Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Zehntes Kapitel.
Robinson geht in die Welt

So leise Doll geschlichen war – die verwitwete Major Schulz hatte ihn doch gehört. Kaum schnitt er sich die erste Scheibe vom Brot, so klopfte es sachte, und auf sein »Herein« erschien der Wuschelkopf der Schulz: »Ach, Herr Doktor Doll, wenn ich jetzt meine Sachen holen dürfte – falls ich nicht störe?«

»Holen Sie, holen Sie nur!« antwortete Doll. Doch fiel ihm plötzlich der Wutanfall ein, mit dem er diese Frau für die Sünden des Wohnungsamtes gestraft hatte, und er sagte: »Übrigens verzeihen Sie bitte, daß ich vorhin so ausfallend wurde. Ich hatte rechten Ärger gehabt auf den Ämtern, und meine Nerven gingen mir durch. Ich bin eben noch gar nicht gesund –«

Kaum gesprochen, bereute er seine Worte. Er spürte, er sah es förmlich, wie die eben noch verschüchterte Schulz wieder auflebte. Besonders die »Ämter« hätte er nicht erwähnen dürfen, denn gleich fragte sie: »Und was hat man auf dem Amt gesagt –? Wie ist wegen der Wohnung entschieden worden –?«

»Wie die Wohnung«, antwortete Doll ein wenig vorsichtiger, »zwischen mir und Fräulein Gwenda aufzuteilen ist, das wird noch entschieden. – Jedenfalls wird Ihnen das eine klar sein, gnädige Frau, daß ich nicht auf die Benutzung dieses Zimmers verzichten kann.«

Frau Schulzes Gesicht verzog sich. »Aber Herr Doll!« rief sie klagend. »Sie können mich doch nicht zu Anfang des Winters auf die Straße setzen! Ich will gerne ein anderes Zimmer suchen, aber bis dahin . . .«

»Bis dahin werden wir hier gemeinsam hausen zu zweien, und wenn meine Frau kommt, zu dreien . . .« Sie wollte etwas sagen. »Nein, nein, gnädige Frau, das kommt nicht in Frage. Ich weiß, Sie haben dies Zimmer immer nur gelegentlich benutzt . . .«

»Das ist eine Verleumdung!« rief die Schulz, und ihr fettes, weißes Gesicht bebte vor Entrüstung und Zorn. »Glauben Sie doch nicht ein Wort von dem, was die Gwenda sagt! Diese Schauspielerin – sie lügt ja schon von Berufs wegen!«

»Ich habe mit Fräulein Gwenda über Sie nie ein Wort gesprochen, Frau Schulz!«

»Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie bitte! Ich weiß schon, es ist diese Schlange gewesen, die Portierfrau, das Naziweib! Immer will sie mir was anhängen! Aber die bringe ich noch ins Gefängnis! Was die hier allein aus Ihrer Wohnung geklaut hat, bis ich ihr die Schlüssel abgenommen habe! Eimer und Töpfe und Bilder – Ihre Frau soll bei der unten nur richtig nachsehen, einen halben Hausstand findet sie da! Natürlich habe ich hier immer gewohnt, jeden Tag!«

»Also«, sagte Doll, »Sie haben das Zimmer regelmäßig, Tag für Tag, benutzt –?«

»Immer, immer! Ich sage Ihnen ja, seit vorigem Jahre –«

»Dann werden Sie mit mir einig sein, daß wir endlich einmal wegen Miete usw. abrechnen. Ich habe nicht alles so genau wie Sie angeschrieben, ich mache es darum auch billig. Sagen wir für die Miete und die Möbel- und Küchenbenutzung während all der Zeit zweihundert Mark und für Gas und Elektrizität noch einmal einhundert Mark, macht Summa dreihundert Mark. Wenn ich bitten darf, gnädige Frau –?«

Und er streckte die Hand aus.

Unwillkürlich hatte Frau Schulz sich gesetzt, aber wohl nicht so sehr der Bequemlichkeit halber, sondern weil der Schreck ihr in die Beine gefahren war. Diesen Angriff hatte sie nicht erwartet. »Ich habe kein Geld!« murmelte sie und hielt die Tasche sehr fest. »Keine zwanzig Mark . . .«

»Oh!« meinte Doll beruhigend. »Das macht nichts. Geben Sie mir jetzt erst einmal die zwanzig Mark. Ich bin auch mit Abschlagszahlungen einverstanden. Und bis die Dreihundert zusammen sind, lassen Sie mir vielleicht die Steppdecke hier! Ich kann sie im Augenblick sehr gut gebrauchen.«

»Nein! Nein! Nein!!!« Frau Major Schulz schrie jetzt geradezu. »Ich bezahle das nicht! Das war nie ausgemacht! Ich habe mit Ihrer Frau vereinbart, daß ich hier auf Ihre Sachen aufpasse, und dafür habe ich hier wohnen dürfen.«

»Aber Sie erzählten mir doch eben selbst, daß so viel von meinen Sachen fortgekommen ist! Wie hat denn das geschehen können, wenn Sie so aufpaßten? Nein, Frau Schulz, die dreihundert Mark müssen Sie schon zahlen. Vielleicht erinnern Sie sich: ich habe Ihre Rechnungen über soundso viel Zigaretten auch anstandslos bezahlt, über dies und das Brot, über so viele Pfund Kartoffeln – nein, meine Forderung ist wirklich billig. Ich bin überzeugt, meine Frau wäre gar nicht einverstanden, die würde noch viel mehr verlangen . . .«

»Ihre Frau hat mir ausdrücklich gesagt, ich hätte hier nichts zu bezahlen!«

»Nein, gnädige Frau, das hat sie bestimmt nicht gesagt. Darüber wollen wir gar nicht erst reden. Das ist so, und das Geld müssen Sie bestimmt bezahlen, und je eher, um so besser!«

»Und meine Steppdecke?« rief Frau Schulz. »Herr Doktor, liebster, bester Herr Doktor, ich bin viermal ausgebombt, und alles, was ich gerettet habe, ist diese Steppdecke. Herr Doktor, Sie können so hartherzig nicht sein! Ich besitze nichts mehr, ich bin eine arme Frau, und ich werde alt!« Sie hatte seine Hand gefaßt, sie sah ihn mit Augen an, in denen Tränen schwammen. »Die Zigaretten!« flüsterte sie wie zu sich. »Er hat mir die Zigaretten übelgenommen. Ich habe Ihnen wirklich nicht zu viel angerechnet – oder doch nur ganz, ganz wenig! Sie werden mir doch mein Leben gönnen – von den Zigaretten lebe ich doch, auch ich will doch leben! Wozu habe ich mich denn durch die letzten Jahre gerettet, wenn ich jetzt verhungern soll?! Nein, die Zigaretten dürfen Sie mir nicht übelnehmen, und meine Steppdecke lassen Sie mir auch! Sie sind nicht so hartherzig, wie Sie jetzt tun. Ich kann die Dreihundert bestimmt nicht bezahlen. Ja, wenn die mir meine Pension zahlten! Aber nichts, nichts – Und der Führer hat doch gesagt . . .«

Jetzt hatte sie sich ganz verwirrt und sah Doll nur mit ihren tränenden Augen flehend an. Seine Hand hatte sie fest zwischen ihre unangenehm warmen und feuchten Hände gepreßt.

»Gnädige Frau!« sagte er und befreite seine Hand mit einem Ruck, der nicht höflich war. »Gnädige Frau, Tränen verfehlen bei mir ihre Wirkung, meist machen sie mich nur gereizt. Sie haben eben selbst zugegeben, daß Sie über die Zigaretten nicht korrekt abgerechnet haben, so glaube ich Ihnen auch kein Wort von Ihrer Armut. Sie dürfen Ihre Decke behalten, wenn Sie mir die Dreihundert bezahlen! Wenn nicht, bleibt die Decke hier.«

»Nein!« sagte nun Frau Major Schulz, und ihre ganze fieberhafte Erregung war auf einen Schlag verschwunden. »Nein, ich bezahle das Geld nicht. Sie können ja gegen mich klagen. Ihre Forderung ist unberechtigt. Ihre Frau hat mir ausdrücklich gesagt –«

»Das war schon erledigt, Frau Schulz. Also bleibt die Decke hier!«

»Schön«, sagte Frau Schulz trocken. »Auch gut, Sie werden sehen, was Sie davon haben, Sie und Ihre Frau! Morphinisten, das ist auch verboten –!«

»Nicht so schlimm wie betrügerischer Zigarettenhandel.« Aber dann ekelte ihn die Wendung, die dieses Gespräch nahm. »Danke, Frau Schulz, wir haben nichts mehr zu besprechen. Nehmen Sie noch aus dem Küchenbüfett und aus der Speisekammer Ihre Sachen. Und geben Sie mir die Hausschlüssel –«

»Ich gebe die Schlüssel nicht her! Ich lasse mich nicht so auf die Straße setzen –!«

»Die Tasche!« schrie Doll. Plötzlich war er doch wieder zornig geworden, zu seiner eigenen Überraschung. Er nahm ihr die Tasche einfach aus der Hand. Sie schrie leicht auf. »Haben Sie nur keine Angst, ich nehme Ihnen schon nichts fort!« Die Tasche war vollgestopft mit Briefen, allem möglichen Toilettenkram, mit Zigarettenpackungen. »Wo haben Sie denn die Schlüssel!« fragte Doll und wühlte tiefer. Ein Packen Geld kam ihm in den Weg, es waren blaue Scheine, Hundertmarkscheine, dreißig bestimmt, vielleicht sogar vierzig. Er gab sie ihr in die Hand. »Hier sind auch Ihre zwanzig Mark, Sie arme Frau, die nichts mehr besitzt, die darauf warten muß, daß der Führer ihr die Pension zahlt . . .« Endlich hatte er die Schlüssel. »Ist da noch ein Privatschlüssel am Bund?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts . . .« flüsterte sie und hielt, immer noch ganz fassungslos, das Bündel Scheine in der Hand.

»Ich sehe es!« bestätigte Doll und gab ihr die Tasche wieder. »Schönen Dank. Und wenn Sie jetzt gehen würden –?«

Einen Augenblick stand sie unschlüssig, dann legte sie plötzlich drei Hundertmarkscheine auf den Tisch. Ohne Blick. Ohne Wort. (›Ob sie sich vielleicht doch schämt? Unwahrscheinlich!‹) Sie ging aus dem Zimmer . . .

»Ihre Decke«, rief Doll ihr nach. »Sie vergessen Ihre Decke!«

Sie ging weiter, den Gang hinunter, an der Küche vorbei. »Ihre Sachen im Büfett!« schrie Doll. Umsonst. Die Flurtür klappte, Frau Schulz war gegangen.

Mit einem Achselzucken kehrte Doll zu seinem Brot zurück. Trotz des Geldes war er nicht recht zufrieden mit diesem Ausgang der Unterredung. Die Dreihundert, deren Anblick ihn ein wenig störte, verwahrte er schließlich in seiner Tasche. Nach den Preisen, die Alma heute im Krankenhaus bezahlte, entsprachen sie freilich nur 15 Zigaretten oder einer Friedensmark. Ihm aber waren sie viel mehr wert, und nicht nur darum, weil er sie sich erkämpft hatte.

Es war unterdes ganz dunkel geworden. Sein Brot aß er bei Licht und konnte sich wieder einmal darüber verwundern, wie schnell es sich fortißt. Immer wieder sagte er sich: ›Dies ist nun wirklich die allerletzte Scheibe!‹ und immer wieder nimmt er nach kurzem Schwanken eine neue. Er ißt das Brot trocken, die Marmelade und das Fett sollen bleiben bis zur Rückkehr von Alma.

Dann nimmt er die Eßwaren und will sie wieder in Pettas angebrannte Wickelkommode zurücktragen. Da fällt ihm ein, daß er ja die Schlüssel zur Speisekammer seit Mittag in der Tasche hat, und er geht in die Küche.

Dort befindet sich das Fräulein Gwenda. Sie trägt jetzt einen silbergrauen Pelz und ist bemalt, als solle sie von der Küche sofort auf die Bühne. Es stellt sich aber heraus, daß sie nur einer Einladung von Freunden folgen will. Fräulein Gwenda beginnt ein Klagelied darüber, wie kalt es jetzt ist, daß man es im Winter in der Wohnung vor Kälte nicht aushalten wird. Jawohl, sie hat sich »schwarz« ein Öfchen gekauft, und in den nächsten Tagen wird sie auch »schwarze« Briketts bekommen, das Stück zu Zwofünfzig. Nein, das ist billig, unerhört billig, es werden schon vier Mark für das Brikett gezahlt. Und was wird er im Winter machen? Er kann doch nicht immer das elektrische Heizöfchen brennen lassen, dann sperren sie den Strom ab, und alle sitzen im Dunkeln –!

»Hören Sie, Fräulein Gwenda!« unterbricht Doll diesen Bericht, der ihn nicht grade ermuntert. »Hören Sie, Fräulein Gwenda, ich habe die Schulz aus der Wohnung gesetzt und ihr die Schlüssel abgenommen. Sie hat hier also nichts mehr zu suchen. Nur, daß Sie Bescheid wissen . . .«

Die Gwenda verzieht schnell ihr buntes Gesicht, das soll wohl ein Lachen sein, und sie sagt: »So, sind Sie ihr also auch auf die Schliche gekommen!?! Ich dachte mir schon, daß das nicht mehr lange gehen würde. Nun, ich weine ihr keine Träne nach.«

»Sie haben also auch schon Erfahrungen gemacht!« stellt Doll fest. »Das Küchenbüfett, denke ich, lassen wir von jetzt an offen, jeder nimmt von dem Geschirr, was er grade braucht. Es wird schon für beide reichen. Die Vorräte aber tut jedes in eine Speisekammer und nimmt den Schlüssel an sich. Welche wollen Sie, die rechte oder die linke?«

Fräulein Gwenda möchte die linke, im übrigen ist sie mit allem einverstanden. »So, und nun wollen wir beide doch gemeinsam nachsehen, was an Vorräten von der Schulz etwa noch vorhanden ist, damit sie uns nicht nachher einen Vorwurf machen kann . . .«

»Oh, was soll von der da sein?« sagt die Gwenda verächtlich. »Sie hat ja immer nur aus der Einkaufstasche in den Mund gelebt.«

Und das mußte wirklich so sein, denn außer ein wenig Gewürzen, zwei Zwiebeln und einer Handvoll Kartoffeln fanden sie nichts. Doll zog also in die Speisekammer ein, und stattlicher als zu der Schulz Zeiten sah es jetzt doch darin aus!

Dann schließt er ab. Über alledem ist es spät geworden, draußen ist es schon dunkel. Es stürmt, der Wind drückt gegen das Zellophan des Fensters, und manchmal fegt Regen prasselnd dagegen. Trotzdem will Doll noch in das Krankenhaus zu Alma gehen. Den ganzen Tag hat ihm dieser Besuch vorgeschwebt. Er hat es sich so schön vorgestellt, wieder bei ihr auf dem Bettrand zu sitzen, leise spielt das Radio, vielleicht hat sie wieder was zu rauchen da . . . (Obwohl es eigentlich bei ihren Geldverhältnissen eine Sünde und Schande ist!)

Am besten sagt er ihr noch nichts davon, daß er aus dem Sanatorium rausgesetzt worden ist, das würde sie nur beunruhigen. Sie würde sich Sorgen machen, wie er allein in der Wohnung zurecht kam. Sie würde ihre Entlassung fordern, ihre Wunde aber war noch nicht in Ordnung. Er wird so tun, als sei er denen wieder ausgerissen. Es wird ihm schon eine kleine Geschichte einfallen, die er ihr erzählen kann.

Mit diesen Gedanken beschäftigt ist Doll die Treppe hinuntergestiegen, nun bläst ihn der eisige Novemberwind an, dicke Regentropfen peitschen ihm ins Gesicht. Er schauert zusammen. ›Es ist eben doch nur ein Sommermantel‹ denkt er. Und bleibt stehen. Ob Sommermantel oder nicht, mit dem Mantel kann er nicht ins Krankenhaus kommen, der Mantel verrät sofort, daß er nicht mehr im Sanatorium ist! Er muß in dem dünnen Sommeranzug gehen, und bei diesem Gedanken schaudert Doll noch stärker. ›Ich könnte den Mantel beim Pförtner abgeben‹, überlegt er. Aber das geht auch wieder nicht. Dann bedauert und bewundert sie ihn, daß er bei solchem Wetter zu ihr gekommen ist, und plötzlich entdeckt sie, daß der Anzug trocken ist, während es draußen gießt.

Nein, hier kann er nicht schwindeln, er muß im Jackett gehen. ›Ich könnte sagen‹, fällt ihm wieder ein, ›daß mir jemand im Sanatorium den Mantel geborgt hat. Aber auch das ist verdammt unwahrscheinlich. Ich kneife da heimlich aus und borge mir dazu einen Mantel. Außerdem könnte Alma den Sommermantel des Herrn Franz Xaver Grundlos wiedererkennen – Frauen haben einen Blick für so was. Nein, es bleibt nichts anderes übrig, ich muß und muß im Jackett gehen!‹

Es war wirklich ein miserables Wetter, naß und kalt, und als Doll ins Treppenhaus zurückging, empfand er wieder die Windstille der Luft dort wie Wärme – ganz wie am Vorabend. Aber erst, als er wieder in sein Zimmer trat und die behaglich rotglühende Scheibe des Heizöfchens sah, kam ihm der Gedanke, daß er überhaupt nicht zu gehen brauchte. Denn mit Sicherheit erwartete ihn die Alma nicht. Jetzt, wo es im Krankenhaus schon Abendbrotzeit war, hoffte sie wohl auch nicht mehr auf ihn. Es war also keine Notwendigkeit, in die dunkle, nasse Kälte zu laufen und sich halbtot zu frieren. Er konnte glatt zu Hause bleiben, ins warme Bett kriechen, noch eine Weile lesen und dann morgens seinen Besuch am hellen Tage und bei hoffentlich besserem Wetter machen.

Aber gleich schüttelte Doll mit dem Kopf; er stampfte sogar mit dem Fuß auf, so entschlossen war er. Denn er hatte sich diesen Besuch nun einmal vorgenommen, und er wollte nicht wieder – nie wieder wollte er in die Gewohnheiten der letzten Monate verfallen, in die Stumpfheit und Apathie, in das gleichgültige Sichgehenlassen. Und schnell, als habe er Angst, er könne noch andern Sinnes werden, riß er den Mantel vom Leibe, warf ihn über den Sessel und lief wieder die Treppen hinunter, lief in den stürmischen, eiskalten Regen hinaus. Und so schnell lief er immer weiter, daß er gar nicht recht darauf merkte, wie sehr ihn fror, daß er wieder über die verschobene Granitplatte stolperte, nein, nichts von alldem drang so recht in sein Bewußtsein. Sondern er hatte immer die sanfte Helle des Krankenzimmers vor sich, mit der gedämpften Radiomusik, und er hörte sich, noch atemlos vom raschen Lauf »Guten Abend, Alma!« rufen und sah ihr glücklich aufstrahlendes Gesicht.

Und während er noch, von dieser festlichen Erwartung angefeuert, lief, war es ihm, als laufe er von seiner ganzen zerschlagenen, entgötterten Vergangenheit fort, in der er mit einem falschen und dummen Stolz auf sein Einzelgängertum und seine Robinsonade gelebt hatte. Ihm war, als laufe der arm gewordene Mann nun einer besseren, helleren Zukunft entgegen.

So kam er, als habe ihn der Wind mühelos dorthin geweht, in den Eingang des Krankenhauses. Hier verhielt er einen Augenblick, trocknete sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab und putzte die vom Regen beschlagene Brille. Dann strich er sich das Haar mit den Händen glatt – den Kamm hatte er natürlich wie immer vergessen. Dann, als er ein wenig ruhiger atmete, stieg er langsam die Treppen hinauf, kam unangehalten, ja, ungesehen bis an die Tür ihres Zimmers, klopfte und trat rasch ein.

Er sah, ganz wie er erwartet und doch tausendmal schöner als er erwartet, das freudige Aufglänzen ihres Gesichtes und hörte sie rufen: »Ach, mein Junge, mein Junge, du! Bist du denen doch wieder weggelaufen? Ich habe es doch den ganzen Tag gefühlt, daß du kommen würdest!«

Und er lief mehr zu ihrem Bett, als er ging, er neigte sich über sie und küßte sie und flüsterte: »Nein, Alma, diesmal bin ich denen nicht weggelaufen! Ich bin schon seit gestern abend dort rausgesetzt. Ich habe es dir eigentlich nicht sagen wollen, aber als ich dein glückliches Gesicht sah, konnte ich plötzlich nicht lügen!«

Und er setzte sich zu ihr und erzählte ihr alles, was er seit seinem Fortgange gestern erlebt hatte, auch seinen so verfehlten Weg auf die Ämter, der ihn fast wieder mutlos gemacht hätte, und seinen Kampf mit der Schulz, und zum Schluß berichtete er die Geschichte von dem so töricht zurückgelassenen Mantel. »Und nun habe ich ganz umsonst gefroren! Das heißt, vielleicht habe ich grade nicht umsonst gefroren. Ich weiß noch nicht, weil das Ganze wie eine Wandlung ist. Und überhaupt – ich habe gar nicht richtig gefroren, ich hatte wenigstens keine Zeit, darauf zu achten.«

Und er sah sie dabei so an, daß sie seinen Kopf zu sich herunterzog und flüsterte: »Ach du, wie siehst du mich plötzlich an?! Weißt du auch, daß ich dich schrecklich liebhabe, und daß du plötzlich dreißig Jahre jünger aussiehst?! Am liebsten risse ich jetzt auch aus und ginge heute abend noch mit dir in unser Häuserchen!«

In dem gleichen Augenblick, da sie diese Worte gesprochen hatte, sah er an der Veränderung ihres Gesichtes, daß der plötzliche Einfall, sofort mit ihm nach Haus zu gehen, Gestalt in ihr annahm, daß aus dem flüchtigen Wunsch schon sehnlichstes Verlangen, und – ein wenig später – feste Absicht geworden war. Sie hatte ihre Wunde völlig vergessen. Sie murmelte: »Ich werde es schon schaffen! Und wenn die mich so nicht rauslassen, mache ich es wie du und entlasse mich selbst!« Und strahlend: »Denke doch, wie schön das sein wird: heute abend werden wir beide wieder beisammen sein!«

Er antwortete ärgerlich: »Daran ist gar kein Gedanke, Alma! Denke doch bitte an deine Wunde, die noch täglich behandelt und verbunden werden muß! Du mußt jetzt erst ganz gesund werden. Ich helfe mir schon so lange. Nur nicht wieder mit dieser elenden Bettliegerei anfangen!«

Sie sagte ihm trotzig, sie tue noch immer, was sie wolle! Und nun werde sie erst recht heute abend von hier fortgehen!

Er kannte ihre Starrköpfigkeit, ihm blieb nichts anderes übrig, als einzulenken, zu beschwichtigen, gute Worte zu geben. Lange glückte es ihm nicht, sie blieb bei ihrem Entschluß, sich heute noch gesund schreiben zu lassen. »Den jungen Arzt kriege ich schon herum!«

Dieser Streit zog sich ohne jede Aussicht auf Ende und Erfolg immer weiter hin. Schon ein paarmal hatte die madonnenhaft lächelnde Nonne gesagt, Herr Doll müsse nun wirklich gehen. Das Abendbrot stand längst auf dem Nachttisch. Schließlich, als er endlich Abschied nahm, erreichte er von ihr das Zugeständnis, daß sie wenigstens heute abend noch nicht, und keinesfalls vor Rücksprache mit dem Chefarzt fort wollte. So glücklich der Abend begonnen hatte, so verstimmt endete er: beide Teile hatten nicht erreicht, was sie wollten, und beide waren sie darum verärgert.

Als Doll über den Flur fortging, sah er durch eine offene Tür in einem Zimmer einen jüngeren Mann stehen, in einem weißen Ärztekittel. ›Aha, da wollen wir doch gleich mal sehen!‹ dachte er, ging in das Zimmer und machte sich bekannt. Es zeigte sich, daß der junge gelbliche Mann wirklich der Arzt vom Nachtdienst war. Doll, dem sein Gegenüber vom ersten Augenblick an mißfallen hatte, sagte: »Meine Frau hat zu mir eben den Wunsch geäußert, sofort entlassen zu werden. Ich habe es ihr ausgeredet. Ich nehme an, daß dies in Ihrem Sinne ist. Der Zustand der Wunde –«

»Ist ausgezeichnet!« setzte der Arzt Dolls Worte rasch fort. Er schien ähnliche Gefühle wie Doll gegen ihn zu hegen. »Krankenhausaufenthalt nicht mehr nötig. Ambulante Behandlung genügt vollkommen. Wenn Ihre Frau zweimal wöchentlich zum Verbinden kommt, ist das ausreichend.«

»Ich habe meine Frau gebeten und habe auch ihr Versprechen, daß sie erst einmal mit dem Chefarzt über diese Entlassung spricht«, fuhr Doll unbeirrt fort, nur klang seine Stimme etwas gereizter. »Denn außer der Wunde handelt es sich ja wohl noch um eine fast regelmäßig allabendlich verabfolgte Morphiumspritze, nicht wahr –? Vor einer Entlassung müßte diese Spritze doch wohl völlig abgesetzt sein, oder nicht –?«

Es war kein Zweifel; der junge Arzt war bei diesem Angriff zusammengezuckt, und sein gelbliches Gesicht sah jetzt fahl aus. Aber er faßte sich rasch und antwortete, wobei er die Überlegenheit des Fachmannes über den unwissenden Laien geflissentlich übertrieb: »Ach, die Spritze – Ihre Frau hat Ihnen davon erzählt? Nun, auch in diesem Falle kann ich Sie beruhigen: Ihre Frau glaubt, daß sie Morphium bekommt. In Wahrheit habe ich ihr im Anfang harmlose Ersatzmittel gegeben, in letzter Zeit nur noch destilliertes Wasser . . .«

Der Arzt lächelte bei diesen Worten so häßlich, daß Doll versucht war zu rufen: ›Und für destilliertes Wasser hast du dir teure amerikanische Zigaretten schenken lassen! Wie anständig das ist –! Außerdem glaube ich kein Wort davon. Alma weiß sehr wohl die Wirkung von Wasser und Morphium zu unterscheiden. Das ist alles bloß Schwindel, um dich vor deinem Chef zu sichern!‹

Aber er sagte von all diesem nichts, denn wozu konnte solch eine gereizte Unterhaltung führen –? Sondern er meinte statt dessen: »Soviel ich von diesen Dingen verstehe, muß auch der Glaube an Wasser, das für Morphium gehalten wird, erst abgewöhnt werden, oder meinen Sie nicht?«

Der Arzt lächelte wieder auf seine häßliche Art. »Ach!« meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »So kompliziert sind diese Dinge nun doch wieder nicht. Ich denke, wir beide gehen jetzt an das Bett Ihrer Frau, und ich eröffne ihr das Notwendige. Sie werden erleben, daß von einem Schock nicht die Rede sein kann, im Gegenteil, es wird wohl ein gewisses Gefühl der Erleichterung auftreten.«

»Nein!« sagte Doll, und seine Augen sahen jetzt sehr böse darein. »Ich denke gar nicht daran, auf einen derartigen Vorschlag einzugehen. Das hätte nur zur Folge, daß sich der Zorn meiner Frau gegen mich, statt gegen Sie richten würde. Es bleibt dabei: ich bespreche die Sache zuerst mit dem Chefarzt, und ich bitte Sie dringend, vorher diese Unterredung bei meiner Frau nicht zu erwähnen!«

Jetzt lächelte der Weißkittel völlig überlegen. »Machen Sie sich nur keine Sorgen, Herr Doll!« sagte er voll hämischem Trost. »Ich werde Sie schon nicht vor Ihrer Frau bloßstellen, Sie werden nicht die Allgewalt ihres Zornes zu spüren bekommen. Selbstverständlich war das nur ein Vorschlag von mir, daß Sie bei der Eröffnung zugegen sein sollten! Ich mache das natürlich auch gerne alleine . . .«

»Ich wünsche keine Eröffnung heute abend!«

»Nun«, meinte der Arzt unbestimmt, »ich werde ja hören, was mir Ihre Frau von Ihrem Besuch erzählt. Selbstverständlich richte ich mich ganz nach dem augenblicklichen Zustand der Patientin.« Er sah sein Gegenüber an, wie überlegend, was etwa noch zu sagen sei. Dann griff er in die Tasche seines Arztkittels und zog ein Päckchen amerikanische Zigaretten hervor. »Bitte schön!« sagte er zu dem völlig Überraschten. »Aber ich bitte sehr –!«

Und Doll, der geschlagene, aus dem Konzept gekommene, völlig verblüffte Doll nahm eine Zigarette . . . Im Augenblick darauf hätte er sich wegen dieser Dummheit, wegen dieses Mangels an Geistesgegenwart ohrfeigen können! Jawohl, dieser junge hämische Intrigant hatte ihn geschlagen, in allen Punkten, und nun, da er sich durch die Annahme einer Zigarette solche Blöße gegeben hatte, war nicht daran zu denken, noch einmal von der Sache zu reden.

So wechselten die Herren nur noch ein paar höfliche, aber matte Worte, und Doll ging voll Wut heim, voll Wut über sich selbst und seinen ewigen Mangel an Schlagfertigkeit und Geistesgegenwart.

Einziger Trost bei alledem war, daß Alma ihm fest versprochen hatte, nicht schon heute ihre Entlassung zu verlangen, sondern zu warten, bis er oder sie mit dem Chefarzt gesprochen hatte. Als Doll aber weiter nachgrübelte, fand er diesen Trost nur gering. Denn wenn er auch sicher war, daß Alma ihr Wort hielt, so schien es ihm doch sehr möglich, daß der junge Arzt redete und damit das erreichte, was Doll im Augenblick für das verderblichste hielt: die vorzeitige Entlassung Almas.

Auf seinem Hinweg zum Krankenhaus hatte ihn die freudige Erwartung weder Kälte noch Regen fühlen lassen, auf dem Heimweg waren es die grüblerischen Gedanken, die ihn unempfindlich gegen den Regen der stürmischen Novembernacht machten. Er kam erst von diesen Gedanken ab, als er, schon in der Nähe seiner Wohnung, so kräftig gegen einen Mann anrannte, daß er ihn zu Fall brachte. Er half ihm gleich wieder mit um Verzeihung bittenden Worten auf und erwartete mit einer gewissen Ergebung, daß der Hingestürzte ihn jetzt mit einem ganzen Schwall von Beschimpfungen und Drohungen überschütten würde. Aber das geschah zu seiner Überraschung nicht, sondern sein in der Dunkelheit ihm völlig unkenntliches Gegenüber fragte zaghaft: »Haben Sie eigentlich schon etwas getan, um in der Literatur wieder Ihren Platz einzunehmen, Herr Doll –?«

Er war so verdutzt über diese unerwartete Ansprache in der Nacht, daß es eine lange Zeit dauerte, bis er endlich begriff, wer da zu ihm sprach und wen er in den Dreck gerannt hatte: nämlich den papierenen Arzt, der in Berlin als erster seine Frau behandelt hatte. Schließlich sagte er, etwas töricht: »Ach, Sie sind es, Herr Doktor! Ich bitte wirklich sehr um Entschuldigung. Hoffentlich habe ich Ihnen nicht weh getan . . .«

»Ich glaube«, sagte der andere und war noch immer Meister in der Kunst, nicht zu hören, was ihn nicht interessierte. »Ich glaube, man muß sich jetzt beeilen, wenn man eine Rolle spielen will. Alle möglichen ganz unbekannten Leute scheinen sich schon wieder um die Futterkrippe zu drängen . . .«

Es klang dies nicht so sehr neidisch, sondern wie alles, was er sagte, wesenlos, in den Nebel gesprochen, ohne Resonanz in ihm und um ihn. Sie gingen nun nebeneinander ihren benachbarten Heimen zu. Der gespenstische Arzt fuhr fort: »Auch bilden sich schon wieder alle möglichen Vereine, Bünde, Kammern, Gruppen – aber noch in keinem Falle hat man mich aufgefordert, daran teilzunehmen. Und ich war doch früher einmal ein recht bekannter Schriftsteller; nicht so bekannt wie Sie, Herr Doll, aber doch recht angesehen –.«

Sie waren während dieser Worte ihrem Ziele immer näher gekommen, nun machte es sich ganz von selbst, daß Doll neben dem Arzt in dessen Haus und Wohnung ging und dort in sein leidlich angewärmtes Behandlungszimmer, wo sie sich wieder ohne weiteres vor und neben dem Schreibtisch niederließen. Der weiß lackierte Behandlungsstuhl mit seinen Greifern für die Beine sah genau so gespenstisch wie sein Herr darein. Etwas Unwirkliches war an alledem, so als läge Doll in einem Traum, aus dem er gleich erwachen müsse.

Der Arzt aber fuhr fort: »Es ist ganz, als hielten mich alle für tot, so sehr bin ich schon vergessen. Aber ich kann nicht ganz vergessen sein, ich lese die Namen alter Freunde in den Zeitungen. Ich habe sie nicht vergessen, sie können mich nicht vergessen haben. Aber nichts! Kein Laut! Als wenn ich tot wäre – aber ich bin noch nicht tot, noch nicht!«

Einen Augenblick schwieg er und sah Doll mit seinen braunen, ausdruckslosen Augen an, starr, ohne zu blinzeln. Der sagte, um den andern zu trösten: »Auch an mich hat sich noch niemand gewendet . . .«

»Nein!« sagte das papierne Gesicht mit bei ihm ganz ungewohntem Nachdruck. »Nein! Ich habe mir keinen Vorwurf zu machen!« Er beantwortete eine Frage, die ihm nicht gestellt war: »Nein, ich war nie ein Nazi. Natürlich bin ich eine Weile bei der Wehrmacht Arzt gewesen, das ist etwas, dem sich niemand entziehen konnte. Aber nie in der Partei – und jetzt dieses Schweigen, als hielten sie mich für einen Nazi. Was macht man dagegen –?«

Jetzt sah er sein Gegenüber mit rasch blinzelnden Augen an, und die papierdünne Haut über den Backenknochen schien beinahe rosig. »Wogegen soll man etwas tun –?« fragte Doll. »Gegen das Übergangenwerden –? Warum melden Sie sich nicht bei einem Ihrer alten Freunde –? Vielleicht wissen die gar nicht, daß Sie noch leben. So viele sind noch in der letzten Zeit zugrunde gegangen –.«

»Ich habe Briefe geschrieben, viele Briefe!« antwortete der Arzt. »Sehen Sie, eine halbe Schublade voll!« Er zog eine Lade des Schreibtisches auf und zeigte Doll ein Häuflein Briefe, kuvertiert und adressiert und mit der Bärenmarke der Stadt Berlin versehen. Der Arzt fuhr hastig fort: »Ein Brief ist wie ein Ruf, schon wenn man ihn schreibt, ruft er den Angeschriebenen.« Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Wer will mir einen Vorwurf machen? Und nie ein Nazi! Nie! Wirklich nicht!« Er blinzelte heftiger.

Doll hatte das sichere Gefühl, daß dieser Doktor Pernies doch noch so weit an dieser Welt teil hatte, daß er sich von etwas quälen ließ, ja, daß er zur Abwendung dieser Qual sogar zu einer Lüge imstande war. Mindestens schien die stets wiederholte Versicherung, er sein kein Nazi gewesen, verdächtig. Das erinnerte an jenen Bierverleger, der seinem Bürgermeister immer wieder schwor, er habe bestimmt nichts versteckt – bis das Versteck doch gefunden wurde.

Doll stand auf. »Ich würde die Briefe absenden«, sagte er.

Doch der Arzt war schon wieder ganz undurchdringlich und weltfern. »Natürlich!« sagte er tonlos. »Bloß, welchen sende ich ab –? An wen –? All diese Menschen sind von einer unglaubhaften Eitelkeit, der, an den ich mich nicht gewendet habe, fühlt sich übergangen. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!«

Doll trat in die Nacht hinaus. Vielleicht hatte Alma unterdes mit dem jungen Arzt ihre Entlassung besprochen und war jetzt schon in der Wohnung? Er beschleunigte seinen Schritt.

Aber als er das Zimmer betrat, war es leer. Keine Alma war gekommen, er war diesen Abend noch allein; vielleicht mußte er noch manchen Tag an ihrem künftigen Leben allein bauen. Er hatte die Absicht, möglichst bald zu seiner Arbeit und damit zu einem sinnvollen Leben zu kommen. Dazu mußte er die Leute, die heute Bescheid wußten, kennenlernen, er mußte erfahren, was es heute bereits wieder an Veröffentlichungsmöglichkeiten, an Zeitungen, Zeitschriften, Verlagen gab. Doch wohin sich wenden –? Er war nun zwei Monate in der Stadt Berlin, aber er wußte nichts, er wußte gar nichts von dem, was seit dem großen Umsturz hier geschehen war. Nie hatte er in eine Zeitung gesehen – ein beschämendes Geständnis, das er sich da machen mußte!

Während Doll so vor sich hindachte, hatte er sein Zimmer einigermaßen sauber und ordentlich gemacht. Er hatte auch alles für sein Abendessen zurechtgestellt und sich einen Kaffee gekocht. Nun klopfte er leise gegen Fräulein Gwendas Tür und fragte die öffnende Mutter höflich, ob vielleicht ein paar Zeitungen zur Hand seien, es könnten ruhig auch ältere sein. Er werde sie morgen früh zurückgeben.

Er bekam einen ganzen Packen Blätter und zog sich mit ihnen in seine Stube zurück. Aber er aß an diesem Abend sein Brot und trank seinen Kaffee, ohne etwas davon zu merken. Sondern er las, las in den Zeitungen, neuen und älteren, las selbstvergessen, so wie er nur als Fünfzehnjähriger seinen Karl May gelesen hatte, ohne Gedanken an irgend etwas anderes. Er las alles: Innen- und Außenpolitik, Eingesandtes und Feuilleton, Kulturnotizen und Inserate: er verschlang die Zeitungen von der ersten bis zur letzten Seite.

Und während er so tat, öffnete sich die Welt vor ihm, in der er bis dahin blind gelebt hatte, jedes Ding war klar zu erkennen. Da war er durch die Straßen dieser Stadt gelaufen und hatte sich nicht ein einziges Mal Gedanken darüber gemacht, wer denn eigentlich die Panzersperren beseitigt, die Schuttgebirge fortgeräumt und die Verkehrsmittel wieder in Gang gesetzt hatte. Er hatte sie auf den Straßen arbeiten sehen, und es war ihm höchstens ein bißchen komisch vorgekommen, daß die Leute wieder arbeiteten – wozu denn? Oder er hatte gedacht: ›Das sind die ehemaligen Nazis, die müssen arbeiten. Wir, die wir nicht müssen, wir warten erst einmal ab, irgendwie wird sich die Lage schon ändern . . .

Doch diese Arbeiter waren Leute in keiner schlimmeren und in keiner besseren Lage als er; während er aber faul herumgelegen und sich mit Fleiß krank gemacht hatte, war von ebenso Enttäuschten angepackt worden, und durch die Arbeit hatten sie Verzweiflung und Enttäuschung überwunden!

Er las von den Theatern, die wieder spielten. Von Gemälde-Ausstellungen und Konzerten, von neuen Filmen aus aller Welt. Er las von der Aktion, die durch Selbsthilfe Holz aus den Wäldern holte, durch Selbsthilfe zerstörte Wohnungen wieder instand setzte, Dächer deckte und ausgeglühte Maschinen arbeitsfähig machte. Er las Inserate, in denen Dinge angeboten wurden, die es seit langem nicht mehr gegeben hatte. Es waren erst wenige, aber es waren doch Anfänge, es konnten ja erst Anfänge sein.

»Totenstadt« hatte er Berlin nur genannt, ein »Ruinenchaos«, in dem er nie würde arbeiten können, und wie wurde in dieser Stadt schon wieder gearbeitet –! Jeder, der nicht mitmachte, mußte sich schämen. In welchem Zustande blinder Eigensucht, von egoistischem Drohnendasein hatten sie doch in den letzten Monaten gelebt! Sie hatten immer nur genommen, genommen, und sie hatten nie auch nur an die kleinste eigene Leistung gedacht!

Als Doll an diesem Abend, in dieser Nacht das letzte Zeitungsblatt aus der Hand gelegt, sich auf die Couch gebettet und das Licht gelöscht hatte, brauchte er keine feigen Robinson-Phantasien, um sich die Zeit bis zum Einschlafen zu kürzen. Sondern wieder und immer wieder zog alles, was er gelesen, durch sein Hirn, und je öfter er sich wiederholte, was alles schon erreicht worden war, um so unbegreiflicher schien es ihm, daß er bei alledem tatenlos, mißgünstig, leer beiseite gestanden hatte. Bis in seinen späten Traum hinein verfolgten ihn diese Vorwürfe.

 


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