Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Elftes Kapitel.
Anfang mit Streit

Trotz der quälenden Träume wachte Doll frisch und ausgeruht auf, und wie am Vortage verwendete er alle Mühe auf seine Säuberung, damit er nicht durch störende Gedanken an ein ungepflegtes Äußeres gehemmt werde. Er hoffte sehr auf einen Erfolg des geplanten Weges: daß ihm nicht wieder so ein kleiner tyrannischer Bonze wie auf dem Wohnungsamt allen Mut nehmen werde.

Doll war bei seiner Lektüre am Vorabend des öfteren der Name eines Mannes in der Zeitung begegnet, dessen er sich sogar noch aus den vornazistischen Zeiten erinnerte. Diesen Mann, den er von Angesicht zu Angesicht allerdings nur selten gesehen hatte, der aber manches seiner Bücher als Lektor eines großen Verlagshauses betreut hatte, diesen Mann namens Völger wollte er aufsuchen, und er hoffte sogar, ihn auf der Redaktion jener Zeitung zu finden.

Doll fuhr gerade in die Ärmel seines geliehenen Sommermantels, da klingelte es heftig, fünf-, sechsmal an der Eingangstür, und als er dem so stürmisch Einlaß Begehrenden die Tür öffnete, stand niemand anders vor ihm als seine eigene Frau, die Alma –! Sie trug in jeder Hand eine vollgestopfte Einholtasche und über dem Arm noch Kleider und Rockartiges, und ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, daß sie keineswegs fröhlicher Stimmung war.

Doll, der doch das Kommen seiner Frau schon am vergangenen Abend gefürchtet hatte, stand ihr jetzt ganz verblüfft gegenüber. Seine Zeitungslektüre und der geplante Gang zum Lektor Völger hatten bewirkt, daß er an diesem Morgen kaum an seine Frau gedacht hatte und gar nicht an ihr Kommen. »Du, Alma –?!!!« sagte er also wie aus allen Himmeln gefallen.

»Ja, ich, Alma!!!« äffte sie ihm mit zornigem Spott nach. »Und wenn es auf dich ankäme, wäre ich bestimmt noch nicht hier, sondern läge weiter Wochen und Wochen im Krankenhaus! (Willst du vielleicht endlich die Flurtür zumachen und mir was von meinen Sachen abnehmen –?!!! Du siehst doch, ich habe alle Hände voll!) Das ist ja ein großartig gehaltenes Versprechen, wenn du diesen jungen Arzt gegen mich aufhetzt! Und dann läßt du dir von einem solchen Kerl noch Zigaretten schenken – na, danke!«

Bei diesen heftig und böse hervorgestoßenen Worten war sie ihm voraus ins Zimmer gegangen. Jetzt stellte sie achtlos ihre Taschen ab, warf ihr Kleiderzeug über einen Stuhl und setzte sich in einen Sessel. Gleich aber war sie wieder hoch, holte aus der Tasche ein Päckchen und brannte sich eine Zigarette an. Trotz ihres Zornes bewies sie, daß kameradschaftlicher Geist bei ihr nichts Angelerntes, Künstliches war, denn sie hielt ihm sofort die Packung hin und sagte einladend: »Bitte!«

Doll, der am gestrigen Abend zu seinem eigenen Ärger dem jungen Arzt die Zigarette nicht abgeschlagen hatte, tat es jetzt – wieder falsch! – bei seiner Frau und sagte zornig: »Ich habe den jungen Arzt nicht gegen dich aufgehetzt! Außerdem habe ich mir von ihm nicht Zigaretten schenken lassen, sondern habe auf sein dringendes Bitten aus reiner Höflichkeit eine einzige genommen!«

»So –?« fragte sie zornig zurück. »Und von mir nimmst du keine? Freilich, zu der eigenen Frau braucht man nicht höflich zu sein. Dann bringt man es auch ohne weiteres fertig, hinter ihrem Rücken und gegen ein fest gegebenes Versprechen, den Arzt zu überreden, daß er mich noch wer weiß wie lange im Krankenhaus behält.«

»Ich habe dir nichts Derartiges versprochen! Du aber hast mir fest versprochen, nicht eher von dort fortzugehen, bis wir mit dem leitenden Arzt gesprochen hätten!«

»Siehst du, da sagst du es selbst: Wir wollten mit dem Chefarzt reden, du aber gehst hin und steckst dich hinter den Stationsarzt! Natürlich! Dir kam es vor allen Dingen darauf an, daß ich dort blieb! Vermutlich kannst du mich hier nicht gebrauchen –!«

»Alma –!« sagte Doll leise. »Alma, wir wollen uns nicht streiten. Wir wollen nur an die Zukunft denken. Und ich weiß keine Zukunft ohne dich. Dafür aber mußt du gesund sein, nur diese Sorge hat mich bestimmt. Ich habe gestern abend in den Zeitungen gelesen – ach, Alma, was alles in der Welt geschehen ist in den zwei Monaten, die wir hier faul herumgelegen haben! Von jetzt an wollen wir wieder mitmachen. Ich wollte, grade, als du kamst, zum Vogler gehen, meinem früheren Lektor, der immer für meine Bücher eingetreten ist. Du bist entlassen, nun gut, das läßt sich nicht ändern. Aber lege dich jetzt hin, schone dein Bein . . .«

Ihr Gesicht hatte sich entspannt und war freundlich geworden, seit er ohne Streitlust mit ihr gesprochen hatte. Aber bei seinem letzten Vorschlag schüttelte sie wie ein trotziges Kind den Kopf, und wie ein trotziges Kind antwortete sie: »Ich kann nicht verstehen, warum ich nicht mit dir kommen soll. Mein Bein ist in Ordnung – oder doch beinahe. Ich will hier nicht rumliegen und mich langweilen!«

Er antwortete noch ganz sanftmütig. »Eben weil dieses ewige Rumliegen sich nicht wiederholen soll, bitte ich dich noch um Schonung. Denn wenn erst das tatenlose Leben wieder anfängt, ist an kein Aufstehen und Arbeiten mehr zu denken, höchstens noch um Morphium zu besorgen, und schon haben die Schulz und das Dorle wieder das Regiment. – Tu mir die Liebe und schone dich, Kind, ehe es wieder so weit kommt!«

Sie aber schüttelte den Kopf und wiederholte hartnäckig: »Ich habe mich lange genug geschont, nun will ich auch wieder mitmachen. Bei allem, was du tust, will ich dabei sein!«

»Du hast bis heute morgen noch fest im Bett gelegen, du kannst nicht einfach wieder loslaufen!« antwortete er beharrlich. »Du ahnst nicht, welche Todesangst ich habe, daß das alte Leben wieder anfängt. Und diesmal haben wir gar keine Reserven, keinen Diamantring mehr zu verkaufen. Ja, du mußt dir einmal ganz klarmachen, daß wir jetzt arme Leute sind, Alma, und daß wir uns vieles nicht mehr leisten können, Ärzte nicht und keine teuren amerikanischen Zigaretten und vielleicht nicht einmal Weißbrot, das sich viel zu schnell wegißt und lange nicht so sättigt wie dunkles.«

»So –?« rief sie auch hitziger. »Darum hast du eben keine Zigarette von mir genommen –? Du willst jetzt also den armen Mann spielen –?!! Und dann soll auch ich keine Zigaretten mehr rauchen dürfen und nur Schwarzbrot essen, von dem du doch weißt, daß es mir immer Gallenbeschwerden macht –?! Wenn du es so willst, bitte schön, aber ich darum noch lange nicht! Erst einmal kann ich noch eine Menge von meinen Sachen verkaufen, und wenn die alle sind, so weiß ich immer noch einen besseren Ausweg, als im Elend zu verkommen.«

Er antwortete jetzt auch sehr ärgerlich: »Ja, freilich, das ist sehr bequem zu sagen: ich will nichts entbehren, und vor jeder kleinen Not mit Weglaufen zu drohen. Ich lasse mir aber nicht drohen, auch von dir nicht, und wenn du weglaufen willst, dann je eher um so besser –! Dann gehe ich meinen Weg eben alleine!«

»Siehst du!« rief sie triumphierend. »Das habe ich mir doch gleich gedacht, daß du nicht ohne Grund mir und dem jungen Arzt zugeredet hast, mich möglichst lange im Krankenhaus aufzuhalten! Ich bin dir einfach eine Last, und du möchtest mich los sein. Bitte schön, ich will es dir nicht schwer machen, ich gehe jederzeit. Ich komme alleine viel besser durch als mit dir!«

»Was du für einen Unsinn redest!« rief er. »Kein Wort habe ich davon gesprochen, daß du mir eine Last bist und daß ich besser ohne dich lebe! Davon hast du angefangen! Aber um all das handelt es sich gar nicht! Es handelt sich einfach darum, ob du jetzt vernünftig sein und dich schonen willst. Ja oder Nein?«

»Nein natürlich!« antwortete sie spöttisch. »Wenn du mich ein bißchen nett darum gebeten hättest, würde ich es vielleicht getan haben, aber so bestimmt nicht!«

»Ich habe dich zu Anfang nett genug darum gebeten, aber du willst einfach nicht. Wenn du also wirklich nicht willst . . .«

Er sah sie abwartend an, aber ihr Zorn war eher noch im Zunehmen. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß ich nicht will! Von dir lasse ich mich noch lange nicht tyrannisieren! Siehst du, jetzt brenne ich mir schon wieder eine Zigarette an, grade, um dich zu ärgern!«

Und sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Schön, schön!« antwortete er. »Jedenfalls weiß ich nun Bescheid!«

Damit ging er an ihr vorüber. Ihre Augen waren vor Zorn ganz dunkel geworden; er aber ging aus dem Zimmer, er machte die Tür hinter sich zu, zog auf dem Flur seinen Mantel an, setzte den Hut auf und ging aus der Wohnung.

Heute stürmte es draußen nicht, es regnete auch nicht, aber nie war ihm die Straße, in der sie wohnten, mit ihren ausgebrannten Ruinen und den Schuttgebirgen so düster und todesdrohend erschienen. Genau so sah sein Leben aus: alles hatte der Krieg zerstört, und nur Ruinen und zu häßlichem Schutt verbrannte Erinnerungen waren ihm verblieben. Und wahrscheinlich würde es so immer weiter gehen; in diesem Punkte hatte sie vielleicht sogar recht: es gab keinen Weg aus diesem Trümmerfeld. Was er da eben an der eigenen Frau erlebt hatte, das konnte einem wahrhaftig allen Mut zum Weitermachen nehmen! Und er hatte recht, aber sie hatte unrecht! Auf seiner Seite stand die Vernunft, und alles, was sie da eben von Nichtverzichtenwollen geredet hatte, war barer Unsinn gewesen!

Gewiß, gewiß, sie war eine junge, verwöhnte Frau, und er hätte ihr nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen brauchen, das mit den Zigaretten und dem Weißbrot, das hätte schon noch Zeit gehabt. Er hätte auch ein bißchen geduldiger und behutsamer sein können. Aber zum Himmel! er war auch nur ein Mensch, und die Zeit drückte mit all ihrer Not schwer auf seine Schultern, schwerer als auf die ihren, die wie ein Vogel lebte und von heute auf morgen alle Sorgen vergaß! Warum mußte er immer auf alle andern Leute Rücksicht nehmen, und auf ihn nahm nie jemand Rücksicht?

Nein, es war schon gut, wie es gekommen war. So wie sie sich eben getrennt hatten, so stand es wirklich um sie, wenn die Verliebtheit einmal nicht die Gegensätze übermalte. In nichts einig, fremd, ganz fremd, allein ein jedes. Und allein würde er jetzt auch seine Straße weitergehen; er würde in nichts ihr mehr hineinreden, mochte sie rauchen und verkaufen, was sie wollte! Kein Wort mehr! Aber auch kein Wort zu ihr darüber, was er jetzt beim Lektor Völger hörte und erreichte.

Mit solchen Gedanken beschäftigt war er auf der Untergrundbahnstation angekommen, hatte sich eine Karte gelöst und wartete mit andern auf den Zug. Der lief ein, und durch die schmale Gasse, die von den Wartenden notgedrungen gebildet wurde, drängten sich die Aussteigenden. Dann schob er sich mit den andern in den schon überfüllten Wagen.

Plötzlich fragte eine Stimme spöttisch nahe bei ihm: »Vielleicht jetzt eine Zigarette gefällig?«

Er fuhr herum und sah verwirrt in das Gesicht seiner Frau, die ihn überlegen und kühl musterte. Er antwortete ihr nicht, sondern schüttelte nur unmutig zu den angebotenen Zigaretten den Kopf. Dies war denn doch zu viel, Zorn erfüllte ihn wieder. Nach einer solchen Auseinandersetzung ihm heimlich zu folgen und ihn jetzt noch öffentlich zu verspotten, war mehr, als er ertragen wollte.

Es war höchst ärgerlich, daß sie nun mit ihm ging, auf diesem vielleicht entscheidenden Wege, als gehörte sie wirklich dazu. Sie störte ihn. Er wollte überlegen, was er dem Lektor Völger zu sagen hatte, aber er kam mit seinen Gedanken nicht von dieser Frau los!

Er mußte von der U-Bahn in die S-Bahn umsteigen und später noch in die Elektrische – aber sie ließ sich nicht abschütteln. Er gab es sich zu, er benahm sich nicht gerade chevaleresk, in die Elektrische war er zum Beispiel erst im allerletzten Augenblick eingestiegen, als sie schon fuhr. Sie hatte sich aber nicht überrumpeln lassen, sie war doch noch aufgesprungen, und, vor Schadenfreude triumphierend, hatte sie gar noch für ihn bezahlt. Sein schwächlicher Protest wurde von beiden, weder von ihr noch vom Schaffner, beachtet.

Gewiß, sie war nicht nur Schadenfreude. Zweimal hatte sie versucht, das Vergangene vergangen sein zu lassen und ein harmloses Gespräch mit ihm zu beginnen. Er aber hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt und nicht mit einer Silbe geantwortet.

Jetzt, als sie aus der Elektrischen ausgestiegen waren und das letzte Stück zu Fuß gehen mußten, versuchte sie es ein drittes Mal. Sie gingen gerade über eine hölzerne Notbrücke, neben ihnen lag die schön asphaltierte breite eiserne Brücke im Wasser, von Hitlers Mannen sinnlos gesprengt. Sie sah neugierig auf die glatte Bahn, die steil abwärts, aber unzerrissen vom Ufer her ins Wasser führte, in der Tiefe kaum halbmeterhoch überspült wurde und zum andern Ufer wieder steil hochführte. Ganz selbstvergessen sagte sie: »Zu schade, daß ich kein Kind mehr bin: gleich rutschte ich da auf dem Hosenboden runter! Heute noch – mit dem Rodelschlitten ginge es auch oder mit dem Fahrrad. Ach was, für hundert amerikanische Zigaretten versuchte ich es auf der Stelle!«

Ihre letzten Worte verdarben den Eindruck der ersten, über die er wider Willen innerlich hatte lächeln müssen. Wirklich, er hatte sie da deutlich runterrutschen sehen, mit all ihren weißen Zähnen lachend, und die rotblonde Mähne wehte hinter ihr drein. Sie hätte es getan, so was brachte sie fertig. Aber der Schlußsatz, der mit den amerikanischen Zigaretten, störte die leichtere Stimmung gleich wieder.

Sie aber hatte dieser Satz gerade auf den entgegengesetzten Gedanken gebracht. Sie zog die Packung Chesterfield aus der Tasche, sah hinein und hielt sie ihm hin: »Nun, wie ist es? Die letzte Gelegenheit! Zwei sind gerade drin – halbpart!«

Noch fester preßte er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, so sehr es ihm in den Fingern zuckte, zuzugreifen, denn sein Rauchhunger war gewaltig.

»Dann nicht!« sagte sie gleichmütig und nahm sich eine Zigarette. Und sie fuhr fort, wobei sie die Zigarette anbrannte: »Wenn du albern und dickköpfig sein willst wie ein kleines Kind, bitte, von mir aus! Darum schmeckt mir meine Zigarette nicht schlechter!«

Sie hatte den Rauch tief in die Lungen gesogen, genießerisch, und stieß ihn nach seiner Seite hin wieder aus, wohl nicht ganz unabsichtlich. Mit der früheren spöttischen Überlegenheit sagte sie: »Aber du wirst dich schon geben. Bei deinem Lektor wirst du mich schon vorstellen und mit mir reden müssen, so albern du dich jetzt auch anstellst!«

Die ganze Zeit hatte er schon daran gedacht, sie hatte mit ihrer Bemerkung in das Zentrum seines Mißmuts getroffen. Wütend brach er nun doch sein Schweigen, wütend sagte er: »Statt daß du aufdringlich neben mir her läufst und mich in meinen Gedanken störst, wärest du schlauer auf das Wohnungsamt und die Kartenstelle gegangen! Du hast dich ja so gerühmt, du könntest das im Handumdrehen erledigen! Aber an so was denkst du natürlich von selbst nie, es ist ja auch bequemer, mir alles zu überlassen.«

Sie antwortete spöttisch: »Wegen der Wohnung und der Karten mach dir bloß keine Sorgen! Du denkst, weil du nichts erreicht hast, wird es mir auch so ergehen. Da laufe ich heute nachmittag hin und bekomme, was wir haben müssen!«

Er sagte voll verstelltem Mitleid über ihre prahlerische Ahnungslosigkeit: »Nachmittags sind ja die Ämter geschlossen!«

Und sie, noch überlegener: »Für mich nicht, mein Lieber! Du wirst lachen: für mich nicht!«

Und wieder er: »Ich werde ganz bestimmt nicht lachen, und du wirst ganz bestimmt nichts erreichen!«

Damit fand dieses neue Streitgespräch erst einmal sein Ende. Sie waren in dem großen Verlagshaus angekommen, früher einmal eines der größten und imponierendsten Bauwerke von Berlin. Von außen sah der hochgetürmte Bau noch stattlich und – bis auf die zerbrochenen oder leeren oder verpappten Fensterhöhlen – vom Kriege unberührt aus. Nur die Schuttgebirge um den Bau herum verkündeten bereits, daß er innen wohl nicht mehr ganz intakt sein werde.

Und wirklich, als sie eintraten, kamen sie sofort in einen rauchgeschwärzten, nach Verbranntem stinkenden Raum, der erst durch eingestürzte Zwischenwände seine riesige Ausdehnung bekommen hatte.

Sie gingen dann durch eine niedrige Eisentür und rochen plötzlich keinen Brand mehr, sondern atmeten den feucht-säuerlichen Geruch von frischem Kalk. Eine breite, nur spärlich beleuchtete Treppe führte empor, die Farben an den Wänden schienen eben erst von den Malern aufgestrichen, alles roch neu, nach einer freilich etwas ärmlichen Erneuerung. Jedenfalls hatte man diesen Teil des Hauses gerade erst instand gesetzt.

Im zweiten Stock des Hauses kamen sie in jene Redaktion, wo Doll den Lektor Völger oder doch Auskunft über ihn zu finden hoffte. Fast stockend brachte er die Frage nach dem früheren Betreuer seiner Werke vor; plötzlich war es ihm, als sei er seit dem Zusammenbruch immer nur diesem Augenblick zugeeilt, durch den er – hoffentlich! – eine abgerissene Vergangenheit an eine neue glückliche Zukunft anknüpfen konnte. Plötzlich, in der Sekunde zwischen Frage und Antwort, zitterte er vor einem »Nein«, vor einem »Hier nicht bekannt«, als werde durch eine solche Antwort die Tür zu einer besseren Zukunft endgültig zugeschlagen.

Und er atmete tief auf, als er hörte: »Ich will fragen, ob Herr Völger jetzt zu sprechen ist. Wen darf ich melden –?« Er fühlte eine Mattigkeit in seinen Gliedern, während er seinen Namen nannte, ihm war, als sei er, schwindlig geworden, gerade noch vor einem Sturz in den Abgrund gerettet worden.

Dann wurden sie in einen großen, unordentlich aussehenden Raum geführt, der eher dem Zimmer eines Maschinisten als dem eines Redakteurs glich. Doll sah in das alte, von Sorgen gezeichnete Gesicht eines Greises mit dünnem weißem Haar. ›O Gott!‹ dachte er erschüttert, während er die ihm dargereichte Hand schüttelte, ›das ist doch nicht Völger, dieser uralte Mann! Das kann nicht Völger sein!‹ Und während er schon die ersten Worte des andern hörte, dachte er immer noch: ›Aber vielleicht ist er ebenso erschrocken über mein Aussehen. Nie hätte ich ihn wiedererkannt! Dieser verdammte Krieg – was hat er aus uns allen gemacht –!‹

Hörte dabei den andern voller Bewegung sagen: »Doll, daß ich Sie hier bei mir sehe! Sie wissen doch: Sie waren totgesagt. Wir dachten alle, also der auch! Und nun sind Sie hier bei mir! Setzen Sie sich doch, bitte sehr, gnädige Frau! Ja, es sieht hier wüst aus . . .«

Und er hörte sich ebenso aufgeregt und durcheinander antworten: »Das macht nichts, daß man mich totsagte! Es heißt doch: ein Totgesagter lebt noch hundert Jahre, und gerade das will ich!« Er fühlt dabei den beobachtenden Blick Almas, freut sich, daß sie sich so still verhält, sich in diesem Augenblick nicht vordrängt, und sagt ganz gegen seine ursprüngliche Absicht: »Hier übrigens meine Frau, Herr Völger!« Und setzt, da er Erstaunen bei dem andern zu bemerken glaubt, hinzu: »Wir haben kurz vor Kriegsende geheiratet.«

»Jaja!« antwortet der andere und nickt mit dem weiß gewordenen Kopf. »Es hat überall große Veränderungen gegeben – auch bei mir!« Sein Blick streift die junge Frau, und es klingt beinahe, als habe auch er sich in seiner Ehe verändert. Aber er fährt dann fort: »Und nun sitze ich doch wieder, wie vor Beginn des Tausendjährigen Reiches, in diesem Hause, zerrupft und alt geworden, und tue meine Arbeit wie früher. Manchmal ist es mir, als sei alles, was ich in den letzten zwölfeinhalb Jahren erlebt habe, ganz unwirklich, eine undeutliche Erinnerung an einen bösen Traum . . .«

»O nein!« widerspricht Doll. »So weit bin ich noch nicht. Für mich sind all diese Schrecknisse noch sehr wirklich. Aber freilich, Sie haben schon wieder Ihre Arbeit . . .«

»Und Sie –? Haben Sie nichts arbeiten können seit dem Zusammenbruch –?«

»Nichts! Bedenken Sie, ich war Bürgermeister! Und dann lange krank.« Und er beginnt von den Ereignissen der letzten Monate zu sprechen, von der Hoffnungslosigkeit, der ständig wachsenden Apathie . . .

Der andere wird bei diesem Bericht unruhig, und er benutzt die erste sich bietende Gelegenheit, um Doll zu berichten, wie schlecht es ihm ergangen sei, wie schlimme Erfahrungen er mit seinen Mitmenschen gemacht habe!

Bei dieser zerstreut angehörten Erzählung fallen Doll sofort noch viel bösere Erlebnisse ein, die er gehabt. Er hört kaum zu, bis der andere zu Ende gesprochen hat, und bringt dann überstürzt den eigenen Schreckensbericht vor.

Und beide halten inne, beide sehen sich mit einem matten Lächeln in die sorgenvollen Gesichter, beide haben sich selbst ertappt. »Wir machen es«, sagt Völger, stärker lächelnd, »genau wie unsere lieben Mitmenschen, über deren Torheit wir doch sonst so gerne lächeln. Jeder hat das Allerschrecklichste erlebt!«

»Ja!« stimmt Doll zu. »Und dabei haben wir alle ungefähr das gleiche durchgemacht!«

»Gewiß«, sagte Völger wieder, »jeder hat bis zu der Grenze seiner Leidensfähigkeit gelitten.«

»So ist es!« stimmt Doll zu.

Und nun schweigen sie beide. Doll schwankt, ob er nun aufstehen und gehen soll. Völger hat ihm keine Aussicht auf Arbeit gegeben, er hat ihn nicht einmal gefragt, ob Doll einen Beitrag für die von ihm mitredigierte Zeitung liefern will. Wenn Völger es auch nicht spürt, Alma weiß, mit welchen Erwartungen ihr Mann hierhergekommen ist. Völger denkt vielleicht, der Doll hat einem alten Bekannten nur einmal Guten Tag sagen wollen. Aber sie weiß, daß von diesem Besuche an ein neues Leben beginnen soll . . .

Und doch! Und doch! Gerade wegen Alma mag er den Völger nicht einfach fragen, ob er nicht eine Arbeit für ihn weiß. Gerade vor Alma will er nicht bitten. Nein, das einzige, was er nach diesem langen, so deutlichen Schweigen des andern tun kann, ist: aufstehen, sich verabschieden, fortgehen. Moriturus te salutat! Der dem Tode Geweihte grüßt dich! Fortgehen und still und mit Anstand sterben! – Und blitzartig fällt Doll ein anderer Schriftsteller ein, der Arzt, der Schriftsteller gewesene Arzt, dieses übergangene Totenköpfchen, wie hat er gesagt? Es ist, als wäre man schon tot. Und Doll steht auf, er streckt die Hand aus: »Ja, mein lieber Völger, ich will dann gehen. Sie haben sicher viel zu tun . . .«

»Ja«, sagt Völger und nimmt die gebotene Hand. »Ja, immer viel zu tun, viel zuviel. Aber es hat mir sehr gut getan, daß ich Sie wiedergesehen habe, Sie, den Totgesagten. Der Granzow wird auch glücklich gewesen sein, als er Sie gesehen hat. Grüßen Sie ihn auch schön von mir. Er hat Ihnen sicher gesagt, daß ich hier sitze –?«

»Nein!« antwortete Doll, noch ganz ohne Ahnung von dem, was er nun gleich erfahren wird. Er läßt es darum auch unerörtert, wer denn eigentlich dieser Granzow ist, den Völger grüßen läßt. »Nein, ich habe Ihren Namen in der Zeitung gelesen, Völger. Bin auf gut Glück hierhergekommen.«

»Aber Sie haben den Granzow doch gesehen –?!«

»Nein«, sagt Doll vorsichtig. »Noch nicht!«

»Noch nicht!« ruft der andere. »Sie wissen vielleicht nicht einmal, daß Granzow Sie schon seit Wochen suchen läßt, seit das Gerücht aufgetaucht ist, Sie seien in Berlin?! Das wissen Sie noch nicht, Doll –?!«

»Nein«, antwortet Doll wieder. »Und um Ihnen gleich die ganze Wahrheit zu gestehen: ich weiß nicht einmal, wer Granzow ist.«

»Was –?!« ruft Völger und ist so ehrlich entsetzt, daß er die Hand des andern, die er immer noch festgehalten hat, mit einem Ruck fallen läßt. »Sie müssen doch wissen, wer Granzow ist! Zum mindesten müssen Sie seine Gedichte kennen! Oder den großen Roman ›Wendelin und die Mondsüchtigen!‹ Freilich . . .« fährt er fort, als Doll dabei bleibt, mit dem Kopf zu schütteln, »freilich, der Granzow ist zwölf Jahre in der Emigration gewesen, und die Nazis haben 33 natürlich gleich seine sämtlichen Bücher verboten. Aber trotzdem – aus der Zeit vor 33 müßten Sie ihn doch kennen!«

»Wirklich nicht!« beharrt Doll. »Sie müssen bedenken, ich habe fast immer auf dem Lande gelebt und kenne sehr wenige Schriftsteller persönlich.«

»Aber Sie müssen jetzt von ihm in den Zeitungen gelesen haben«, versucht es Völger noch einmal. »Er ist doch schon im Mai aus der Emigration zurückgekehrt und hat den großen Bund aller Künstler begründet. Sie müssen das gelesen haben, Doll!«

»Ich war Bürgermeister in einer Kleinstadt mit einer Arbeitszeit von durchschnittlich vierzehn Stunden täglich«, antwortet Doll dem Beharrlichen lächelnd. »Ich habe kaum die Zeit gehabt, die an mich gerichteten Briefe zu lesen, geschweige denn eine Zeitung. In Wahrheit habe ich seit dem Umsturz gestern abend zum erstenmal in eine Zeitung gesehen, und der einzige bekannte Name, auf den ich stieß, war der Ihre, Völger. Darum bin ich heute hier. Aber«, fährt er fort, »aber vielleicht sagen Sie mir, warum mich dieser Granzow suchen läßt, den ich nicht kenne und bestimmt nie gekannt habe –?«

»Aber Doll!« sagte Völger. »Granzow will Sie natürlich in seinen Bund ziehen; man erwartet viel von Ihnen, Sie sind doch der Mann, einen volkstümlichen Roman über die letzten Jahre zu schreiben . . .«

»Nein, nein«, antwortet Doll, und seine Miene hat sich plötzlich verdüstert. »Dafür bin ich ganz und gar nicht der Mann, an dieses Thema rühre ich bestimmt nicht.« Er schüttelte noch einmal den Kopf und fuhr fort: »Wissen Sie, Völger, ich habe natürlich – wie alle – erst einmal im Dreck gelegen. Aber auch später, als ich mich schon wieder ein bißchen hochgekrabbelt hatte und an das zu denken anfing, was ich wohl später tun wollte, kam es mir ganz unmöglich vor, Bücher zu schreiben wie vordem, als sei nichts geschehen, als sei uns nicht eine ganze Welt zusammengebrochen. Ich dachte, man müsse nun ganz anders schreiben, nicht so, als habe es das Tausendjährige Reich nie gegeben, und man brauche nur an das anzuknüpfen, was man vor 33 geschrieben hat. Nein, etwas ganz Neues muß man beginnen, inhaltlich schon ganz gewiß, aber auch in der Form . . .«

Er machte einen Augenblick Pause und sah dann den aufmerksam zuhörenden Völger etwas unsicher an. Er schloß unvermittelt: »Aber ich weiß nicht – ich habe bisher noch keine Möglichkeit entdeckt. Vielleicht schreibe ich nie wieder ein Buch. Es sieht alles so trostlos aus. Wer sind wir denn noch, wir Deutsche, in dieser durch uns zerstörten Welt –? Zu wem sollen wir sprechen, zu den Deutschen, die keine Lust haben, uns anzuhören, oder zum Ausland, das uns haßt –?«

»Nun«, sagte Völger, »nun, ich an Ihrer Stelle würde mir darum keine Sorgen machen, weder um das Wie der Form noch um die Leser. Ich bin davon überzeugt, eines Tages werden Sie wieder schreiben, einfach weil Sie schreiben müssen! – Und jetzt gehen Sie zu Granzow, ich gebe Ihnen seine Adresse. In der Mittagsstunde treffen Sie ihn am ehesten.«

Kurze Zeit darauf trennten sie sich. Die junge Frau hatte zu dieser denkwürdigen Unterredung nicht ein Wort beigesteuert, ein höchst ungewöhnlicher Vorgang bei der »Brandung«. Und auch jetzt, als die beiden allein zurückgingen, schwieg sie. Doll war dieses fortgesetzte Schweigen jetzt gar nicht mehr recht. Wenn er sich auch unfähig fühlte, den vorgeschlagenen Roman zu schreiben, wenn er auch die Hoffnungen, die Völger und vermutlich Granzow auf ihn setzten, enttäuschen mußte, so war er doch erfreut über den Empfang, den man ihm bereitet, über die Tatsache, daß man nach ihm in der großen Stadt Berlin suchte. (Wie eine solche Suche gemacht wurde, darüber war er sich freilich nicht klar.)

Er hatte sich lange Monate so klein und mutlos gefühlt, daß ihn das erste bißchen Anteilnahme, der erste Sonnenstrahl Sympathie erwärmte und erhellte. Er fühlte sich anders, er ging anders, mit einem anderen Blick sah er auf die ausgeglühten Maschinen, die in der brandigen Halle lagen. »Vielleicht werdet ihr eines Tages doch noch für mich arbeiten«, sprach er bei sich. »Wenn ihr jetzt auch ausgeglüht und verdorben scheint, das richtet sich schon wieder – alles läuft sich eines Tages wieder zurecht im Leben . . .«

Er trat in den grauen Novembertag hinaus, zwischen die Schuttgebirge. Der Wind jagte üblen Aschenstaub und angebrannte Papierfetzen hoch. Ihm aber war es, als wehe Maienluft, als sängen alle Vögel, als seien die Bäume grade im Ergrünen! Er war doch noch wer! So lange hatte er sich wie ein reiner Garnichts gefühlt, von allen hatte er sich treten lassen, aber er war doch noch wer! Völger hatte es ihm bestätigt, Granzow glaubte an ihn. Es ging ihm genau wie den Maschinen, eines Tages würden sie wieder arbeiten!

Mit stummer Aufforderung sah er zu seiner Begleiterin hin. Warum sprach sie nicht? Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, ihn ein bißchen merken zu lassen, daß auch sie glücklich war über diesen Empfang.

Sie sah aber gar nicht zu ihm hin. Ihr Blick galt allein den Schaufenstern der Läden, den kümmerlichen Auslagen mit einem bißchen überteuerten Ersatzzeug und unverkäuflichen Paradestücken. Und nun – sie hatte ihm nicht einmal einen Wink gegeben – war sie gar in einem dieser Läden verschwunden, nein, nicht in einem Laden, sondern in einer Gastwirtschaft.

Er ärgerte sich doch wieder kräftig über sie, über ihre rücksichtslose Art, wie sie ihn da einfach stehen ließ, ohne ein erklärendes Wort, vollkommen sicher, daß er auf sie wartete! Aber sie konnte sich irren, die Haltestelle der Elektrischen war nahe. Wenn sie wieder herauskam aus der Kneipe, konnte er abgefahren sein, und sie würde an der entscheidenden Unterredung mit Granzow nicht teilnehmen.

Es behagte ihm gar nicht, es steigerte seinen Zorn ständig, daß grade seine Lebensgefährtin ihm diesen ersten glücklicheren Tag verbittern mußte. Kaum sah er darum ihr Gesicht wieder auftauchen, so marschierte er los, stracks auf die Haltestelle zu, und gönnte ihr nicht Blick noch Wort, als sie wohlgemut und gänzlich unbekümmert sich neben ihn stellte.

Natürlich rauchte sie schon wieder! Darum also war sie in dieser Budike gewesen, um sich neue Zigaretten zu kaufen! Ohne jede Rücksicht auf die Zukunft schlug sie das letzte Geld auf den Kopf. Und jetzt, wo er – zur Feier des Tages – vielleicht doch eine Zigarette genommen hätte, bot sie ihm natürlich keine an!

Das Schicksal fügte es so, daß für die beiden in dem nicht sehr gefüllten Wagen zwei Sitzplätze nebeneinander frei waren auf einem jener Bänkchen am Eingang, die in der Längsrichtung des Wagens stehen. Auf der andern Seite der Eingangstür, also durch die ganze Breite des Wagens von ihnen getrennt, saß neben einem dicken Herrn mit bleichem, aber pausbäckigem Gesicht eine sichtlich nicht zu ihm gehörige alte Dame, der Doll im Innern sofort die Bezeichnung »der verweste Säugling« verlieh. Diese bestimmt nie verheiratet gewesene alte Jungfer mit den rosigen Unschuldsbäckchen eines Babys war vom Alter und den Zeichen des nahenden Todes so entstellt, daß ihr kindliches Aussehen beinahe etwas Lasterhaftes und Urböses bekam.

Das alte Wesen, verschollen mit Rüschen, Borten und Knöpfchen geziert, schien schon durch den Anblick der unbekümmert rauchenden Alma gereizt. Sie schnob ein paarmal verächtlich durch die Nase, sah dann ihren pausbäckigen Nachbar, denn wieder die junge Frau und nun Doll selbst an, der sich dadurch, daß er eben beim Schaffner für seine Frau mitbezahlte, als ihr verantwortlicher Begleiter auswies.

Doll schaute kühl und ausdruckslos zurück, worauf »der verweste Säugling« heftig zu murmeln anfing. Dabei richtete sie den Blick ihrer blaßblauen Augen bald auf Alma, bald auf die anderen Insassen des Wagens, wie um sie aufzufordern, an ihrem Protest teilzunehmen. Sichtlich war die alte Dame nicht mehr lange imstande, ihre Gefühle stumm walten zu lassen. Eine Explosion stand nahe bevor.

Vielleicht wollte Alma diese Explosion beschleunigen, vielleicht hatte sie aber auch in ihrer Unbekümmertheit auf dieses stumme Spiel gar nicht geachtet, jedenfalls zog sie plötzlich aus ihrer Handtasche einen Kamm. Sie schüttelte ihre Locken, daß sie aufflogen, und fing an, sie durchzukämmen.

Dies war für die alte Dame zu viel. Mit lauter Stimme, fast schreiend, rief sie zu Alma hinüber: »Machen Sie das gefälligst zu Hause, Fräulein! Sie sind hier in keinem Frisiersalon!«

Unwillkürlich nickte der Pausbäckige beistimmend zu diesen Worten, und überhaupt schien, wer im Wagen den Vorgang beobachtet hatte, auf der Seite der alten Dame zu stehen. Die junge Frau aber antwortete kühl und vollkommen höflich: »Ich sitze weit genug von Ihnen entfernt, um Sie nicht zu belästigen, gnädige Frau!«

Als sie aber die zanksüchtige Miene des verwesten Säuglings und die ablehnenden oder schadenfrohen Gesichter der Wageninsassen sah, reichte sie plötzlich den Kamm weiter an Doll. »Du hast es auch nötig, mein Lieber. Dein Scheitel ist ganz verwirrt.«

Doll nahm nach einem kurzen Zögern den Kamm und fing an, sich zu kämmen. Die schadenfrohen Gesichter der andern hatten bei Almas impulsiver Handlung einen abwartenden oder lächelnden Ausdruck angenommen. Auch der pausbäckige Herr neben der Alten lächelte. Die Angreiferin aber lief vor Zorn erst tiefrot an, dann wurde sie plötzlich gelblichweiß, und laut stieß sie die scheltenden Worte hervor: »Immer dieselben aufgedonnerten Weiber, die!«

Worauf Alma unter dem atemlosen Schweigen des ganzen Wagens kühl antwortete: »Und immer dieselben ollen Pappeulen, die!«

Nicht nur Doll fand die Bezeichnung »Pappeule« für die verschollene Alte ausgezeichnet, der ganze Wagen lachte. Der Pausbäckige trampelte sogar vor Vergnügen mit den Füßen, warf allerdings sofort einen ängstlichen Blick auf seine Nachbarin. Doch war die nicht mehr zu fürchten, sie hatte die Schlacht verloren. Sie lehnte sich in die verpappte dunkle Wagenecke zurück und schien nur noch zu röcheln, rasch zu Ende zu verwesen, wie Doll seiner Frau erklärte.

Zwischen den beiden Eheleuten aber war nach diesem Intermezzo alles in bester Ordnung. Als habe es nie das kleinste Zerwürfnis zwischen ihnen gegeben, plauderten sie miteinander. Doll nahm jetzt ohne weiteres eine Zigarette, zog mit Genuß den lange entbehrten Rauch in die Lunge und nickte sogar zustimmend mit dem Kopfe, als Alma fast wie entschuldigend sagte: »Ich bin noch einmal leichtsinnig gewesen – zur Feier des heutigen Tages.«

Eine Stunde später stehen die beiden in einem großen, fast üppig ausgestatteten Vorzimmer. Dieses Haus ist dem vorher besuchten, was Erhaltung und Einrichtung anlangt, weit überlegen. Und wie dieses Vorzimmer mit seinen alten Bildern an den Wänden, dem dicken Velours auf dem Fußboden, der geordneten Bürosachlichkeit, in die zwei angestellte Damen doch etwas Heimisches, Gemütliches gebracht haben – wie also schon dieses Vorzimmer dem Völgerschen weit überlegen ist, so übertrifft der Empfang, den sie hier finden, bei weitem den ihnen bei Völger gewordenen. Doll hat eben erst seinen Namen genannt, eben erst ist eine der beiden Damen mit der Meldung im Nebenzimmer verschwunden, da tut sich schon die Tür dieses Nebenzimmers auf (das aber ein ganz in Weiß und Blau gehaltener Saal ist), und ein großer, fetter, grauer Mann stürzt auf Doll zu.

»Doll!« ruft er, ergreift seine Hand, und alles an ihm scheint vor Erregung zu zittern. »Doll! Endlich bei mir!«

Er zieht den ganz Überwältigten mit sich aus dem Vorzimmer in den blauweißen Saal, während Frau Doll schweigend folgt. »Doll! Also Sie sind doch nicht tot! Was wir uns für Sorgen Ihretwegen gemacht haben!«

Und Doll, seine Hand zwischen den feuchten, weichen, großen des andern, kann nichts sagen als den Namen, den er vor anderthalb Stunden zum ersten Male gehört hat: »Granzow! Ja, wirklich, Granzow!«

Sie sehen sich beide mit Tränen in den Augen an. Es ist wie ein Wiedersehen von alten Freunden. Und wirklich haftet diesen Tränen nichts Unechtes an. Das Gefühl hat sie überwältigt, die Erinnerung an die vergangenen zwölf Jahre, in der Emigration oder der Knechtschaft verbracht, durchweht sie noch einmal. Sie sind doch Überlebende einer Katastrophe! Beide empfinden des anderen Freude, sich zu sehen, sich kennenzulernen. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, sie hätten sich längst gekannt.

Doll hat dabei ein etwas schlechteres Gewissen als Granzow, der doch wenigstens Dolls Bücher kennt, ein leises Schuldgefühl erfüllt ihn. Etwa dieses: hoffentlich erzählt ihm Völger nie, daß ich nicht einmal seinen Namen gekannt habe. Aber dieses leise Schuldgefühl vergeht gleich wieder. Granzow ist offensichtlich ganz uninteressiert an der eigenen Person. Er will nur von Dolls hören, von ihrem Ergehen in den vergangenen Jahren, wo und wie sie gelebt haben, wo sie jetzt leben, wie es ihnen geht. Nur Freude, gütige Freude liest Doll in den Augen Granzows, der aufmerksam jedem seiner Worte zuhört. ›Und was bin ich schließlich? Ein kleiner Romanschreiber, der sich längst aufgegeben hatte und hoffnungslos versackt war. Aber das darf ich ihn nicht merken lassen, jetzt werde ich mich schon wieder aufrappeln . . .

Während solche Gedanken durch Dolls Kopf schießen, sitzen sie längst zu dreien um den großen Tisch auf dem blausamtenen Rundsofa. Auf dem Tisch stehen Schachteln mit Granzows Zigaretten, aus denen Dolls sich zwanglos bedienen können. Auch Kaffee ist bestellt und bereits gebracht worden, nicht Kaffee, sondern richtiger Café, zwar etwas dünner, aber: »Ja, Sie müssen schon entschuldigen, Doll. Unsere Kantine ist noch nicht ganz auf der Höhe. Aber das wird sich schon ändern, jetzt wird alles besser . . .«

Und dieses »Jetzt« klingt fast so, als beziehe es sich auf den wiedergefundenen Doll, als datiere von dieser Minute an eine neue Ära – was doch entschieden in diesem Zusammenhang nicht gemeint sein kann.

Die Unterhaltung geht jetzt ruhigere Wege. In der Hauptsache sprechen die beiden Dolls, erzählen ihre Erlebnisse während der letzten Monate. Ja, hier ist es nicht wie bei Völger, hier redet auch Frau Alma, kein Gedanke mehr an betonte Zurückhaltung. Und sie tut recht damit, denn während Völger außer einem erstaunten ersten Blick keinerlei Notiz von Frau Doll genommen hat, findet Granzow sichtlich Gefallen an der lebhaften jungen Frau: er wendet ihr ebenso gerne wie dem Doll sein lächelndes oder bekümmertes Gesicht zu.

Ja, dieser Granzow ist ein glänzender Frager und Zuhörer. Hier kann unmöglich geschehen, was bei Völger geschah, daß beide Teile es nicht abwarten können, die eigenen Leiden zu erzählen, er ist, wie man so sagt, ganz Ohr. Er nickt eifrig mit dem Kopfe, wenn von dem Entschluß berichtet wird, die Kleinstadt für immer zu verlassen. Er schüttelt ihn bekümmert, als er von dem Zustand erfährt, in dem sie ihre Berliner Wohnung gefunden haben. Er klopft energisch mit der Hand auf den Tisch, als Doll von dem tyrannischen Beamten auf dem Wohnungsamt erzählt. Kurz, er scheint intensiv an jeder Lebensphase der Dolls teilzunehmen, und diese haben den Eindruck, daß er nicht nur hört und gleich wieder vergißt, sondern daß er schon beim Zuhören Schlüsse zieht, Entscheidungen fällt . . .

Und mit diesem Eindruck haben sie recht, denn in einer Pause des Gespräches sagt Granzow: »Ich denke, ich übersehe jetzt Ihre Lage und weiß, was geschehen muß.« Sie blicken ihn gespannt an. Er fährt fort: »Erstens müssen Sie eine anständige Wohnung bekommen, am besten in einer Gegend, die nicht zu kaputt ist. Zweitens muß man für einen Lastzug sorgen, der Ihre Sachen aus der Kleinstadt holt. Und drittens müssen Ihnen doch Lebensmittelkarten gegeben werden, möglichst Karte Eins oder doch die Zwei.«

Er lächelt väterlich-freundlich, als er ihre erstaunten, noch ungläubigen Blicke sieht. Sie hatten ja nur einmal ihr Herz ausschütten wollen, sie waren völlig bereit gewesen, sich selbst zu helfen. Nur ein bißchen Anteilnahme, ein wenig Aufmunterung wünschten sie. Und nun schien ihnen etwas bevorzustehen wie wirklich tatkräftige Hilfe!

»Ja«, fuhr Granzow lächelnd fort, »das alles wird sich schon machen lassen. Ich will gleich mal hören . . .« Und der große schwere Mann steht auf, verläßt rasch das Zimmer, läßt die beiden allein.

Sie sehen sich in die aufgehellten Gesichter. »Es ist nicht möglich«, sagte Doll. »Und doch ist es so. Es soll uns wirklich noch einmal geholfen werden!«

Und sie: »Ich habe meine zerschmissene Wohnung noch immer gerne gehabt, aber wenn wir eine Wohnung für uns allein bekommen . . .«

Und wieder er: »So einfach war es: nur mit diesem einen Menschen sprechen. Und wir wären beinahe zugrunde gegangen, Alma!«

Er fühlt es wie ein Schaudern in seinen Gliedern, und auch sie sitzt ganz still, zurückdenkend an den Weg, den sie bis hierher in den blauweißen Saal gingen. Die schlimme Zeit ist durchwatet, nun geht es wieder aufwärts. In diesem Augenblick denkt Doll mit keinem Gedanken daran, daß es vielleicht doch nicht ganz so einfach ist, daß es nicht mit einer Wohnung, mit Lebensmitteln und Sachen getan ist. Vergessen hat er jetzt, daß Krieg war, die Leidenszeit vorher, daß er ein leergebrannter Mensch ist, ohne Inhalt . . . Daß auch der hilfsbereite Granzow ihm diesen Inhalt nicht geben kann, daß er ihn sich selber schaffen muß, wieder einen Glauben gewinnen, nicht nur an sich, nein, vor allem auch an den deutschen Mitmenschen, an die ganze Welt, an den Sinn von Arbeit und Ausdauer, ein festes Vertrauen auf eine dem Menschen gedeihliche Zukunft – daß er von alledem nichts in sich hat.

An das alles denkt er in diesem Augenblick nicht. Sondern er sagt, während er sich aus ihren Armen löst: »Jetzt haben wir eine Chance, und, weiß Gott!, wir wollen sie nutzen! Auf uns soll es nicht ankommen, Granzow soll sich nicht mit uns blamieren!«

»Bestimmt nicht«, antwortet sie.

Granzow kommt lächelnd zurück. »Das läuft!« sagt er. »Am besten kommen Sie übermorgen noch einmal, dann kann ich Ihnen Näheres sagen! Würde Ihnen übermorgen ein Uhr recht sein –? Schön, sagen wir also Donnerstag um ein Uhr bei mir!«

Er schaut die beiden behaglich lächelnd an, wie ein Vater seine Kinder, mit denen er sehr zufrieden ist. Flüchtig fährt es Doll durch den Kopf, daß Granzow kaum älter als er sein kann, und doch kommt er sich so jung, so knabenhaft, so unreif neben ihm vor. »Und nun muß ich Sie noch etwas fragen, Doll«, fährt Granzow nach einer Pause fort. »Aber Sie müssen mir nicht antworten, wenn es Ihnen nicht behagt. Also: wie steht es mit Ihrer Arbeit? Sie verstehen: alle warten darauf . . . Haben Sie in der letzten Zeit etwas getan? Oder haben Sie Pläne für eine Arbeit –?«

»Ja«, beginnt Doll zögernd. »Ich habe da –«

Und Granzow sagt hastig: »Nein, wirklich, Doll, wenn es Ihnen irgendwie widerstrebt, über Ihre Pläne zu sprechen . . . Es ist nicht Neugierde, die mich fragen läßt.«

»Oh, ich verstehe«, antwortet Doll jetzt rascher. »Und es widerstrebt mir auch gar nicht, davon zu sprechen. Nur fürchte ich, es wird für Sie enttäuschend sein, Granzow. Denn ich habe eigentlich gar keine Pläne. Freilich, ich habe in dem letzten halben Jahre vor dem Zusammenbruch angefangen, meine Erinnerungen an die Nazis niederzuschreiben . . .«

»Aber das ist ja ausgezeichnet!« ruft Granzow.

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß es ausgezeichnet ist. Sehen Sie, ich habe keine großen Scheußlichkeiten erlebt, und die kleinen Nadelstiche, die ich erfahren, so minuziös aufzuzeichnen . . . Vielleicht hätte das Buch dadurch ein wenig Interesse, weil es zeigt, wie ein Mensch nur durch Nadelstiche bis an den Selbstmord getrieben werden kann . . .« Doll hat bis hierher zögernd, fast widerwillig gesprochen. Nun fährt er rascher fort: »Aber das alles ist so weit weg. Seitdem ist der Umsturz gekommen, ich habe so viel erlebt, darüber habe ich meinen Haß gegen die Nazis völlig verloren und gegen einen allgemeinen Menschenhaß eingetauscht. Die Nazis existieren für mich nicht mehr . . .«

»Oh! Oh!« protestiert Granzow. »Aber, Herr Doll! Ich glaube im Gegenteil, daß die Herren Nazis noch recht lebhaft existieren. Ich bekomme das manchmal sehr deutlich zu spüren.«

»Ja, vielleicht vereinzelte, ganz unbelehrbare.« Granzow schüttelte energisch mit dem Kopf. »Aber«, fuhr Doll fort, »wie dem auch sei, das Buch ist erledigt für mich.« Und auf eine bittende Gebärde des andern hin: »Ich kann mich, vorläufig wenigstens, nicht einmal dazu überwinden, hineinzusehen, es abzutippen . . .«

Er schwieg und sah Granzow an. Dieser sagte hastig: »Nun, bester Doll, niemand wird Sie zu etwas zwingen, das Ihnen widerstrebt. Kommt Zeit, kommt Rat. – Und wie steht es mit Ihren Plänen für die Zukunft –?«

»Nichts!« sagte Doll schuldbewußt. »Manchmal habe ich wohl an Romanschreiben gedacht, auch an bestimmte Themen. Aber alles kam mir so belanglos vor. Ich hatte immer das Gefühl, als müsse ich nach diesem völligen Zusammenbruch, auch meiner selbst, völlig neu und anders beginnen.« Er sprach rascher, er wiederholte ja nur das, was er vor anderthalb Stunden dem Lektor Völger gesagt hatte. »Nein«, meinte er abschließend, »es tut mir leid, daß ich Sie so enttäuschen muß, Herr Granzow, gleich beim erstenmal. Vielleicht kommt meine Arbeitslust wieder, wenn sich meine äußeren Verhältnisse erst ein wenig gewandelt haben. Ich brauche außer der äußeren auch eine gewisse innere Ruhe zum Produzieren.«

»Gewiß!« stimmte Granzow zu. Sie redeten noch ein paar Minuten miteinander, aber nicht mehr über Dolls Arbeit. Die alte fröhliche Kennenlernestimmung kehrte noch einmal zurück. Dann nahmen sie Abschied voneinander, mit dem Versprechen, sich übermorgen um ein Uhr wiederzusehen.

Als sie aber aus dem Hause traten, fragte ein Chauffeur in grauer Uniform: »Herr Granzow hat mir gesagt, ich soll Sie nach Haus fahren. Wohin darf ich Sie bringen –?«

Noch mehr Aufmerksamkeiten, noch mehr Verwöhnung! Aber noch stärkere innere Verpflichtung, so viel guten Glauben nicht zu enttäuschen.

Eine Weile saßen sie schweigend, von Glück überwältigt, im Wagen, vor sich den Fahrer. Dann stieß die Frau ihren Mann sachte an. »Du –!« flüsterte sie.

Und er fragte: »Ja, bitte –?«

»Ach, Junge –« sagte sie, »ich halte es ja vor Glück nicht mehr aus. Daß uns noch einmal geholfen wird! Ich möcht schreien! Schreien möcht ich vor Glück –!« Und sie plapperte wie ein verwöhntes Kind: »Jetzt mußt du deine Alma schrecklich fein gerne haben! Jetzt mußt du ihr schnell ein langes Küssing schenken! Tausend Küssings! Sonst schrei ich!«

»Der Chauffeur!« gab er zu bedenken und war doch so bereit, ihr den Willen zu tun.

»Chauffeur ganz alter Mann!« plapperte sie. »Chauffeur immer nur Wagen fahren, Chauffeur nix sehen! Du junger Mann, du Almakind tausend Küssings schenken, sonst schrei ich!«

Und so küßten sich denn Dolls lange, lange . . . So viel Zeit war vergangen, seit sie in einem Auto gesessen, daß sie nicht einmal daran dachten, daß ein Chauffeur einen Spiegel hat, in dem er sehen kann, was im Innern eines Wagens vorgeht. Wie Kinder glaubten sie sich völlig unbeobachtet.

Es war kein diskreter, aber es war ein Berliner Chauffeur. »Und wissen Sie, Herr Granzow«, sagte er, als er seinen Herrn an diesem Abend nach Haus fuhr und am Schluß seines Berichtes angelangt war, »und wissen Sie, die haben sich nicht wie jesetzte Eheleute abjeknutscht, sondern wie janz junget Jemüse. Und wat er is, der is doch schon ziemlich anjejangen, der muß doch so in unser Alter sind, Herr Granzow. Der is richtig, wenn der mit so'nem Temperament seine Bücher schreibt, dann fang ick ooch noch mal mit Lesen an, Herr Granzow –!«

 


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