsteren Giebel von Ückelitz über den dunklen Tannen auftauchen sehen. Von solchem Schauen war kein weiter Weg bis dahin, daß ich des Alex rechten Zügel ein wenig anzog. Willig genug bog er von der Straße ab, und nun suchten wir beide gemeinsam eine halbe Stunde lang zwischen Feldern und über Gräben unsern Weg im Dunkeln nach Ückelitz. Was ich dort eigentlich suchte, hätte ich so genau nicht einmal sagen können. Dieser Abstecher war völlig außer meinem Programm und auch außer allem mit dem Professor Besprochenen. Es war wirklich nur das Geld, das mich juckte, obwohl ich mir keine bestimmte Vorstellung davon machte, wie ich jetzt in der Nacht dem Gregor das abjagen wollte, was er mir offen am Tage verweigert hatte. Vielleicht war es auch eine geheime Eifersucht auf das Vorhaben des Professors, dem ich mit seinen Erkundungen zuvorkommen wollte.

Alex und ich fanden recht gut unsern Weg bis an die hohe Parkmauer von Ückelitz. Weiter wollte ich mit dem Gaul nicht vordringen; ich nahm ihm das Kandarengebiß aus dem Maul und band ihn mit langem Trensenzügel an ein Bäumchen. So konnte er sich wenigstens ein kleines Grünfutter zusammenstehlen, während sein Herr verbotene Wege ging.

Über den Hof mochte ich nicht, ich wollte in den Park und aus ihm in den Garten. Gregors Zimmer lag nach dem Garten zu, und nur für Gregor hatte ich Interesse. An den alten Lassenthin, den Rauhbold, mochte ich jetzt gar nicht denken. Lange schlich ich an der Parkmauer entlang. Sie war wirklich reichlich hoch und außerdem oben noch mit Glasscherben gespickt. Für nächtliches Übersteigen war sie jedenfalls völlig ungeeignet. Doch hätte Ückelitz nicht Ückelitz sein müssen, wenn es nicht irgendwo ein Loch, eine verfallene Stelle in dieser Mauer gegeben hätte, so verkommen wie der Hof war. Eine von einem Unwetter entwurzelte Buche hatte sich gegen die Mauer gelehnt und sie zum Einstürzen gebracht. Im Dunkeln mußte ich erst über diese Trümmer fallen, ehe ich meine Gelegenheit begriff.

Als ich aber erst drinnen im Park war, ging alles ganz leicht. Erst fand ich eine Art Fußweg, dann eine Allee. Nun tauchte ein fernes, sternenhaft leuchtendes Lichtlein vor mir auf, blinzelte, strahlte, verging wieder und stand schon hell und fest vor mir. Ich trat aus den Bäumen heraus, ging über den struppigen, verunkrauteten Rasen, und da waren reichlich mannshoch über mir zwei erleuchtete Fenster: das Gartenzimmer Gregors von Lassenthin. Ich stand direkt unter ihm.

Gottlob waren trotz der warmen Juninacht die Fenster geschlossen, und so konnte ich mit einiger Sicherheit nach Mauervorsprüngen und Kanten tasten, an denen ich hochkletterte. Das bot auf die Dauer kaum Schwierigkeiten, und keine drei Minuten – und ich zog mich schon sachte an der Kante des Fensterbrettes hoch und fand Halt für meine Füße, so daß ich bequem stehen konnte. Ich spähte in das große, von einer Petroleumlampe und einigen Kerzen hell erleuchtete Gartenzimmer.

Was ich dort zu sehen bekam, war interessant genug, und wenn ich vielleicht doch noch einige schamhafte Bedenken wegen meines schamlosen Schnüffelns gehabt hatte, so vergingen sie mir nun auf der Stelle. Es schien mir ganz so, als wäre ich gerade im richtigsten Augenblick gekommen. Denn mein Onkel, der Herr Gregor von Lassenthin, war in dieser stillen, nächtlichen Stunde beim Packen. Ein großer Koffer stand mit weit offenem Rachen schon fast gefüllt auf dem Boden, Gregor selbst aber war jetzt damit beschäftigt, einen kleinen, auf einem Ruhebett stehenden Lederkoffer (der mit seinen vielen bunten Zetteln wie ein Zwilling von Catrionas Koffer aussah) mit Papieren zu füllen.

Eifrig ging er zwischen einem Schreibsekretär und dem Ruhebett hin und her, Aktendeckel öffnend, nachlesend, verstauend, Schubladen leerend. Manches Papier auch flog nach flüchtiger Durchsicht in den großen Kamin, in dem trotz sommerlichen Wetters ein lebhaftes Feuer flackerte. Das Papier krümmte sich, lohte hell auf und wurde von der kräftigen Flamme des Holzes spurlos vertilgt.

Wenn ich auch kein besonders kluger Mann bin, und vor allem nichts von jenen alles erratenden Meisterdetektiven an mir habe, die, heißen sie nun Sherlock Holmes oder Balduin Groller, jetzt sogar in Mamas Lieblingszeitschriften (zu ihrem Entsetzen) eingedrungen sind, so fiel es mir doch nicht schwer, zu erraten, daß hier eine Abreise vorbereitet wurde. Und zwar keine Abreise für eine kürzere oder längere Abwesenheit, sondern viel eher etwas, was man einen Abschied von Ückelitz nennen konnte. Die methodische Art, wie Gregor sorgfältig Fach für Fach des großen Schreibsekretärs entleerte, wie er jedes Schriftstück prüfte, manches zögernd in der Hand hielt, ehe er es dem Koffer oder der Flamme überantwortete, und mehr noch als dies alles eine gespannte, achtsame Miene, die ihn immer wieder innehalten und nach dem Innern des Hauses horchen ließ – das alles verriet mir, daß unser Gregor im Begriff war, zu entfliehen, daß Gefahr im Verzuge war.

Es hätte gar nicht erst eines weiteren Blickes auf den Tisch bedurft, der, ganz in der Nähe meines Fensters stehend, meinen Blicken völlig offen war. Denn dort war ein Stoß Geld aufgetürmt, Scheine und Rollen mit Münzen. Wieder brauchte es keines besonderen Scharfsinns, um die Herkunft dieses Geldes zu erraten. Es war mein Geld, unser schönes Stramminer Weizengeld, das Gregor die Möglichkeit zu einer heimlichen Flucht gab.

Ich konnte mir alles genau genug vorstellen: den Rauhbold, der dem Sohn jeden Pfennig verweigerte, der den Sohn gezwungen hatte, gerade jetzt, wo diese »Abenteurerin« aufgetaucht war, hierzubleiben und dem Gerede die Stirn zu bieten. Und diesen Sohn, diesen Feigling, der mutig genug gewesen war, alles zu tun, um diese Frau ins Unglück zu stürzen, der aber doch vor einem Zusammentreffen mit ihr zitterte, der die schmähliche Flucht wählte! Zu dieser Flucht war ihm gerade mein Geld zurechtgekommen, nicht nur uns anderen, auch dem Alten würde er ein Schnippchen schlagen.

Ich hatte genug gesehen. Gregor kniete jetzt vor einer der vielen bauchigen Schubladen des Sekretärs und hob Stoß auf Stoß von Papieren heraus, Briefbündel, dicke, geschwollene Aktenstücke, die mit Bindfaden verschnürt waren. Das war Arbeit für mindestens eine Stunde. Unterdes wollte ich überlegen, was jetzt zu tun war. Diese Flucht mußte vereitelt werden!

Ich ließ mich los und landete mit einem leisen Sprung im Grase. Einen Augenblick stand ich dann noch und lauschte nach dem Fenster über mir. Dort blieb aber alles still, und so begann ich, mich auf leisen Sohlen in die Tiefe des Gartens zurückzuziehen. Ich hatte noch keine fünf Schritte getan, als mich eine Stimme leise anrief: »Hallo, Lutz, nimm mich mit!«

Und aus einem Gebüsch tauchte eine weibliche Gestalt auf.

Ich war so erschrocken, daß ich einen Satz in die Luft machte. Und auch dann noch, als ich in dem Nachtgespenst längst meine ehemalige Braut Bessy erkannt hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis ich, noch immer ziemlich atemlos, hervorstoßen konnte: »Um Gottes willen, Bessy, was machst du denn hier in Ückelitz?!«

»Dasselbe, was Euer Liebden hier tun«, antwortete sie mit dem alten spöttisch überlegenen Stimmklang, schob ihre Hand in meinen Arm und führte mich gegen den dunkleren Parkrand. »Ein bißchen spionieren ...«

»Aber, Bessy«, rief ich, noch immer ganz fassungslos, »was geht denn dich diese Geschichte an? Was weißt du überhaupt von ihr? Ich glaube, die ganze Welt ist verrückt geworden!«

»Ich jedenfalls nicht, Euer Liebden«, sagte sie mit Betonung, ließ mich los und schien mich zu mustern. »Ich bin gewissermaßen ganz legal hier, nämlich auf der Jagd nach dem anvertrauten Geld!«

»Woher weißt du denn das schon wieder, daß Gregor es für sich behalten hat?« fragte ich ganz verzweifelt. »Hat er's dir etwa selber erzählt?«

»Ach, der!« antwortete Bessy verächtlich. »Nein, mein lieber Lutz, von dir selbst weiß ich es, und da ich mich diesmal doch ein wenig für die Stramminer Kasse verantwortlich fühlte, bin ich hierher auf Nachschau geritten.«

»Aber ich habe dir doch kein Wort davon gesagt, Bessy! Ich habe dich seitdem nicht einmal mehr gesehen!«

»Ach, haben Euer Liebden das wirklich gemerkt? Ich hätte geglaubt ...« Sie äußerte sich aber nicht über das, was sie geglaubt hätte, sondern fuhr fort: »Jedenfalls war ich in einiger Sorge – wegen des Geldes natürlich! So bin ich denn heute nachmittag einmal nach Strammin geritten. Da waren weder Jungherr noch Geld eingetroffen, dafür herrschte aber die kopfloseste Verwirrung über einen gewissen mystischen Eilbrief, der gerade angekommen war ...« Plötzlich gab Bessy ihren spöttischen Ton auf und sagte ganz ernst: »Was bist du doch für ein närrischer Kindskopf, Lutz, deinen guten Eltern einen solchen Schreck einzujagen!«

»Ich dachte, es sei ein sehr klarer Brief gewesen«, antwortete ich etwas betreten. Und wagte dann die Frage: »Und was hast du den alten Herrschaften gesagt, Bessy?«

»Was sollte ich ihnen wohl sagen«, antwortete Bessy, wieder ganz Spott. »Haben Euer Liebden mich irgendwelcher Geständnisse gewürdigt –? Ich habe ihnen gesagt, ich würde mich nach dir umschauen, und hier bin ich, ob es dir nun recht ist oder nicht, Lutz!«

»Es ist mir schon recht, Bessy«, sagte ich leise. Dann schwiegen wir beide gemeinsam, eine sehr lange Zeit. Schließlich sagte ich: »Er will abreisen, Bessy, für eine lange Reise.«

»Ja«, flüsterte sie ebenso. »Und mit eurem Geld. Hast du es auf dem Tisch liegen sehen? Es ist genau das Geld, wie es mir Ole Pedersen gegeben hat.«

»Natürlich«, antwortete ich. »Und das darf er nicht.«

»Er soll reisen, soviel er will!« widersprach Bessy. »Aber das Geld hole ich mir erst wieder!«

»Insoweit sind wir einig«, bestätigte ich.

Sie dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: »Gut, Lutz, wir wollen einen Vertrag schließen, wie unter Freunden.«

»Unter Freunden macht man doch keine Verträge, Bessy.«

»Du weißt gut, was ich meine. Ihr Männer denkt immer, einer Frau braucht ihr das Wort nicht so zu halten ...«

»Ich habe dir noch immer mein Wort gehalten, Bessy.«

»So?« rief sie. »Sagst du das, Lutz? Nun, mir ist es die letzten Tage verdammt anders vorgekommen.«

»Bessy«, bat ich dringlich, »fang doch bitte nicht wieder so an! Wenn wir Zeit hätten, würde ich dir alles jetzt erzählen. Es ist wirklich alles ganz anders, wie du dir einbildest und die Leute schwätzen!«

»So?« fragte sie ein bißchen höhnisch. »Es ist also alles ganz anders? Euer Liebden haben sich also nicht in eine gewisse Dame Knall und Fall verliebt und stellen seit drei Tagen die gute Stadt Stralsund und alle Welt auf den Kopf, um für diese gewisse Dame einzutreten? Nun, Lutz, ist das so oder ist das nicht so? Sage nur ja oder nein, ich brauche keine langen Erklärungen.«

»Bessy!« sagte ich bittend. »Es ist wirklich alles ganz anders. Du solltest nur einmal Frau von Lassenthin sehen –«

Aber sie ließ mich nicht zu Ende sprechen, sie unterbrach mich sehr zornig. »Wahrhaftig!« rief sie. »Ich hoffe, diese Dame recht bald einmal zu sehen, sehr, sehr bald, hoffe ich, und dann werde ich ihr sagen, was ich von ihr denke! Frau von Lassenthin – wahrhaftig!« Und sie schnaubte verächtlich mit der Nase.

»Es ist wirklich eine Frau von Lassenthin, Bessy«, sagte ich, um doch wenigstens etwas zu sagen. »Du kannst dich darauf verlassen.«

»Um so schlimmer!« rief Bessy. »Um so mehr Schande für sie. Sie hat ja ihren Gregor, soll sie mit dem glücklich oder unglücklich werden, aber dich soll sie zufriedenlassen.« Sie stand einen Augenblick atemlos da, und plötzlich weinte sie doch wahrhaftig los. Es war mir schrecklich peinlich, nie hatte Bessy vor mir geweint, seit unsern Kindertagen nicht mehr.

»Ach, Bessy«, sagte ich ganz verlegen. »Liebe, gute Bessy ...«

»Lassen Sie mich los!« rief sie voller Wut. »Lassen Sie mich auf der Stelle los! Bilde dir bloß nicht ein, daß ich etwa deinetwegen weine! Ich habe dich gut genug kennengelernt, in diesen drei Tagen. Du willst ein Mann sein? Auf einen Mann ist Verlaß – aber auf dich ist überhaupt kein Verlaß. Sooo egal sind Sie mir!«

Nach diesem Ausbruch – sie hatte doch wahrhaftig einen Versuch gemacht, nach mir zu schlagen, als ich sie tröstend umfassen wollte – zog ich es vor, zu schweigen. So standen wir wieder eine Weile still im Dunkeln. Allmählich hörte ich ihren Atem ruhiger gehen.

Schließlich sagte sie fast mit ihrer gewöhnlichen Stimme: »Wir werden uns also jetzt das Geld holen, aber ich helfe nur unter einer Bedingung.«

Ich hätte es am liebsten allein geholt, aber das konnte ich ihr im Augenblick nicht gut sagen. Ich fragte also: »Unter welcher Bedingung, Bessy?«

»Daß du damit schnurstracks von hier nach Strammin reitest und es restlos, ohne eine Mark für dich zu behalten, deinem Vater übergibst.«

Ich dachte einen Augenblick nach. »Es ist gut, Bessy, ich werde so tun, wie du sagst.«

»Du gibst mir dein Ehrenwort darauf, Lutz? Wie ein richtiger Freund seinem richtigen Freunde?«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort, Bessy.«

»Schön«, sagte Bessy in einem fast versöhnten Ton. »Hast du eine Ahnung, wie man hier ins Haus kommt?«

»Es muß eine Tür vom Garten her geben«, antwortete ich. »Geheimrat Gumpel ist neulich hier herum gegangen. Wir werden sie schon finden. Wir müssen nur ganz leise sein, damit wir Gregor völlig überraschen. Vor allem aber darf der Rauhbold uns nicht bemerken. Wenn wir erst bei Gregor drin sind, verwickle ich ihn in ein Gespräch, und du machst dich an den Tisch und nimmst das Geld fort, offen oder heimlich, es kommt gar nicht darauf an.«

»Einverstanden!« sagte Bessy.

So suchten wir also im Dunkeln nach der Tür. Das war nicht ganz so einfach, wie wir es uns gedacht hatten. Die Gartenfront von Ückelitz hatte überraschende Vorsprünge und Einbuchtungen. Ständig rannten wir gegen was an oder stießen ins Leere, man wurde ganz atemlos bei diesem blinden Gesuche. Einmal auch stürzte ich eine Kellertreppe recht derbe hinunter und landete unten, mit dem Kopf voran, gegen Holz, das dröhnte. Nun, ich habe einen soliden pommerschen Dickschädel, aber einen Augenblick war ich doch etwas benommen.

»Hast du dir etwas getan, Lutz?« rief Bessy von oben, in ihrer Angst viel zu laut.

»Ich selbst mir nicht«, brummte ich zurück. »Aber diese verdammte Tür hat mir eins gegen den Schädel gehauen ... Nun, jedenfalls haben wir hier endlich eine Tür, und offen ist sie auch.«

Ich hatte das kaum gerufen, da wurde über uns ein Fenster aufgerissen und eine mir nur zu wohlbekannte Stimme brüllte: »Du gottverdammter Lausekerl, dir werde ich beibringen, in meinem Garten Unfug zu stiften!«

Und – Puff! Puff! – wurden über unseren Köpfen die zwei Läufe eines Jagdgewehres abgefeuert. Ich sah das kleine Mündungsfeuer, ich hörte die Schrote über uns fortjagen und prasselnd in die Blätterwand des Parkes einschlagen. Natürlich hatte ich auch jene kleine, alberne Verbeugung gemacht, mit der jeder Neuling einen solchen über seinem Kopf abgeschossenen Schuß quittiert.

Jetzt war ich zornig, und zornig schrie ich zu dem Fenster hoch: »Unterlassen Sie auf der Stelle diesen gemeingefährlichen Unfug, Herr von Lassenthin! Wir werden uns auch ohnedies bei Ihnen melden, wir sind keine Einbrecher!«

Vom Fenster kam keine Antwort, ich glaubte aber zu hören, wie die Flinte frisch geladen wurde, und flüsterte Bessy erregt zu: »Komm schnell hierher zu mir ins Kellerloch! Er ist wahnsinnig genug, noch einmal zu schießen, weil er dich für – jemand anders hält! Mach zu, Bessy!«

Sie war gleich bei mir. Ich nahm sie bei der Hand und zog sie eilig in den Keller hinein. An der Wand tasteten wir uns weiter, stolperten über ein paar Stufen abwärts und gerieten in etwas, das nach dem Widerhall unserer Schritte ein langer Gang zu sein schien.

»Du hast wohl auch keine Streichhölzer bei dir?« fragte ich Bessy.

»Nein, Lutz, wie sollte ich –?«

»Siehst du!« sagte ich. »Mama hat also doch nicht ganz recht, wenn sie sagt, es sei immer ein Vorteil, ein Nichtraucher zu sein. Wäre ich Raucher, hätte ich jetzt Streichhölzer und könnte uns leuchten ...«

Aber vielleicht war es doch ein Vorteil. Denn plötzlich sahen wir einen rötlichen Schein aufblinken. Ich hatte gerade noch Zeit, Bessy in einen Seitenkeller zu reißen, da stürmte dicht an uns der Rauhbold vorbei, eine wüste Gestalt, das Nachthemd eilig in eine Hose gestopft, mit wehendem Bart, in der Hand eine Stallaterne, in der anderen seine Jagdflinte. Wirklich ein Nachtgespenst, mit dem man nicht nur Kinder graulich machen konnte. Schnaufend, röchelnd, prustend stürmte er vorbei, eine Tür klappte, und nun standen wir wieder im Dunkeln.

»Und was machen wir nun, Bessy?« fragte ich, nachdem sich mein eilig klopfendes Herz wieder etwas beruhigt hatte.

»Ja, was machen wir nun, Lutz?« fragte sie zurück. »Ich fürchte, für unsern Plan, Gregor zu überraschen, ist es doch etwas zu laut geworden.«

»Das fürchte ich auch«, sagte ich ein wenig kleinlaut. »Diese verdammte Kellertreppe, wenn ich sie nur nicht so hinabgeschossen wäre! Von daher kam alles Unheil. Fühl doch einmal nach meiner Stirn, ich fürchte, mir wächst da ein Horn, Bessy!«

Sie tat es, und ich empfand die Berührung ihrer kräftigen Hand als wohltuend. »Armer Lutz«, sagte sie, »ich fürchte, du wirst in den nächsten Tagen nicht gerade bezaubernd aussehen. Macht dir das viel aus?«

Ich überhörte den Spott in ihren Worten. »Man müßte etwas Kaltes auflegen, das hat Mama früher immer gemacht, wenn wir uns eine Beule gefallen hatten, weißt du noch, Bessy?«

»Natürlich weiß ich. Sie nahm immer ein breites Brotmesser – und wie schön das kühlte! Warte. Lutz« – sie nahm ihre Hand von meiner Stirn, und ich hörte sie im Keller herumsuchen –, »ich glaube, wir sind hier zwischen Flaschen geraten, und mit einer Flasche kann man eine Beule auch kühlen.«

»Deine Hand wäre mir lieber, Bessy«, wandte ich ein.

Aber diesmal überhörte sie mein Kompliment. Sie drückte mir solch ein dickes, kaltes und vermutlich völlig eingestaubtes Flaschending gegen die Stirn, und als ich unwillkürlich zurückwich, rief sie ungeduldig: »Halte doch still, Lutz! Ich tue doch wahrhaftig in größter Selbstentäußerung alles, um dir deine Schönheit zu bewahren, nun halte wenigstens still!« Und eine Weile später meinte sie tief gedankenvoll: »Nach der Flasche und dem Stanniol muß es eigentlich Rotwein sein ...«

»Meinst du, Bessy?« fragte ich, noch ganz interesselos.

»Häufiger«, sagte sie, »wenn sich Euer Liebden nur zu erinnern belieben, häufiger wird Rotwein innerlich als äußerlich angewendet. Ich wäre gar nicht abgeneigt –«

»Aber wir haben keinen Korkenzieher!«

»Nun, Lutz«, fragte sie wieder recht spöttisch, »solltest du all deine alten Künste vergessen haben? Mir ist doch ganz so, als hättest du früher einen Flaschenhals kunstgerecht auf einer Kellerstufe abschlagen können.«

Das war richtig, in jüngeren Jahren waren wir manchmal über die Weinvorräte unserer Herren Eltern geraten, und ich hatte mir da wirklich die von Bessy gerühmte Fähigkeit erworben. Ich hatte es zwar lange nicht mehr getan, aber gewisse Fähigkeiten verlernt man nicht so leicht, und keine drei Minuten, so gluckerte es erst bei mir (denn ich mußte probieren, ob es auch wirklich Rotwein und nicht irgendein gemeines Giftzeug war), dann tat Bessy ein paar zarte Schlückchen, dann gluckerte ich wieder, und nun wurde auch Bessys Schlucken etwas pommerscher ...

»Gott, tut das gut!« sagte sie dann mit einem tiefen Aufatmen. »Vorhin, als er schoß, war mir wirklich ganz kodderig im Leibe. Genauso wie damals, als beim Hasentreiben in Groß-Ellerau dieser verdammte Berliner Sonntagsjäger dem Treiber seinen ganzen Schrot in den Allerwertesten schoß. Es drehte sich alles in mir um, Lutz!«

»Aber jetzt ist uns beiden besser, Bessy! Da, es ist noch ein Schluck in der Flasche. Oder soll ich noch eine aufschlagen?«

»I wo! Wir wollen uns hier doch nicht mit Lassenthins Weinen beseufzen! So 'ne kleine Herzstärkung, wie mein Papa immer sagt, aber nicht mehr. Ist dein Herz jetzt so gestärkt, daß du mir sagen kannst, was wir nun tun sollen?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, meinte ich nachdenklich. »Ich nehme an, der Alte ist längst zu Gregor gestürzt und wird ihn bei seinen Reisevorbereitungen hübsch überrascht haben.«

»Das Geld wird aber kaum noch auf dem Tisch gelegen haben, dafür hat es vorher zu laut geknallt«, meinte Bessy ebenso nachdenklich.

»Na«, sagte ich, vom Wein besänftigt. »Mir ist schließlich die Hauptsache, daß er erst einmal nicht reisen kann.«

»Du vergißt«, widersprach Bessy, auf die der Wein entgegengesetzte Wirkung gehabt zu haben schien, »daß es mir furchtbar piepe ist, ob dieser Gregor reist oder nicht. Auf das Geld allein kommt es mir an, für das Geld bin ich deinen Eltern verantwortlich!«

»Nun, du hast selbst eben gesagt, daß das Geld längst verschwunden sein wird ...«

»Er soll es wagen, mir ins Gesicht zu leugnen, daß ich es ihm gegeben habe!«

»Er wird es gar nicht leugnen, bloß, er wird es dir nicht wiedergeben. Er wird tausend Ausflüchte haben.«

»Dann gehe ich eben zum Alten!« sagte Bessy, aber nicht ohne ein leises Zittern in der Stimme.

»Das ist nun das Allerverrückteste, was du tun kannst!« widersprach ich. »Im besten Falle schmeißt er dich einfach 'raus, wenn's nicht noch viel schlimmer kommt. Soviel ich weiß, hat der Rauhbold auf euch Schalenbergs eine ganz besondere Pieke!«

Wir stritten uns in aller Freundschaft noch eine ganze Weile darüber, was wir wohl zu tun hätten. Während dieses Streites ergab es sich ganz von selbst, daß ich nun doch noch einer zweiten Flasche den Hals abschlug: trockener Streit ist nichts Pommersches. Ein richtiger Streit muß reichlich angefeuchtet werden! Mit dieser Flasche zogen wir uns in den Hintergrund des Kellers auf eine kleine Stellage zurück und saßen da eng und verhältnismäßig warm nebeneinander. Ich bin ganz überzeugt, in dieser angenehmen Stimmung und Stellung hätte ich Bessy leicht von meinem Rechtskampf für die schöne Unbekannte und sogar von der Legalität meiner Gefühle für Catriona überzeugen können. Ich war schon bei der Einleitung dazu –

Da wurde es im Gang wieder hell. »Pssst!« machte Bessy. »Der Rauhbold kommt zurück.«

Wir machten keine großen Anstalten, uns zu verstecken, wir hatten auch keine Zeit mehr dazu. Außerdem rechneten wir darauf, daß er wie vordem an unserm Keller glatt vorbeilaufen würde. Leider hatten wir nicht damit gerechnet, daß auch Herr von Lassenthin manchmal, oft, sehr oft vom Durst geplagt war. Plötzlich stand er mit seiner Laterne in der Kellertür. Wir saßen am andern Ende im Schummern und drückten uns ziemlich eng aneinander, immer noch in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden (so wichtig es Bessy eben auch gehabt hatte, den alten Mann zu sprechen).

Aber da war diese verdammte leere Rotweinflasche auf der obersten Kellerstufe und die beiden abgeschlagenen Hälse! Natürlich trat der Rauhbold gerade da hinein. Er stieß einen wüsten Fluch aus und leuchtete die Scherben an. Ich sehe da sein wildes Löwenhaupt noch vor mir, rötlich angestrahlt, und so finster, so finster! Unter den buschigen Brauen hervor betrachtete er lange die Scherben und dann richtete er, als hätten sie ihm alles gesagt, was er wissen mußte, den Blick in den Winkel, in dem wir saßen. Ich stand sofort auf und sagte: »Lutz von Strammin, Herr von Lassenthin, wieder einmal.«

Er stand wortlos, ohne eine Bewegung. Ich hatte mich so vor Bessy gestellt, daß ich sie verdeckte. Ich hegte noch immer die Hoffnung, er habe sie nicht gesehen. Aber da knurrte er plötzlich: »Und das Frauenzimmer? Heh, hervor mit dem Frauenzimmer! Keine Zimperlichkeiten jetzt!«

Die Laterne in der erhobenen Faust, die Flinte am Riemen um den Nacken gehängt, leuchtete er in unsern Winkel. Das Nachthemd bauschte sich grotesk über der rutschenden Hose. Nein, bei weitem kein vergnüglicher Anblick – und doch kam er mir freundlicher als bei meinem ersten Besuch vor.

Auf seinen Anruf hin war Bessy neben mich getreten, sie hielt seinem musternden Blick mutig stand. Er betrachtete sie lange, dann sagte er brummig: »Das ist 'ne andere. Das ist ein richtiges pommersches Gesicht, so 'ne richtige pommersche Stopfgans!« Und direkt zu Bessy: »Was bist denn du für eine?«

»Eine Schalenberg, Herr von Lassenthin«, antwortete Bessy.

Der Rauhbold erheiterte sich sichtlich. »I den Donner!« rief er. »Eine Schalenberg, natürlich! Wo habe ich denn auch meine Augen? Ich hätt's gleich an dem verbogenen Riechkolben sehen müssen! Alle Schalenbergs haben Schnüffelnasen! Die geborenen Schnüffler! Schnüffler und Stänkerer, die ganze Rasse!«

Hier konnte ich mich nicht länger halten, ich rief: »Ich finde es nicht sehr anständig von Ihnen, eine junge Dame ohne allen Grund zu beleidigen, Herr von Lassenthin!«

»Gut gekräht, Gockel!« sagte er gleichmütig und schoß einen scharfen Blick unter seinen buschigen Augenbrauen hervor auf mich. »Aber jetzt halte den Schnabel, jetzt habe ich mit der da zu reden! – Wahrhaftig, eine Schalenberg zu Besuch auf Ückelitz! Der letzte von der Bande war – wartet einmal! – es muß neunundsechzig gewesen sein, das Jahr vor dem Kriege mit Frankreich ... richtig, neunundsechzig war der letzte Schalenberg zu Besuch auf Ückelitz, und ich habe ihn meine Freitreppe hinuntergeschmissen, wegen Schnüffelns und Stänkerns! Hohoho!« Der Alte lachte gewaltig, dröhnend fuhr das Gelächter von den Kellerwölbungen zurück. »Er brach sich ein Bein, der arme Junge, hohoho!« Und wieder lachte der Rauhbold.

»Das war mein Großvater«, sagte Bessy, als das Gelächterecho verhallt war, »und er war ein grundanständiger Edelmann, das wissen Sie auch recht gut, Herr von Lassenthin!«

»Schnattergänschen! Schnattergänschen!« rief der Rauhbold zufrieden. »Und dein Vater, dein Vater, du Schnattergänschen? Hat er dir auch erzählt, wie er mich um fünfzig Hektar schönsten Buchenwald betrogen hat?«

»Die Richter waren anderer Ansicht«, antwortete Bessy ungerührt. »Sie sprachen ihm den Wald zu und meinten, Sie hätten einen Betrugsversuch gemacht!«

»Ich sage es ja«, rief der Rauhbold, fast entzückt. »Ich habe es gleich an der Nase gesehen: alles Schnüffler und Stänkerer, diese Schalenbergs. Wie das Gössel schon stänkern kann, hol mich der Henker, das muß ihnen von der Eierschale her ankleben! – Und was willst du nun bei mir?«

»Mein Geld will ich von Ihrem sauberen Herrn Sohn! Oder vielmehr Herrn von Strammins Geld.«

»Ach, der Jungherr von Strammin braucht noch 'ne Bonne? So sieht er auch aus! Ein Muttersöhnchen, was, Fräuleinchen? Wird dir noch Sorgen machen, Mädchen! Alle zu weich, die Strammins, möchten am liebsten mit allen Freundschaft halten, so was taugt nichts. – Was ist das für ein Geld?«

Die letzte Frage hatte er in einem ganz anderen Ton hervorgestoßen, fast drohend. Aber während Bessy ihm mit ein paar Sätzen Bescheid gab, erhellte sich seine Miene wieder, ja, der Bericht schien ihn direkt zu erheitern. Er stieß abgerissene Sätze hervor wie: »Aha, hab ich mir gleich gedacht, die Schalenberg erledigt für den jungen Herrn die Geldgeschäfte, Bonne, ich sage es ja!« Oder: »Warum der Gregor ihm wohl nicht das Geld gegeben hat? Da stinkt's!« Oder: »Auf dem Tisch am Fenster? Alles Spione, Schnüffler und Spione! Fußangeln und Selbstschüsse werde ich legen, heute noch!«

So brummte er vor sich hin, und als Bessy fertig war, starrte er uns beide an, mit einem ganz unverschämten Grinsen: »Und was denkt ihr beiden Hübschen nun, was ich bei der Sache tun soll?«

Ich war froh, daß auch ich endlich ein Wort sagen konnte. Es kam mir doch gar zu jämmerlich vor, daß ich bisher der Bessy alles hatte überlassen müssen. »Sie brauchen gar nichts zur Sache zu tun, Herr von Lassenthin!« rief ich. »Lassen Sie uns nur zu Gregor hinauf, und ich werde mein Geld schon von ihm herauskriegen!«

»Hohoho!« lachte der Alte wieder gewaltig, und aus allen Ecken des Kellers hallte es »Hohoho!« zurück. »Und wer sagt dir denn, daß ich Gregor das Geld nicht gönne? Warum soll Gregor nicht von deinem Gelde einmal 'ne Reise machen? Wieso immer von meinem Geld? Ich finde, Gockel, du bist Gregor eine kleine Entschädigung schuldig, so intensiv, wie du dich in den letzten Tagen in seine Angelegenheiten gemischt hast!«

Der freche Hohn in seinen Worten verschlug mir fast die Rede. »So was werden Sie doch nicht tun!« stammelte ich. »Sie, ein Ehrenmann –«

»Ach, Papperlapapp, Ehrenmann!« rief er jetzt ungeduldig. »Die Hosen gehören dir strammgezogen, Junge!« Er wandte sich plötzlich an Bessy: »Und Sie helfen ihm noch bei seinen Zicken? Eine feine Braut sind Sie, das muß ich sagen.«

»Erstens bin ich nicht seine Braut«, antwortete Bessy ganz kühl. »Und zweitens habe ich das Versprechen von Herrn Strammin, daß er das Geld sofort seinen Eltern bringt.«

Wieder lachte der Alte dröhnend: »Ihr seid ja komisch! Keine Brautleute und dann so ein Versprechen? Da stinkt's auch schon wieder, bei euch stinkt's überall, an allen Ecken und Enden! Aber wissen Sie, ich werde Ihnen was sagen, Sie junge Gans aus Schalenberg: Ich werde Ihnen das Geld geben, und Sie werden mir versprechen, daß Sie es seinen Eltern geben, nur Sie, nur seinen Eltern! Einverstanden?«

Und er streckte ihr seine haarige Pranke hin.

»Einverstanden!« rief Bessy sofort und hatte schon eingeschlagen, ehe ich noch nein rufen konnte.

»So, mein Jungherr, das wäre erledigt«, grinste der Alte mich höhnisch an. »Und dann werde ich dem Gregor Geld geben, für eine lange Reise, damit hier endlich wieder Ruhe wird auf Ückelitz!«

»Jawohl!« schrie ich, maßlos erbittert von all den Demütigungen, die ich in dieser Unterhaltung schon erlitten. »Unterstützen Sie nur noch diesen Feigling, damit er auch sicher ausreißen kann vor den Ansprüchen einer schutzlosen, freundlosen, unglücklichen Frau!« Hier kicherte der Rauhbold höhnisch. Noch zorniger schrie ich: »Ruhe auf Ückelitz? Ich schwöre Ihnen, hier soll nicht eher wieder Ruhe herrschen, bis dieser Frau ihr Recht geworden ist! Und wenn der Gregor wirklich ausreißt, ich fahre ihm nach, ich suche ihn so lange, bis ich ihn vor meiner Pistole habe, und dann soll Ruhe werden, aber eine andere Ruhe, als Sie sich denken!«

Ich hatte meine letzten Worte richtig herausgebrüllt, ich mußte Atem schöpfen. Außerdem hatte ich alles gesagt, was zu sagen war.

Der Alte betrachtete mich einen Augenblick schweigend unter seinen düsteren Brauen hervor. Dann sagte er fast leise: »Kommen Sie einmal her, Schalenberg!«

Bessy trat zu ihm, er legte den freien Arm um ihre Schulter und leuchtete mich mit der Laterne an. »Sehen Sie ihn sich an, diesen Gockel«, sagte der Rauhbold immer noch ganz leise. »Für Sie hat er nicht so gekräht, als ich Sie beleidigte. Merken Sie sich das. Merken Sie sich das für Ihr Leben. Vergessen Sie ihm nie diese Beleidigung! – Nein, nein«, sagte er dann in einem ganz andern Ton. »Ich werde Ihnen das Geld doch besser allein anvertrauen, Fräulein von Schalenberg. Mit Ihnen, junger Gockel, rede ich später noch ein Wort.«

Damit hatte der alte Herr von Lassenthin mit unglaublicher Schnelligkeit Bessy vor sich her aus dem Keller geschoben und die Tür hinter sich zugeschlagen. Erst als der Schlüssel draußen rasselte, begriff ich, daß ich gefangen war, gefangen im Ückelitzer Weinkeller!


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