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2

Ich verliebe mich vom Fleck weg in die schöne Unbekannte und gerate in tausend neue Schwierigkeiten

 

Der »Halbe Mond« ist eines jener uralten Provinzhotels, in denen nun schon seit Jahrhunderten die Landgeschlechter vom Vater auf den Sohn abgestiegen sind, die mit den Vätern alt und mit der Jugend jung sein können. Denn sie scheinen sich geheimnisvoll zu erneuern und doch zu dauern wie ein Baum und ein Feld. In der holzgetäfelten, verräucherten Gaststube sind nun wohl breite Spiegelscheiben nach dem Markt durchgebrochen, aber noch immer rollt der Groschen, den man fallen läßt, nach der Fensterseite hin, ein Charakteristikum dieser alten Gaststuben, das ich immer festgestellt habe und nie erklären konnte.

Wir Strammins kennen natürlich in Stralsund nur dieses eine Hotel. Wir sind dort immer abgestiegen, und ich speziell werde dort stets wie der Sohn des Hauses empfangen, sei es von Herrn Ericke, dem Besitzer, oder dem dicken Portier, der den gut Rügenschen Namen Puttfarken führt.

Als ich an diesem Juniabend die Halle betrat, standen beide, Herr Ericke wie Puttfarken, hinter dem Empfang, und ich sah ihren Gesichtern auf der Stelle an, daß etwas nicht stimmte. Mit dem Rücken zu mir stand eine schlanke Frauenfigur in einem weißlichen, rohseidenen Staubmantel. Unter dem Reisehütchen sah ich nur eine Welle von entzückendem, dunkelblondem Haar. Neben der Dame stand ein recht kleiner Lederkoffer mit sehr vielen ausländischen, wie mir schien, italienischen Hotelzetteln.

Als die Schwingtür hinter mir zufiel, warf mir Herr Ericke einen begrüßenden Blick zu, der zugleich die Bitte zu warten enthielt. Sofort wandte er sich wieder an die Dame und sagte höflich, aber mit großer Entschiedenheit: »Es tut mir leid, gnädige Frau, aber wir haben wirklich nicht ein einziges Zimmer frei.«

Er warf einen Blick auf den rotgesichtigen Puttfarken, der mit wahren Kugelaugen und vorgeschobener Unterlippe die Dame anstarrte, und setzte hinzu: »Und es wird auch in den nächsten Tagen kein Zimmer frei, es ist alles vorbestellt.«

Ich, kaum einige Schritte entfernt, sah, wie die Dame verzweifelt mit der Schulter zuckte. Dabei bewegte sich das buschige Haar, und ein feines, fast durchsichtiges Ohr erschien. Die Dame sagte – und mein Herz fing zu klopfen an wie ein Schmiedehammer: »Aber ich muß ein Zimmer haben – in diesem Hotel. Ich habe hier eine Verabredung – in diesem Hotel!

Nie habe ich eine süßere Stimme gehört – ach was, süß. Süß ist kein Wort dafür. Sie war voll und weich, und sie drang bis in mein Herz. Ich hatte dies noch nie erlebt, und heute bin ich zu alt, um so etwas noch zu erleben – dies erlebt man nur einmal im Leben! Ich hatte ihr Gesicht noch nicht gesehen, aber schon nach dem Klang der Stimme sah ich es: den kleinen beweglichen, jetzt etwas hilflosen Mund, die feine Nase, das schmale Oval. Ich zitterte am ganzen Leibe, mir wurde heiß und kalt. Plötzlich begriff ich, daß die Welt, daß das Leben ganz, ganz anders waren, als ich bisher gedacht hatte. Papa und Mama waren so fern, und wo war Bessy oder Madeleine? Nur ich und diese Unbekannte, die mich noch nicht gesehen hatte!

Herr Ericke sagte mit der aufreizend stupiden Geduld jener Leute, die immer wieder das gleiche wiederholen müssen: »Ich bedaure außerordentlich, aber es ist wirklich unmöglich.«

Die Unbekannte sagte – und ich hätte Herrn Ericke zerfleischen mögen, daß er so unerbittlich blieb: »Aber es muß ein Zimmer hier für mich frei sein, es muß eins für mich bestellt sein.«

Herrn Erickes Miene spannte sich, er fragte: »Von wem bitte bestellt?«

Die Unbekannte zögerte – ich verging vor Spannung, ob sie den Namen nennen würde. Aber nach kurzem Besinnen sagte sie: »Von einem gewissen Rechtsanwalt Gumpel.«

Herr Ericke richtete sich straff auf. »Herr Geheimrat Gumpel hat hier kein Zimmer bestellt – nicht wahr, Puttfarken?«

Puttfarken grunzte: »Keine Idee!« und starrte wieder mit Kulleraugen.

Jetzt war mein Augenblick gekommen. Ich sagte: »Gestatten Sie einen Augenblick, gnädige Frau – mein Name ist Strammin, Lutz von Strammin. Oder vielmehr Ludwig ...« Ich verwirrte mich unter ihrem Blick. Sie sah genauso aus, wie ich es mir gedacht hatte, aber ich hatte ihre Augen vergessen, große, schöne, graue, ein wenig traurige Augen, in deren Tiefe es von Goldflittern blitzte. Ich raffte mich zusammen und sagte mit wachsender Begeisterung: »Ich kann alles erklären. Ich habe Herrn Geheimrat Gumpel soeben ins Bett gebracht. Er ist erkrankt. Über seine Erkrankung wird er die Zimmerbestellung vergessen haben –«

Plötzlich war ich leergelaufen, ich wußte nicht mehr weiter. Unbeholfen setzte ich hinzu: »Damit ist alles geklärt, nicht wahr?«

Und schwieg wieder. Alle drei sahen mich an. Jetzt hatte Puttfarken seine Kulleraugen auf mich gerichtet, seine Unterlippe stand ganz verblüfft vor. Herr Ericke betrachtete mich mit gerunzelter Stirn wie ein Vater, dessen Sohn eine unglaubliche Dummheit gemacht hat. Sie aber sah mich mit einem halben Lächeln an, ach, nur mit der Spur eines Lächelns! Und doch fühlte ich sofort, sie lachte mich nicht aus, sie mochte mich schon gern, so verdreckt und angesengt ich auch war. Wir würden die besten Freunde werden.

In die Stille hinein sagte Herr Ericke fast schneidend: »Diese Erklärung ändert aber nichts daran, daß jetzt in diesem Hotel kein Zimmer für die gnädige Frau frei ist.«

Die Betonung von »in diesem Hotel« brachte mein Blut zum Kochen. Dieser Dame gegenüber, dieser vollkommenen Dame gegenüber meinte Herr Ericke wohl die Reinheit seines Hauses verteidigen zu müssen? Ich hatte auch Geschwätz gehört – aber wenn ein alter Geheimrat bereit war, sich wunde Füße und einen Rausschmiß für diese Dame zu holen, wohlgemerkt, ohne sie gesehen zu haben, so war ich, der ich sie gesehen hatte, noch zu ganz anderen Dingen bereit.

»Sie irren sich, Herr Ericke«, antwortete ich mindestens ebenso schneidend. »Mein Zimmer ist bestellt und in diesem Hotel noch frei. Gnädige Frau, wenn ich Ihnen mein Zimmer anbieten darf?«

Sie machte eine kleine, zögernde, hilflose Gebärde – ich hätte ihr die Hände küssen mögen!

»Kein Wort weiter, gnädige Frau!« rief ich. »Dies war eine Selbstverständlichkeit!« Ich sah Herrn Ericke durchbohrend an. Er sah so verzweifelt aus, daß ich sofort wußte, er hatte diese Dame in seinem Hotel wirklich nicht aufnehmen wollen! Nun, jetzt hatte er sie darin, und ich würde dafür sorgen, daß sie darin blieb – gegen alle Erickes der Welt! »Mein altes Zimmer, Herr Ericke?« fragte ich noch schärfer. »Die Elf! Puttfarken, sehen Sie nicht, dort hängt der Schlüssel, und hier steht der Koffer – die gnädige Frau wünscht auf ihr Zimmer zu gehen!«

Das brachte Leben in den fetten Burschen! Er wagte gar nicht, seinen Chef anzusehen, griff sich Schlüssel und Koffer und ging zur Treppe voraus. Die schöne Unbekannte streckte mir die Hand hin: »Ich danke Ihnen, mein Herr«, sagte sie. Einen Augenblick lag ihre Hand, in einem hellen Handschuh aus Glacéleder, in meiner Pranke. Sie zögerte, lächelte wieder ein wenig. »Herr von Strammin, nicht wahr?« fragte sie.

»Lutz von Strammin, gnädige Frau«, sagte ich. »Und wenn gnädige Frau irgendwelche Schwierigkeiten haben oder meine Hilfe brauchen sollten, so stehe ich gerne jederzeit zur Verfügung, ich wohne doch in diesem Hotel!«

Dabei sah ich verachtungsvoll zu Herrn Ericke hinüber. Er erwiderte meinen Blick geradezu trostlos. Die Dame hatte mir noch einmal zugenickt und ging nun auf die Treppe zu. Ich sah ihr nach und schaute dann wieder Herrn Ericke an – weiß Gott, ich war heute schon zweimal Gockel genannt worden, es gelüstete mich wahrhaftig nach einem scharfen Kampf mit meinem guten, alten Ericke! Herr Ericke hob die Achseln und ließ sie wieder sinken, mit einer Gebärde völliger Verzweiflung. »Lutz«, flüsterte er – die Dame betrat eben die äußerste Stufe der Treppe –, »Lutz, Sie haben da mich und sich in des Teufels Küche gebracht. Das wird ein Geschwätz geben!« Er starrte mich an, und plötzlich, ich sah es ihm an, kam ihm ein neuer Gedanke an einen Ausweg. »Einen Augenblick, bitte, gnädige Frau!« rief er. »Ich habe noch die Eintragung ins Fremdenbuch vergessen ...« Dabei öffnete er den schweren, ledergebundenen Band und legte ihn aufgeschlagen auf den Empfangstisch. Die fremde Frau war erst einige Stufen der Treppe emporgestiegen; jetzt hielt sie inne und wandte sich zu uns zurück. Das Hallenlicht warf einen hellen Schein auf ihr süßes Gesicht ... Einen Augenblick dachte ich daran, was Gregor von diesem glatten Gesicht gesagt hatte. »Sie ist die geborene Lügnerin«, hatte er auch gesagt. Aber ich hatte Gregor immer gehaßt, und jetzt haßte ich ihn mehr, als ich je einen Menschen hassen würde.

»Bemühen Sie sich nicht, gnädige Frau!« rief ich, griff zur Feder und schmierte über die ganze Spalte: »Frau von Lassenthin.« Einen Augenblick überlegte ich, aber die Versuchung war zu groß: »Der Vorname bitte, Frau von Lassenthin?«

»Catriona«, flüsterte sie.

»Wie –?«

»Catriona mit einem C am Anfang ...«

»Tausend Dank! Catriona, ganz ausgezeichnet, Catriona!« Und ich schrieb weiter: »Aus München.« Dauer des Aufenthalts: »Länger.«

Es waren dies noch jene Zeiten eine ganze Weile vor dem ersten Weltkrieg, da eine solche Eintragung ins Fremdenbuch mehr eine gesellschaftliche als eine polizeiliche Angelegenheit war. »Ich danke Ihnen vielmals, gnädige Frau! Auch dies wäre nun erledigt.«

Sie verschwand über die Treppe, und ich konnte mich wieder Herrn Ericke zuwenden. »Würden Sie mir jetzt auch ein Zimmer geben, Herr Ericke?« fragte ich kühl. »Ich sehe, die zwölf ist noch frei. Ich bin dort der Dame am nächsten, falls ich gebraucht werde. Und schicken Sie sofort den Stallburschen mit den Satteltaschen zu mir, ich möchte mich jetzt ein wenig frisch machen.«

»Sie haben diese – Dame unter dem Namen Lassenthin eingetragen«, murmelte Herr Ericke verzweifelt. »Lutz, das bricht uns den Hals! Wenn diese Seite in meinem Gästebuch bleibt, bricht sie uns den Hals, mir bestimmt, Ihnen vielleicht. Und wenn ich sie ausschneide – nein«, sagte er mit einem energischen Kopfschütteln, »es ist noch nie eine Seite aus dem Gästebuch des ›Halben Mondes‹ ausgeschnitten worden.«

»Sehen Sie, Herr Ericke«, sagte ich, »jetzt besinnen Sie sich wieder auf sich und den Ruf Ihres Hauses. Die Dame ist nun Ihr Gast. Aber«, setzte ich rasch hinzu, »ich weigere mich, jetzt weiter mit Ihnen über diesen Fall zu reden. Ich bürge Ihnen für diese Dame, und wenn Herr Geheimrat Gumpel nicht krank geworden wäre, würde er in dieser Minute meine Bürgschaft unterstützen.«

Damit ergriff ich die Feder und setzte unter die soeben gemachte Eintragung meinen Namen mit dem Zusatz »als Begleiter der Vorstehenden«.

»Sind Sie nun zufrieden?« fragte ich, und da Herr Ericke es sichtlich nicht war, ging ich ohne ein weiteres Wort auf mein Zimmer. Ich mußte dabei an Zimmer elf vorüber, aber ich verwehrte es mir, stehenzubleiben und auf ein Geräusch zu lauschen. Erst als ich mich mit dem Inhalt meiner Satteltaschen ein wenig frisch gemacht hatte und mit Socken in einem Lehnsessel saß, auf das Putzen meiner Reitstiefel wartend, erlaubte ich es mir wieder, an meine schöne Unbekannte zu denken und ein wenig zu lauschen. Zwischen unsern beiden Zimmern gab es wie fast stets in solchen Provinzhotels eine große, dunkle, reichgeschnitzte Doppeltür, gegen die von meiner Seite ein Kleiderschrank gerückt war, der aber viel zu klein war, die Öffnung zu verbergen. Ich lauschte und lauschte, aber von drüben kam kein Laut, kein Plätschern von Wasser, kein Seufzer, kein Schritt.

Mein Blut war jetzt nicht abgekühlt, o nein! Ich war noch genauso begeistert von meiner schönen Unbekannten und jeden Augenblick bereit, ähnliche und größere Heldentaten für sie zu begehen. Aber ich mußte mir doch eingestehen, daß ich einiges getan hatte, das jetzt selbst mir bedenklich erschien. Wenn ich noch so sehr das Geschwätz verachtete, und wenn ich noch so fest auf das Eintreten des ehrenhaften Gumpel pochte, es erschien mir wenig wahrscheinlich, daß diese Dame eine verehelichte Lassenthin war. Gewiß, sicher hatte ihr der Lump von Gregor die Ehe versprochen, und ebenso sicher war sie jetzt hier, ihn beim Wort zu nehmen, aber darum war sie noch keine Lassenthin. Aber ich hatte sie als Frau von Lassenthin ins Gästebuch eingetragen, mit meinem Namen hatte ich für diese Eintragung gebürgt.

Wahrhaftig, der gute Ericke hatte recht, daß ich jetzt in des Teufels Küche saß. Ich war gezwungen, diese Eintragung wahr zu machen, und seit heute nachmittag wußte ich es mit aller Bestimmtheit, daß weder Gregor noch sein Vater im geringsten gesonnen waren, dieser Dame den Namen Lassenthin zu gehen. »Habt ihr das Frauenzimmer doch in mein Haus geschleppt!« hatte der Rauhbold gerufen, übrigens ein sehr viel gemeineres Wort – und: »Geben Sie ihr Geld, aber nicht zuviel, damit ich sie endlich loswerde«, hatte Gregor gesagt. Ganz schlechte Aussichten für die Rehabilitierung dieser Unbekannten! Aber ich hatte mich dafür verbürgt, mein Name stand als Unterpfand im Gästebuch des »Halben Mondes«.

Ich war längst aufgesprungen und im Zimmer auf und ab gegangen, jetzt blieb ich stehen. Ich erinnerte mich: Wie ich die Dame auf der Treppe mit dem Namen Lassenthin angerufen hatte, war sie ohne Zögern stehengeblieben. Dann hatte sie mir ihren Vornamen genannt: Catriona, ich hatte nie etwas Ähnliches gehört, so herrlich! Nein, sie mußte eine Lassenthin sein, oder sie mußte es wenigstens von sich glauben. Vielleicht hatte der Schuft von Gregor ihr so etwas eingeredet, es gab ja falsche Trauungen, in Deutschland zwar nicht, aber irgendwo im Auslande. Catriona, nein, diese Augen, dieser Mund konnten nicht lügen – ich würde es schon durchfechten, gegen die Lassenthins, gegen ganz Vorpommern, meinethalben gegen die ganze Welt!

Dann mußte ich plötzlich an Mama denken, wie stolz sie auf mich war und wie das kleinste Gerede über mich sie bekümmern würde! Nun, Mama hatte mir oft genug gesagt, daß ein Strammin nur nach seiner Ehre handeln solle, und wenn ich auf der Seite der Schwachen stand, wie der alte Geheimrat sich ausgedrückt hatte, war ich auf der richtigen Seite, der Seite der Ehre. Bessy – nun, Bessy hatte sich heute bereits in Madeleines Fall recht seltsam benommen. Darum tat es jedenfalls der Bessy recht gut, wenn sie erfuhr, ich sei noch nicht so unbedingt ihr Eigentum, wie sie anzunehmen schien.

Gottlob brachte der Friedrich jetzt die Reitstiefel, ich konnte endlich etwas für meinen Magen tun. Es war hohe Zeit. Ich fuhr in die Stiefel und wanderte trotz der hohen Zeit mit kräftigen Schritten ein paarmal in meinem Zimmer auf und ab, wobei ich stark hustete. Aber drüben regte sich nichts. So ging ich hinunter in den Speisesaal. Ich mußte dabei wieder durch die Halle, wo jetzt Puttfarken allein stand. Bei meinem Anblick legte er seine Hand wie einen Schalltrichter um den Mund und flüsterte mir zu – wir waren übrigens völlig allein in der Halle –: »Sie hat 'nen Brief an den Geheimrat Gumpel geschickt.« Ich nickte nur kurz. Aber Puttfarken war noch nicht zu Ende: »Und sie will nischt essen, gar nischt, auch nicht auf'm Zimmer.« Ich tat, als hätte ich nichts gehört, und trat in den Speisesaal.

Der Speisesaal war nur mäßig besetzt – wenn das Hotel wirklich voll war, so waren die meisten Gäste wohl schon im Theater oder im Ratskeller oder im Troubadour, einem gemäßigt mondän aufgezogenen Nachtlokal, oder im Café Kahnert, dem Café Stralsunds. Ich sah ein paar bekannte Gesichter, aber es waren nur halbbekannte, gegen die ich keine Verpflichtung als die eines kurzen Grußes im Vorübergehen hatte. So ging ich rasch an einen Ecktisch, setzte mich an diesem Tage zum erstenmal behaglich in den Winkel und bestellte mir zu einer Flasche Rheinwein ein Abendessen, wie es meinem Hunger angemessen war: Vorgericht, Suppe, Fischgang, Geflügel, ein doppeltes Rumpsteak und mindestens eine dreifache Portion süße Speise. Ich hatte mich kaum jemals zuvor auf ein Essen so gefreut.

Während ich mich eifrig durch diesen Aufmarsch von Herrlichkeiten hindurchaß, überlegte ich, was ich nun als erstes noch an diesem Abend erledigen mußte. Am liebsten wäre ich im Hotel geblieben, als Wache vor Zimmer elf. Die Nachrichten von Puttfarken hatten mich mit neuer Besorgnis erfüllt: Wenn es der Geheimrat Gumpel war, mit dem die schöne Unbekannte – Catriona! – ein Treffen im »Halben Mond« verabredet hatte, so würde sie an diesem Abend und in den nächsten Tagen kaum auf den alten Herrn, ja nicht einmal auf eine Beantwortung ihres Briefes rechnen können. Wenn sie aber auf meinen Onkel Gregor wartete, und es konnte ja sehr wohl Gumpels Auftrag heute nachmittag gewesen sein, Gregor von Lassenthin für diesen Abend zu einer Rücksprache ins Hotel zu bestellen, so hatte sie eine Wache vor ihrem Zimmer noch nötiger. Und dann – daß sie nichts aß! Jeder Mensch aß zu Abend, ich hatte tausend Schwierigkeiten, aber ich hätte noch ganz gut ein zweites solches Rumpsteak essen können! Es mußte sich nur einer finden, der ihr gut zuredete.

Aber dann dachte ich doch wieder an meinen Weizen. Es wurde nun wirklich Zeit, daß ich mich um meine Fuhrwerke kümmerte. Es war ganz unverständlich, warum nicht wenigstens eine Botschaft für mich hier im Hotel bereit lag. Junghanns wußte doch, daß wir immer hier absteigen. Allmählich wurde mir klar, daß wirklich etwas mit meinen Fuhrwerken passiert sein mußte, und vierhundert Zentner Weizen, nun, so ohne weiteres konnten wir Strammins jetzt kurz vor der Ernte nicht auf sie verzichten. Ich würde in den »Alten Fuhrhof« gehen müssen, wo unsere Wagen immer ausspannen, und schlimmstenfalls noch zur Brigg Svionia und dem Kapitän Ole Pedersen. Oder auch zu unserm alten Getreidehändler Kalander. Alles in allem eine Sache von höchstens zwei Stunden. Um halb zwölf würde ich wieder im Hotel sein. Ich sagte dies dem Portier Puttfarken und trat auf den Alten Markt hinaus.

Nach dem abendlichen Gewitterguß war die Luft frisch, ich atmete sie in tiefen Zügen ein. Hinter der prächtigen gotischen Schauwand ihres Rathauses, die sich die Stralsunder von 16 000 Mark feinem Silber Lösegeld für 24 im Jahre 1316 gefangene pommersche und mecklenburgische Ritter gebaut haben, stand schon der Mond und warf sein Licht durch ihr Maßwerk. Klotzig ragte daneben der nie vollendete Nordturm von St. Nicolai empor. Die Leute gingen plaudernd über den Marktplatz, der Laut ihrer Schritte hallte angenehm wider: Man hörte es diesen Lauten an, wie schön es war, an solchem Juniabend spazierenzugehen und zu plaudern. Aus den offenen Fenstern der Konditorei drang Geigenmusik.

Plötzlich empfand ich, wie allein ich war – an diesem schönen Abend. Auch ich hätte jetzt gern mit jemandem spazieren und plaudern mögen! Ich wandte mich um und sah zu den Fenstern des »Halben Mondes« empor. Jawohl, Nummer elf war beleuchtet. Ich dachte sie mir dort, in einem Sessel sitzend, ganz allein, vor sich hin sinnend, keinen Freund in Stadt und Land, das hilflose Opfer widerlichen Geschwätzes. An wen dachte sie? Auf wen hoffte sie? Gregor –? Ich schüttelte mich. Arme Frau, dachte ich, arme Catriona ...

Dann fiel mir plötzlich ein, daß während meines Abendessens ein paar Tische weiter der Major von Brandau gesessen hatte. Brandau war Polizeimajor von Stralsund, und wir jungen Leute hatten schon ein paarmal Zusammenstöße mit ihm gehabt. Der Major fand, wir nahmen uns etwas viel heraus in der guten, alten Hansestadt – nämlich dann, wenn wir einen sitzen hatten. Sicher war Herr von Brandau ein Mann von Verdiensten, leider war er aber auch ein Mann ohne Humor. Er hielt es für ein Staatsverbrechen, wenn wir nächtlicherweise das Schild der Hebamme Kakeldütt mit dem des Pastors Friesicke vertauschten – und es war doch nur ein sehr dummer Jungenstreich.

Nun also, dieser Brandau hatte ein paar Tische weiter bei seinem Burgunder gesessen, sehr flott mit seinem langausgezogenen Kavalleristenschnurrbart, und Herr Ericke hatte sich dann zu ihm gesetzt. Die beiden hatten lange miteinander geflüstert, und jetzt, hinterher, kam es mir ganz so vor, als hätten sie dabei ein paarmal zu mir herübergesehen. Komisch, daß mir dies erst jetzt auffiel, aber als es geschah, war ich wohl zu stark von der Stillung meines Hungers in Anspruch genommen. Jetzt war ich fast sicher, daß die beiden über die schöne Unbekannte gesprochen hatten und daß sie Übles gegen sie planten.

Ich steckte den Kopf wieder durch die Schwingtür des Hotels: Die Halle war leer bis auf Puttfarken, der, eine Brille auf seiner roten Nase, Zeitung las. »Ist Major von Brandau noch hier?« rief ich Puttfarken zu.

»Spielt mit den Herren Menzel und Henneberg Billard, Herr von Strammin!«

»Danke!« sagte ich und marschierte eilends zum »Alten Fuhrhof«.

Ich will nicht in allen Einzelheiten die Suche nach meinen Weizenfuhrwerken schildern, genug, auf dem »Alten Fuhrhof« wußten sie nichts von ihnen. Und, was schlimmer war, man hatte nichts von ihnen gehört. Es gab da eine ganze Menge Fuhrwerke im Ausspann, auch einige aus unserer Gegend, aber meine Leute schienen wie fortgeblasen, keinerlei Kunde.

Ernstlicher besorgt lief ich zum Hafen hinunter und fragte mich nach der Svionia durch. Ich stolperte und rief dunkle Schiffe an, von denen mir endlich ein verschlafener Wachtmann verdrossen falsche Auskunft gab. Schließlich lag die schwedische Brigg direkt vor dem Speicher unseres altgewohnten Getreidekaufmanns Kalander; es würde morgen verdammt unangenehm sein, vor der Nase Kalanders den Weizen dem Ole Pedersen zu geben – wenn es überhaupt etwas zu verladen gab. Jetzt hatte ich wirkliche Sorgen, es war mir allgemach klargeworden, daß ich an diesem Tage meine Pflichten als Transportführer sträflich vernachlässigt hatte.

Auch die Svionia war verlassen. Der Wachtmann wußte nicht, wo ich den Kapitän finden könnte, und ich hatte nicht die geringste Neigung, ihn in einem Dutzend zweifelhafter Hafenkneipen zu suchen, um ihn schließlich »Hinter der Mauer« zu finden, damals der anrüchigen Gasse Stralsunds. Aber bei unserm alten Kalander brannte noch Licht auf dem Kontor, ich faßte mir ein Herz, stieß die Tür auf und trat ein.

Es war wirklich der alte Kalander selbst, der dort, glattrasiert und wie aus Buchsbaumholz geschnitzt, über seinen Büchern hockte und den Blick seiner alten Augen mit einem milden Lächeln auf mich richtete. »Nun, Herr von Strammin, noch so spät am Abend unterwegs? Ist das Geld für einen kleinen Nachtbummel etwa knapp geworden?« Und er griff lächelnd nach einer kleinen, eisernen Handkasse, die stets in seiner Nähe stand.

Obwohl in meiner Kasse tiefe Ebbe herrschte, wehrte ich stolz ab. Die Wahrheit zu sagen, hatte der Ankauf des Fäßchens Bier und der vier Flaschen Korn in Nipperow die mir von Papa mitgegebene Reisekasse bis auf ein paar Mark erschöpft. Aber das machte mir keine Sorge. Im »Halben Mond« schrieb man an, morgen bekam ich das Geld für den Weizen, und vor allem pumpte ich mir kein Geld von Kalander, dem wir eben diesen Weizen nicht geben wollten. Denn Herr Kalander ist ein stolzer Mann, ein wahrer Nachfahr jener alten Stralsunder Kaufherren, die sich noch »Krämer« nannten und selbstbewußt an ihr Kirchengestühl schrieben:

Dat ken Kramer ist, de blief da buten,
Oder ick schla em up de schnuten.

»Nein, danke vielmals, Herr Kalander«, sagte ich eilig. »Darum würde ich Sie wirklich nicht mehr so spät stören. Die Wahrheit ist, ich war mit einem Weizentransport nach Stralsund unterwegs, und ich fürchte, ich habe meine Leute samt und sonders verloren.«

Kalander zuckte natürlich nicht, er ist einiges von Landlieferungen gewöhnt. Es ist eben immer ein Festtag, wenn man nach oft monatelanger dörflicher Abgeschlossenheit wieder einmal in die Stadt kommt, und Festtage wollen gefeiert werden! Er fragte vorsichtig dies und jenes und meinte dann schließlich: »Ich würde Ihnen vorschlagen, Herr von Strammin, daß wir einmal den Gendarmerieposten in Nipperow anrufen. Wenn wirklich etwas passiert ist, weiß man dort am ehesten Bescheid!«

»Großartig, Herr Kalander!« rief ich. »Daß ich nie an das Telefon denke! Aber Sie wissen ja, Mama duldet solch Ding nicht im Hause. Bei Inspektor Hoffmann hängt natürlich eines, aber wir benutzen es nie. Mama schreibt auch nie eine Postkarte, sie findet Postkarten und Telefon gewöhnlich.«

Herr Kalander lächelte: »Nun, Frau von Strammin hat natürlich von ihrem Standpunkt aus recht. Aber in dem jetzigen Falle wäre ein Telefon vielleicht doch angenehm?«

»Ich sagte es schon, Herr Kalander, ausgezeichnet! Aber – wenn Sie sich all diese Mühe machen, ich muß Ihnen gestehen, der Weizen, den ich bringe, ist nicht für Sie bestimmt.«

»Aber das weiß ich doch«, sagte Kalander und hatte während meiner Worte schon das Gespräch nach Nipperow angemeldet. »Alle liefern augenblicklich an den ollen Schmuggler, den Pedersen, ich doch auch! Ich habe ihm über zweitausend Zentner verkauft, und ich habe sogar schon mein Geld dafür, und das ist mehr, als mancher in der nächsten Woche von sich wird sagen können!«

»Ist er denn wirklich ein Schmuggler, Herr Kalander?«

»Natürlich ist er das, wie könnte er sonst solche Preise zahlen? Nicht bei uns in Deutschland natürlich, aber ich glaube, den Englishman legt er recht häufig und recht gründlich herein! Nun, das geht uns nichts an, solange wir nur unser Geld kriegen. Wenn ich Ihnen da etwa behilflich sein darf, Herr von Strammin? Er hat nämlich so seine Mucken, der Pedersen, namentlich wenn er einen in der Krone hat, und er hat eigentlich immer einen in der Krone, das heißt, es gibt auch da Unterschiede ...«

Gottlob, jetzt klingelte das Telefon! Ich hatte es wirklich über, ewig vor diesem Pedersen gewarnt zu werden. Was Bessy und Kalander geschafft hatten, würde ich auch schaffen, ich war fest entschlossen, die angebotene Hilfe Kalanders nicht anzunehmen.

Das Telefongespräch überließ ich ihm aber lieber doch, ich bin nicht sehr versiert im Telefonieren, ich glaube, ich schreie zu sehr. Nachher tat es mir aber leid, daß ich nicht selbst gesprochen hatte. Ich saß wie auf Kohlen dabei, das Buchsbaumgesicht Kalanders wurde recht ausdrucksvoll, der andere sprach immerzu ...

»Oh, oh, oh!« sagte jetzt Kalander. Und nun: »Nein, wirklich? Es ist doch nicht die Möglichkeit! Diese Kerls!« Und jetzt wieder: »Was Sie nicht sagen? Sechse – sechse im Spritzenhaus?«

Ich wußte es ja nun schon, es war verdammt schiefgegangen, meine vier Flaschen Korn lagen mir wie vier Zentner auf der Seele, und ich verfluchte meine jugendliche Unbesonnenheit und Pflichtvergessenheit.

Zum Schluß aber beruhigte sich das Gespräch merkwürdig. Wenn Herr Kalander jetzt »Nein, wirklich?« sagte, klang es so, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Zwar blieb mir sein Schlußsatz »Wahrhaftig, ein fabelhaftes Mädchen!« ganz unverständlich – denn was hatte ein Mädchen mit meinem Weizen und meinen Knechten zu tun? -, aber ich sah doch, es war alles nur halb so schlimm.

»Ja, Herr von Strammin«, sagte Kalander, nachdem er sich noch höflich für die ausführliche Auskunft bedankt und angehängt hatte. »Das ist noch einmal gut abgegangen. Sechse von Ihren Kerls sitzen zwar noch im Spritzenhaus und halten Nipperows Einwohnerschaft mit Gesängen munter, aber morgen früh wird alles wieder in bester Ordnung sein, und gegen Mittag können Sie Ihren Weizen hier am Hafen in Empfang nehmen!«

»Aber um Gottes willen, Herr Kalander, was ist denn eigentlich passiert? Es war doch nur eine halbe Tonne Bier und vier Flaschen Schnaps, die ich spendiert hatte, das tut doch einem Pommern nichts!«

»Abgewandelt möchte ich sagen«, meinte Herr Kalander lächelnd, »Korn am Morgen bringt Kummer und Sorgen, Korn am Abend erfrischend und labend –«

»Ach, spannen Sie mich nicht auf die Folter!« rief ich. »Was brauche ich jetzt weise Sprüche? Ich weiß es schon selber, daß ich eine Mordsdummheit begangen habe. Die Kerls haben eben weitergetrunken.«

»Richtig! Und dann sind die Bauernjungen von Nipperow dazugekommen, und es hat ein bißchen Hechelei gegeben und sehr viel mehr Korn ...«

»Und dann natürlich eine Schlägerei?«

»Die noch nicht, Herr von Strammin, die kam erst danach. Vorher haben sie in aller Freundschaft ein kleines Reit- und Fahrturnier veranstaltet. ›Wie der Herr, so's Gescherr‹«, meinte Herr Kalander. »Was machen denn Sie, wenn Sie zusammenkommen? Sie führen einander die Pferde vor, und jeder hat die besten. Die Stramminer Füchse sind natürlich viel besser als die Schalenberger Rappen –«

»Sind sie auch!« rief ich hitzig. »Sie mögen viel von Getreide verstehen, Herr Kalander, aber von Pferden haben Sie keine Ahnung! Die Stramminer Füchse ...«

»Eben, eben!« sagte Herr Kalander beruhigend. »Das haben Ihre Knechte auch gesagt. Mit den Nipperower Bauerngäulen könnten sie noch zehnmal antreten –«

»Das können sie auch! Ach, wäre ich nur dabeigewesen!«

»Sehen Sie, dann ist ja alles in Ordnung, Herr von Strammin! Ein paar von Ihren Knechten hatten natürlich schon einen sitzen –«

»Sie hatten ja auch viel früher angefangen zu trinken als die Nipperower!«

»Und da sind sie von den Gäulen gefallen. Die wollten sie nicht mitgewertet haben, und die Nipperower wollten sie mitwerten –«

»Die Hundsfötter! Ich hätte nur dabeisein sollen, die Stramminer Füchse sind unschlagbar!«

»Nun, deswegen haben sie sich schließlich geschlagen, und es wäre wohl Mord und Totschlag daraus geworden, wenn nicht das Fräulein von Schalenberg dazugekommen wäre ...«

»Wer?« fragte ich und platzte innerlich vor Wut.

»Das Fräulein von Schalenberg, Elisabeth, Bessy wird sie ja wohl genannt«, sagte Herr Kalander ganz harmlos, als hätte er noch nie etwas von Bessy und mir reden gehört. »Nun, die ist gründlich dazwischengefahren, der Gendarm war voller Bewunderung. Vier Mann hat sie eigenhändig ins Spritzenhaus abgeführt, und den andern hat sie den Schnaps gesperrt.«

»Wirklich tüchtig!« murmelte ich. »Na ja, ich werde morgen früh zeitig nach Nipperow hinausreiten und die Kerls selber auf den Schwung bringen.«

»Ich glaube, Herr von Strammin«, sagte Kalander, »Sie können sich diesen Morgenritt sparen, Sie nehmen den Weizen am besten mittags hier am Hafen in Empfang.«

»Einmal und nicht wieder, Herr Kalander«, sprach ich entschlossen. »Nie wieder lasse ich die Kerls allein fahren.«

»Aber an sich hatte diese kleine Reitkonkurrenz doch Ihre Billigung?«

»An sich, natürlich. Aber doch nicht besoffen, Herr Kalander! Nein, ich hole die Leute. Ich werde hier schon um drei oder vier Uhr morgens abreiten.«

»Dann werden Sie sich in Nipperow gleich bei Fräulein von Schalenberg bedanken können. Sie hat nämlich dem Gendarmen erklärt, sie wolle den Weizen persönlich hierher nach Stralsund bringen.«

Jetzt kochte ich vor Wut bald über! Die Art, wie sich Bessy in meine Angelegenheiten mischte, ging mir doch etwas zu weit! Ich konnte es mir wohl vorstellen, mit welcher Verve sie meine betrunkenen Knechte ins Spritzenhaus abgeführt hatte! Da hatte ich am Boden gelegen, schwärmerisch das Hasenlied dudelnd, meine Pflichten vergessend, sie aber – oh, nicht auszudenken!

»Diesen Weg werde ich der energischen jungen Dame doch lieber abnehmen!« sagte ich ein wenig steif.

Herr Kalander machte eine Bewegung durch die Luft, als verscheuche er eine lästige Fliege. »Natürlich, natürlich«, sagte er. »Die junge Dame wird es auch wohl nur für den Fall gesagt haben, daß Sie nicht kommen.«

»Ich aber komme!« sagte ich, stand auf und verabschiedete mich mit Dank von Kalander.

Es war erst dreiviertel zehn, ich ging langsam zurück zum Hotel, ich hatte es nicht eilig. Plötzlich dachte ich gar nicht mehr so sehr an das Zimmer elf im »Halben Mond«, ich hatte entdeckt, warum Bessy am Nachmittag in Nipperow aufgetaucht war. Sie war auf dem Wege nach Strammin gewesen, um die kleine Madeleine Thibaut zur Rede zu stellen. Natürlich! Und nun waren ihr die Knechte mit ihrem Reitturnier dazwischengekommen, Bessy hatte dringende Abhaltung gehabt, und Madeleine war nicht zur Rede gestellt worden. Gesetzt nun den Fall, ich ließe meiner energischen sogenannten Braut den Willen und sie brächte morgen vormittag meine Weizenkolonne selbst nach dem Hafen – dann würde sie auch morgen nicht mehr nach Strammin kommen! Und übermorgen war ich selbst wieder daheim, ein Schutz und Schild aller Bedrängten!

Es ging mir seltsam in diesen Tagen, wie es mir vorher noch nie gegangen war: Alle Augenblicke änderte sich die Lage, alle Augenblicke wurden die festesten Vorsätze umgestürzt. Ich, der immer genau gewußt hatte, was ich tun mußte, der Richtig von Falsch genau unterscheiden konnte, wußte nun überhaupt nichts mehr. Eben war mir der Gedanke noch unerträglich gewesen, daß Bessy sich in meine Geschäfte einmischte, und nun dachte ich schon mit einer geradezu lächelnden Schadenfreude: Mach das nur, bring du nur die Gespanne in den Hafen, dünke dich mir hundertfach überlegen, du bist doch die Reingefallene!

Es kam mir komisch, es kam mir seltsam vor, daß ich so über Bessy denken konnte, sie war doch immer mein bester Kamerad gewesen. Lag es nun am Mangel an innerer Ehrlichkeit, lag es nun an meinem Mangel an Klugheit: ich kam gar nicht darauf, darüber nachzudenken, warum ich plötzlich so verändert für Bessy fühlte. Bei dem ersten Nachdenken hätte ich doch sofort auf den Namen Catriona von Lassenthin stoßen und hätte mit Schrecken entdecken müssen, welchen Weg ich eingeschlagen hatte. Die Geliebte eines anderen, im besten Fall die Frau eines andern – und ich, ein Strammin, besinnungslos in sie verliebt, besinnungslos alle alten Ehrbegriffe vor dieser zweifelhaften Göttin opfernd! Aber wen die Götter lieben lassen, dem legen sie Blindheit über die Augen, eine wundervolle Blindheit, von der die ganze Welt verwandelt wird, und so blind ging auch ich zurück zum »Halben Mond«.

In der Elf brannte noch immer Licht, aber auch in der Zwölf war es hell, und ich wußte genau, vorhin war die Zwölf dunkel gewesen. Ohne ein Wort stürmte ich durch die Halle, an Puttfarken vorbei, sprang die Treppe hinauf, lief an ihrer Tür vorüber und trat in mein Zimmer ein.

Herr Major von Brandau stand aus meinem Sessel auf: »Da haben wir ja nun endlich den jungen Herrn von Strammin«, sagte er nicht ohne Liebenswürdigkeit. »Guten Abend, Herr von Strammin! Sie verzeihen, daß ich Sie so spät noch fünf Minuten in Anspruch nehme. Herr Ericke, Sie lassen uns jetzt bitte einen Augenblick allein. Ich verständige Sie dann später.«

Herr Ericke schob sich mit einem beinahe schuldbewußten Blick auf mich aus der Tür.

»Mein lieber junger Herr von Strammin – zuerst einmal meine Bitte um Entschuldigung, daß ich mich hier in Ihrem Zimmer so häuslich niedergelassen habe. Sie sehen, ich habe meine Zigarre geraucht, und meinen Burgunder habe ich hier auch getrunken. Darf ich Ihnen übrigens ein Glas einschenken?«

»Ich danke vielmals, Herr Major von Brandau.«

»Aber setzen wir uns doch, mein junger Freund!« (Ich hasse es, mit »mein junger Freund« angeredet zu werden.) »Zuerst möchte ich betonen, daß ich vorläufig nicht in meiner amtlichen Eigenschaft mit Ihnen rede, sondern als ein väterlicher Freund gewissermaßen, der Sie und Ihr Haus vor übler Nachrede bewahren möchte.«

»Herr Major von Brandau«, sagte ich ziemlich hitzig, »unser Haus hat sich stets ohne väterliche Freunde von übler Nachrede frei gehalten! Und ich mich auch!«

Der Major lachte: »Nicht so hitzig, mein Junge! Reiten Sie nicht los, ehe Sie nicht wissen, wohin die Reise geht!«

»Oh!« rief ich. »Ich weiß schon, wohin die Reise geht, und wenn dahin geritten werden soll, werde ich verdammt hitzig reiten, Herr Major!«

Herr von Brandau strich sich seinen Schnurrbart und lächelte, wie mir schien, amüsiert. »Nun«, sagte er, »vielleicht werden Sie noch entdecken, Herr von Strammin, daß auch ich für meine Jahre noch recht forsch reiten kann, wenn auch nicht hitzig. Nun aber zur Sache!«

»Aha, zur Sache, forsch oder hitzig!« rief ich spöttisch.

Er warf mir erst einen ärgerlichen Blick zu, besann sich dann aber, beugte sich plötzlich vor und fragte mich fast flüsternd: »Was wissen Sie von der Dame hier drüben« – er deutete mit dem Kopf – »in Zimmer elf?«

»Nichts, Herr Major von Brandau«, sagte ich und sah ihn fest an.

Er war überrascht. »Ich glaube, mein junger Freund –«, fing er an. Aber er besann sich sofort, er war viel klüger (und gefährlicher), als ich gedacht hatte. »Ich sehe schon, diese Anrede paßt Ihnen nicht, und sie ist wirklich eine Nachlässigkeit von uns älteren Leuten. Sie werden das nicht mehr von mir hören.« Er schlug die Beine übereinander, trank einen Schluck Rotwein und sagte: »Sie sagen, Sie wissen nichts ...«

»Nichts, Herr Major ...«

»Herr Ericke hat mir gesagt, Sie hätten die Dame als eine Frau von Lassenthin ins Gästebuch eingetragen.«

»Vollkommen richtig, Herr Major.«

»Also müssen Sie doch wissen, daß diese Dame eine Frau von Lassenthin ist?«

»Wenn Sie, Herr Major, einer Dame als Major von Brandau vorgestellt werden, so wird sie glauben, daß Sie der Major von Brandau sind.«

»So«, meinte der Major nachdenklich, »man hat Sie also mit dieser Dame als mit einer Frau von Lassenthin bekannt gemacht?«

»Wenn Sie«, begann ich von neuem, »von der Bahn eine Ihnen unbekannte Dame abholen sollen, Sie erhalten die und die Beschreibung, Sie begrüßen die Dame, und es zeigt sich, sie ist die Erwartete –«

Ungeduldig sagte der Major: »Was soll dies Gerede? Selbstverständlich habe ich nie von Ihnen erwartet, daß Sie Einsicht in die Papiere dieser Dame nahmen!«

»Dies Gerede soll Ihnen beweisen, daß man sehr wohl von einer Dame nichts wissen kann und sie doch in ein Gästebuch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit als die und die eintragen kann.«

»Sie waren also darauf vorbereitet, diese angebliche Frau von Lassenthin hier im Hotel zu treffen?«

»Keineswegs!«

»Aber ...« Der Major war jetzt wirklich verdrossen geworden. »Mir scheint, Herr von Strammin, das Kurze und Lange von dieser Sache ist, daß Sie mir nichts erzählen wollen, obwohl Sie bestimmt etwas wissen?«

»Ich glaube kaum, daß ich etwas weiß. Jedenfalls würde ich nie ohne das Einverständnis dieser Dame über sie reden, verhandeln, Mitteilungen machen.«

»Der Kavalier, wie er im Buche steht!« lächelte der Major, war aber doch ein wenig rot geworden. »Herr von Strammin, ich darf Ihnen keinen Rat erteilen, aber ich darf Sie vielleicht darauf hinweisen, daß dies auch im besten Falle eine sehr, sehr unangenehme Sache ist. Sie werden sich und den Ihren manchen Kummer ersparen, wenn Sie sich rechtzeitig zurückziehen. Überlassen Sie die Regelung dieser Angelegenheit doch den wirklich Betroffenen! Warum wollen Sie sich hineinmischen?«

Es war mir, als hörte ich die Stimme des alten Geheimrats Gumpel: »Lutz, mein Junge, eine schlimme, schlimme Sache!«, als hörte ich wieder seine Befürchtung, mich in diese Sache hineingezogen zu haben – der Major meinte es bestimmt nicht böse mit mir. Aber dann dachte ich an jene Szene, die sich vor gut drei Stunden in der Hotelhalle abgespielt hatte. »Herr von Brandau«, sagte ich, »als ich heute abend in die Halle kam, stand Frau von Lassenthin vor Ericke und seinem Portier wie eine Verfemte, und so wurde sie auch angesehen und behandelt. Kein Mann von Ehre hätte dies geduldet. Es gibt für mich kein Zurück mehr.«

»Verzeihen Sie mir eine Bemerkung«, sagte der Major und legte mir dabei sachte die Hand auf die Schulter, »nach allem, was man hört, ist es nicht ganz sicher, daß es sich hier um eine Frau von Ehre handelt.«

Wütend schüttelte ich die Hand ab. »Sehen Sie dieser Dame nur ins Gesicht, Herr Major von Brandau, und Sie werden nicht noch einmal eine derartige Bemerkung machen!«

Herr von Brandau sah mich einen Augenblick verblüfft an, dann lachte er plötzlich leise auf. »Ich verstehe!« rief er wirklich erheitert. »Jetzt verstehe ich Sie! Kommen Sie, Herr von Strammin, begleiten Sie mich!«

Ich war sehr zornig, ich fragte: »Wohin denn begleiten?«

»Nun, nach Nummer elf, zu der Dame, der ich ins Gesicht schauen soll.«

Unwillig rief ich: »Sie können nicht jetzt, nach elf Uhr, eine Dame in ihrem Zimmer stören!«

Der Major nahm meinen Arm. »Reden Sie keinen Unsinn, Strammin. Ich mache der Dame keinen Besuch, sondern ich suche sie in amtlicher Eigenschaft auf. Ich nehme Sie nur mit, Ihnen zu zeigen, daß ich auch in amtlicher Eigenschaft eine Dame als Dame behandele.«

Damit hatte er mich auf den Gang gezogen und auch schon an die Tür geklopft. Zu meiner Überraschung wurde sofort mit »Herein« geantwortet. Wir traten ein.

Frau von Lassenthin saß, genau wie ich sie in der Hotelhalle gesehen, mit dem weißlichen Staubmantel und dem Reisehütchen in einem Sessel. Nur die Glacéhandschuhe hatte sie neben sich auf den Tisch gelegt, auf dem das Tintenfaß und die Briefmappe des Hotels lagen. Der Koffer ruhte ungeöffnet auf seinem Ständer. Seit ihrer Ankunft schien ihre einzige Tätigkeit darin bestanden zu haben, den Brief an Geheimrat Gumpel zu schreiben und auf Antwort zu warten, die von dem kranken Mann nicht kommen konnte. Ihr Gesicht drückte äußerste Anspannung und dabei eine unerschütterliche Geduld aus. Als wir eintraten, hatte sie wohl jemand anders erwartet, aber sie zeigte keinerlei Überraschung. Ihre trübe Haltung veränderte sich nicht, als Herr von Brandau sich vorstellte und seine amtliche Eigenschaft auseinandersetzte. »Herrn von Strammin kennen Sie bereits?«

Sie richtete einen Moment ihren Blick auf mich, und mir war, als lächle sie mir leise zu. »Herr von Strammin hat sich mir vorgestellt«, sagte sie dann kurz. Ich sah wieder: Ihre Haltung, ihre Sprache waren völlig damenhaft. Es war nichts Gekünsteltes, Unechtes an ihr, sie war eine Dame.

»Gnädige Frau«, sagte der Major eilig, »ich möchte es schon der späten Stunde wegen kurz machen. Herr von Strammin hat Sie in das Gästebuch dieses Hauses als Frau Catriona von Lassenthin eingetragen. Auf mein Befragen hat Herr von Strammin mir zugegeben, er habe Sie nicht persönlich gekannt, nehme aber mit Bestimmtheit an, aus Gründen, die er mir nicht mitteilen wollte, Sie seien Frau von Lassenthin. Ich hoffe, ich habe Ihre Mitteilungen richtig wiedergegeben, Herr von Strammin?«

»Vollkommen, Herr Major.«

»Gnädige Frau, Sie haben dieser Eintragung nicht widersprochen – Sie sind also Frau von Lassenthin?«

»Selbstverständlich.«

»Und gnädige Frau haben zweifelsohne das eine oder andere Papier bei sich, durch das Sie Ihr Recht auf diesen Namen belegen können?«

»Ich habe kein derartiges Papier bei mir.«

Eine tödliche Stille entstand. Frau von Lassenthin hatte bei ihrer Antwort nicht aufgesehen, sie zog ganz mechanisch ihre Handschuhe durch die Finger. Der Major stand einen Augenblick schweigend da, er kaute an seiner Lippe. Dann sagte er: »Wie ich vom Hotelportier höre, haben gnädige Frau einen Brief an den Geheimrat Gumpel geschrieben. Kennt der Geheimrat Sie?«

»Nein. Ich habe ihm nur einmal vor meiner Reise hierher geschrieben.«

»Und ihm Mitteilung von Ihren Angelegenheiten gemacht?«

»Vollkommen richtig.«

»Unter Beifügung von Unterlagen?«

»Meine einzige Unterlage war der Hilferuf einer verlassenen Frau.«

Vielleicht klingt dies so hingeschrieben ein wenig pathetisch. Aber sie sagte es nicht pathetisch, sie sagte es ganz schlicht und einfach, sie sah nicht einmal zu uns auf dabei.

Ich weiß nicht, was der Major sich dabei dachte. Jedenfalls muß ich ihm zugeben, daß er ohne alle Schärfe sagte: »Herr Gumpel ist aber jedenfalls auf Ihren Ruf nicht gekommen?«

Sie antwortete: »Ich bin es seit langem gewöhnt, alleinzustehen.«

Aber nun entschloß ich mich, ich sagte hastig: »Gnädige Frau, ich sagte schon unten am Empfang, Sie werden es überhört haben, daß Herr Geheimrat Gumpel heute abend schwer erkrankt ist. Ich selbst habe ihn nach Hause und in sein Bett gebracht. In seiner letzten klaren Minute wollte er mir noch einen Auftrag geben. Ich bin überzeugt, er betraf Sie, gnädige Frau. Er kam nicht mehr dazu.«

Frau von Lassenthin sah zu mir auf. »Es scheint, Herr von Strammin«, sagte sie sanft, »daß Sie vom Himmel zu meinem Retter in der Not bestimmt sind. Ich danke Ihnen.«

»Hören Sie, Strammin«, sprach der Major jetzt etwas schärfer, »es kommt mir doch so vor, daß Sie etwas mehr von dieser Angelegenheit wissen, als Sie mir vorhin erzählen wollten. Herr Gumpel hat also über die gnädige Frau mit Ihnen gesprochen?«

»Kein Wort.«

»Herr von Strammin!« Der Major schrie das fast. »Wie kommen Sie dann zu der Annahme, Gumpel habe Ihnen im letzten Augenblick noch einen Auftrag an Frau von Lassenthin geben wollen?«

Sie (die ich innerlich nur noch Catriona nannte) sah mich ebenso gespannt an wie der Major, und unter ihrem Blick verlor ich so weit die Besinnung, daß ich sagte: »Weil ich mit Herrn Gumpel auf Ückelitz gewesen war.«

In demselben Augenblick durchfuhr es mich eisig, was für eine unglaubliche Torheit ich eben gesagt hatte. Alles hätte ich erzählen dürfen, nur nichts von meinem Besuch bei den Lassenthins, wo nur Ungünstiges, Gemeines über diese unglückliche Frau gesagt worden war.

»Nun ist es heraus!« rief der Major. »Nun werden wir die Sache sofort haben! Warum haben Sie nur so lange geschwiegen, Herr von Strammin?«

Auch Frau von Lassenthin war aufgestanden. Die Hand auf die Sessellehne gestützt, sah sie mich an und fragte in einem ganz seltsamen Ton: »Sie waren auf Ückelitz –?«

Aber jetzt hatte ich meine Vernunft wieder beisammen. Ich mußte retten, was noch zu retten war, es war wenig genug. Weder der Polizeimajor noch Frau von Lassenthin, diese am wenigsten, durften je erfahren, was auf Ückelitz gesagt worden war.

»Ich habe eine Indiskretion begangen, ich bedaure«, sagte ich fest. »Ich habe Herrn Gumpel versprechen müssen, nichts von dem zu sagen, was auf Ückelitz gesprochen wurde.«

Frau von Lassenthin sah mich mit großen Augen an und setzte sich still wieder in den Sessel. Ich fühlte, sie ahnte schon, was dort gesprochen worden war.

Auch Herr von Brandau war klug genug, zu erraten, daß nur Unerfreuliches geredet worden war, sonst wäre solch Schweigegebot ja ziemlich sinnlos gewesen. Er sagte verdrossen: »Und Sie sagen, Gumpel liegt krank, besinnungslos? Wie lange wird das denn dauern?«

»Wie soll ich das wissen, Herr Major? Ich habe nicht einmal eine Ahnung von der Art seiner Erkrankung.«

Der Major stand stumm im Zimmer. Er sah zu dem gesenkten Haupt der Frau hinüber, dann wieder zu mir. Ich fühlte, er kämpfte mit sich. Und ich rechnete ihm das hoch an, denn ich sah es selbst, die Sache der schönen Unbekannten stand vorläufig schlecht, sehr schlecht.

»Gnädige Frau«, sagte er dann, »ich will das Äußerste tun, ich will von dieser ganzen Unterredung morgen nichts mehr wissen. Aber ich erlaube mir einen Rat: Geben Sie hier Ihre exponierte Stellung auf, ziehen Sie sich in die äußerste Stille zurück, bis es Ihnen möglich ist, Ihre Ansprüche besser zu beweisen.«

Sie sah mit einem trüben Lächeln zu ihm auf. Dann breitete sie plötzlich die Arme auf, die Handflächen ausgestreckt, als gebe sie sich gefangen.

»Herr Major«, sagte sie dann, »ich bin so hilflos oder auch so schamlos geworden, daß ich es offen vor zwei Fremden ausspreche: Ich kann von hier nicht fort, ich besitze nicht einen Pfennig mehr, mir einen Bissen Brot zu kaufen. Ich warte auf meinen Mann.«

Mein Herz pochte wie rasend, ich hätte ihr zu Füßen stürzen und rufen mögen: Vertrau dich mir an, Catriona!

Der Major riß verzweifelt an seinem Schnurrbart. »Ich höre nichts, gnädige Frau!« sagte er entschlossen. »Ich weiß nichts. Vielleicht bin ich morgen schon gezwungen, gegen Sie vorzugehen, geben Sie sich nicht in meine Hand!« Er wandte sich zur Tür. »Ich gehe jetzt, aber wieder nicht ohne eine Bitte. Ich weiß, es wäre nutzlos, Herr von Strammin, Sie jetzt aufzufordern, mit mir zu gehen. Gnädige Frau, ich bitte Sie: Schicken Sie ihn fort! Er ist der Sohn einer unserer besten Familien – ach, sehen Sie ihn doch selbst an, schicken Sie ihn fort!«

Sie ging rasch an mir vorüber, ohne mich anzusehen. Sie bewegte sich so leicht, jede Bewegung zitterte vor Leben – o Gott, wie schön war sie damals!

»Herr Major, ich werde Ihnen wieder etwas sagen, was keine Frau sagen sollte: Ich bin so arm geworden, arm an wahrer Liebe, arm an Selbstlosigkeit, Opfermut, Edelsinn, daß ich nicht den Mut aufbringe, einen Ritter, der für mich eintreten will, fortzuschicken. Herr von Strammin«, sagte sie und wandte sich mir zu, »Sie können gehen und Sie können bleiben. Wenn Sie bleiben, habe ich Ihnen nichts zu bieten für alles, was Sie hier für mich tun werden, nichts, als was ich trage: Verlassenheit und Verachtung. Gehen Sie, Herr von Strammin!«

»Sie wissen, daß ich bleibe, daß es gar keine Wahl gibt«, antwortete ich.

»Verteufelt, ich wußte es ja!« schrie der Major und lief aus dem Zimmer.

Zum erstenmal standen wir uns allein gegenüber.

Nach einer Weile Schweigen faßte sie vorsichtig mein Kinn und richtete mein Gesicht auf. »So habe ich denn einen Ritter«, sagte sie mit einer seltsamen Stimme, als spräche sie im Traum. »Ich habe als Mädchen immer davon geträumt, daß ich einen Ritter haben würde. Du kommst sehr spät.«

»Nicht zu spät«, sagte ich. »Ich weiß es.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie, plötzlich mutlos, ging von mir fort und setzte sich wieder in den Sessel. »Wie heißen Sie, mein Ritter? Ich kann Sie doch nicht Herr von Strammin anreden.«

»Ich heiße Lutz. Und Sie heißen Catriona.«

»Ja«, sagte sie nachdenklich, »endlich heiße ich wieder einmal Catriona – wie in meinen Mädchentagen. Es war nur ein Einfall, Ihnen gerade diesen halbverschollenen Namen von der Treppe her zuzurufen, Ihnen, einem Unbekannten. Sie verstehen, Lutz, Catriona heißt etwas Stolzes und Einsames, ich war einmal sehr stolz. Er hat mich immer nur Käthchen genannt, Käthchen heißen alle.«

»Ja, Käthchen heißen alle«, antwortete ich. »Aber Sie sind Catriona!«

Ich wollte über diesen Mann nicht mit ihr sprechen, ich wollte nicht einmal von ihm hören.

»Vielleicht werde ich wieder Catriona«, sagte sie nachdenklich. »In der letzten Zeit hoffte ich es manchmal. Aber dann sieht alles wieder trostlos aus, als sollte ich auf ewig Käthchen bleiben.«

»Nein!« rief ich. »Sie waren es nie, und Sie werden es nie sein.«

Sie sah zu mir hin, ganz leise fragte sie: »Sie kennen Herrn von Lassenthin?«

Ungeschickt wich ich aus: »Es gibt hier in der Gegend viele Lassenthins, ich bin selbst ein halber.«

Sie beharrte: »Ich meine Gregor von Lassenthin.«

»Ja«, gab ich widerwillig zu. »Er ist sogar mein Onkel, aber wir machen beide keinen Gebrauch davon.« Als ich sie unter diesen bösen Worten zusammenzucken sah, schämte ich mich. Ich rief: »Ich bin ein schlechter Ritter, das hätte ich nicht sagen dürfen. Es tut mir leid.«

Es war ihr nicht anzumerken, was sie empfand. Sie warf den Kopf zurück, sie sagte: »Und nun werden Sie mir erzählen, was Sie heute auf Ückelitz erlebt haben.«

Ich rief: »Kein Wort werde ich Ihnen davon sagen, ich bin zum Schweigen verpflichtet.«

»Ich kann nicht warten, bis dieser Herr Gumpel gesund wird. Ich habe schon zu lange gewartet.« Leiser: »Ich dachte immer, er würde sich besinnen, er würde von selbst kommen.« Sie sah mich an. »Ich sitze hier ohne einen Pfennig Geld, und ich habe Verpflichtungen ...« Ein wenig Rot stieg in ihre Wangen, sie sah seltsam verändert aus, fast glücklich. Aber das verging, sie sagte rasch: »Sie werden mich doch nicht bitten lassen, Lutz? Ich muß wissen, was heute auf Ückelitz gesprochen wurde.«

»Erlassen Sie es mir!« bat ich. »Soll denn mein erster Dienst für Sie sein, Ihnen weh zu tun? Catriona, was soll ich Ihnen denn noch sagen, was Sie nicht schon wissen?«

»Es ist gut«, sagte sie. »Sie haben recht, Lutz, es kommt nicht auf die Worte an. Nur das eine bestätigen Sie mir: Er ist jetzt auf Ückelitz?«

Ich nickte nur.

»Und er weiß, daß ich hier auf ihn warte, aber er kommt nicht«, sagte sie leise. »Er war immer feige. Er versteckt sich und denkt, der Sturm geht vorüber.« Sie hatte dies mehr zu sich gesagt, ganz schlicht, auch die bösen Worte über ihn hatten nicht böse geklungen, nur so, als wiederholten sie etwas längst Bekanntes. Nun sah sie mich mit einem halben Lächeln an: »Nun, wenn er nicht zu mir kommt, so werde ich zu ihm gehen müssen. Wollen Sie mich auf den Weg bringen, Lutz?«

Ich fuhr vor Schreck zusammen. »Das ist ganz unmöglich, Catriona! Sie dürfen nie und nimmer nach Ückelitz! Sie ahnen nicht, was Sie dort erwartet.«

Fast verächtlich fragte sie: »Glauben Sie, daß auch ich feige bin? Ich nicht, ich gehe.«

»Es ist unmöglich!« sagte ich hastig. »Es ist ein reiner Zufall, daß sein Vater mich nicht umgebracht hat. Er kennt sich selbst nicht in seinem Zorn, ich sage ja, er ist wie ein wildes Tier. Er heißt in der Gegend nur der Rauhbold. Niemand will mit ihm zu tun haben, niemand kommt noch zu ihm. Oh, haben Sie doch Geduld, Catriona! Gumpel wird morgen oder übermorgen schon auf den Beinen sein, ich schwöre Ihnen, ich bringe ihn eigenhändig hierher!«

Sie sah mich an. »Ich glaube«, sagte sie, »ich verhandele lieber mit dem wilden Tier, dem Vater, als mit dem Sohn. Sie vergessen, daß ich Rechte habe, oh, nicht für mich, andere Rechte, heiligere Rechte« – wieder das rasche Rot –, »und daß ich mich nicht noch einmal täuschen lasse. Wenn sein Vater so ist, wird Gregor in Angst vor ihm leben, aus Angst wird er nie meine Rechte anerkennen wollen. Nein, gerade mit dem Vater werde ich reden!«

»Es kann nicht sein!« wiederholte ich. »Sie glauben vielleicht, er schont Sie, weil Sie eine Frau sind? Sie irren sich! Er schlägt Sie schon nieder, ehe Sie noch das erste Wort gesprochen haben.«

»Sparen Sie sich alle Worte, Herr Strammin«, unterbrach sie mich. »Ich gehe nach Ückelitz. Sie brauchen mich natürlich nicht zu begleiten, jeder Mensch wird mir den Weg dorthin zeigen.«

»Ich werde Sie begleiten, Catriona!« rief ich. »Denken Sie etwa, ich habe Angst für mich? Aber Sie, Sie ... Nein, es ist unmöglich! Ich bin nicht feige, aber ich werde Sie zurückhalten, und sei es mit Gewalt.«

»Sie vergessen, wer Sie sind, Herr von Strammin«, sagte sie kalt. »Sie haben kein Recht, anzunehmen, ich sei gänzlich ohne Stolz. Ich gehe unter allen Umständen – und zwar ohne Sie!«

»Oh, Catriona!« rief ich. »Verzeihen Sie mir doch! Ich habe nie gedacht, daß Sie ohne Stolz wären. Ich habe bis heute früh geglaubt, ich sei stolz, aber mein Stolz war nichts, nur Einbildungen, Überkommenheiten. Sie haben den echten Stolz, den Stolz des Menschen, der frei ist, lehren Sie ihn mich! Ich bin noch so jung ...«

Ich schämte mich nicht: Ich war vor sie hingefallen, ich hielt ihre Hände, ich streichelte sie krampfhaft.

»Oh, mein Ritter«, sagte sie. »Stehen Sie auf. Sie dürfen nicht so vor mir knien. Mein Stolz ist so oft verwundet, davon bin ich ungerecht geworden. Wir werden sehen, was wir tun. Ich will auch auf Sie hören –«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Ich fuhr aus meiner knienden Stellung auf und verbarg mein Gesicht. Sie saß aufgerichtet im Sessel, schon hatte sie wieder die Handschuhe zwischen den Fingern, glättete sie. Sie rief »Herein!«, ihre Augen lagen gespannt auf der Tür, sie lauschte, ihr Mund war halb geöffnet ... Liebt sie ihn denn wirklich noch?, dachte ich plötzlich in schmerzender Eifersucht.

Aber es war nur Herr Ericke, der eintrat. Der Mann sah grau aus, ich merkte ihm an, wie erregt er war, aber er sagte mit leidlicher Beherrschung: »Gnädige Frau, verzeihen Sie die späte Störung. Auch Sie bitte ich um Entschuldigung, Herr von Strammin. – Gnädige Frau, besondere Umstände zwingen mich, noch in dieser Stunde über dies Zimmer hier anderweitig zu verfügen. Darf ich Sie bitten, es zu räumen?«

Sie sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. »Es ist fast Mitternacht. Eine ungewöhnliche Stunde, eine Dame auf die Straße zu schicken, nicht wahr?«

Herr Ericke hatte schon den Koffer gefaßt. Ohne sie oder mich auch nur anzusehen, antwortete er mit einem gewissen Trotz: »Je weniger über diese Sache gesprochen wird, um so besser.« Er schickte sich an zu gehen.

Ich trat ihm in den Weg. »Einen Augenblick, Herr Ericke«, sagte ich. »Es ist Ihnen doch wohl klar, daß diese Dame nur mit mir Ihr Haus verläßt? Sie werden auch meine Sachen nach unten schaffen müssen.«

Herr Ericke atmete schwer. Dann hatte er sich entschlossen: »Ich würde es von Herzen bedauern, Herr von Strammin, aber auch in diesem Fall müßte meine Entscheidung unverändert bleiben.«

»Herr Ericke!« rief ich. »Besinnen Sie sich! Auf ein Geschwätz hin wollen Sie eine Dame um Mitternacht auf die Straße jagen? Nun, wenn Sie das tun, so wird es ein solches Geschwätz über Sie und Ihr Haus geben, daß Sie kaum noch jemanden auf die Straße zu setzen haben werden!«

»Das ist möglich«, antwortete Herr Ericke mit einem dünnen Lächeln. »Aber ich werde es auf diese Möglichkeit hin wagen.« Und er schickte sich an zu gehen.

»Herr von Strammin«, rief mich Frau von Lassenthin leise an. Ich trat zu ihr. Sie flüsterte: »Würden Sie die Güte haben, das Zimmer hier für mich zu bezahlen? Sie verstehen, ich will nicht aus diesem Hause gehen, ohne daß das Zimmer bezahlt ist.«

So zornig ich war, es kam mich beinahe ein Lachkrampf an. »Ich hoffe, es geht noch«, flüsterte ich zurück. »Ich habe nur noch ein paar Mark in der Tasche. Aber ich denke, sie werden reichen.«

Sie lächelte zurück. »Irrender Ritter«, flüsterte sie.

»Ganz so«, antwortete ich, und wir folgten Herrn Ericke, der von der Tür her mit mißtrauischen, mißbilligenden Blicken unser Geflüster beobachtet hatte. Es gab noch einen Aufenthalt an meiner Stubentür. Ich stopfte eilig alles herumliegende Zeug in meine beiden Satteltaschen, die ich über meinen Arm hing.

»Meinen Alex werde ich bis morgen früh in Ihrem Stall stehenlassen müssen, Herr Ericke«, sagte ich, wieder auf den Flur hinaustretend. »Ich hoffe, Sie erlauben mir wenigstens das.«

»Sie wissen sehr gut, Herr von Strammin, wie gern ich auch den Herrn des Alex als Gast behalten hätte«, antwortete Herr Ericke mit so aufrichtiger Trauer, daß ich meine boshaften Worte bedauerte.

Aber unten in der Halle gerieten wir beide dann doch wieder in Streit. Herr Ericke weigerte sich energisch, eine Rechnung für das Zimmer von Frau von Lassenthin auszufertigen. Es sei tatsächlich nicht benutzt und die besonderen Umstände ... Und ich, der ich ganz ungewiß über die Zahl der Markstücke in meiner Tasche war, mußte aufs entschiedenste auf diese Rechnung bestehen! Das sei eine neue Kränkung durch Herrn Ericke ...

Schließlich gab er nach. Sicher war es nicht Bosheit von ihm, sondern einfach Hotelroutine, daß er, nun einmal beim Schreiben, auch meine Rechnung ausfertigte. Ich sah sein Beginnen starr vor Schreck an. Ich hatte ungewöhnlich üppig zu Abend gegessen, die Bezahlung auch dieser Rechnung lag außerhalb jeder Möglichkeit! Aber konnte ich denn, nach allem Vorangegangenen, Herrn Ericke gestehen, daß weder Frau von Lassenthin noch ich im Besitz irgendwelcher nennenswerter Geldmittel waren? Was für ein neues, zweifelhaftes Licht wurde dadurch auf meine Dame geworfen! Gottlob merkte Frau von Lassenthin nichts von meinen Nöten. Sie besah, wie ich durch einen raschen Umblick feststellte, gerade die Fahrpläne der Rügendampfer.

So schob ich denn mit kurzem Entschluß die auf meinen Namen ausgefertigte Rechnung an Herrn Ericke zurück: »Dies ist Sache meines Vaters, in dessen Geschäften ich hier bin.« Dann fingerte ich aus meiner Tasche vier Markstücke – gottlob, es waren vier, nicht nur drei, wie ich gefürchtet hatte – und sagte: »Den Rest wollen Sie bitte Puttfarken geben. – Ist es Ihnen jetzt recht, gnädige Frau?«

Die Satteltaschen über dem Arm, ihren Koffer in der Hand, verließ ich hinter Frau von Lassenthin durch die Schwingtür den »Halben Mond«. Herr Ericke sah uns halb finster, halb traurig nach. Ich bin überzeugt, er war zehnmal verzweifelter als wir. So hatte er wohl noch nie Gäste aus seinem Haus gesandt. Das mußte ihm ja das Herz brechen!


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