Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Drittes Kapitel.
Das verlassene Haus

Äußerlich änderte sich schon in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der siegreichen Roten Armee das Leben der Dolls gewaltig. Sie, die es gewohnt gewesen waren, ganz abgesondert im eigenen Hause ihren Beschäftigungen nachzugehen, waren jetzt alle gezwungen, sich der öffentlich verkündeten Arbeitspflicht zu fügen, um Brot zu verdienen, ein sehr kleines Stück Brot im ersten Anfang. Schon kurz nach sieben Uhr morgens mußten die beiden loswandern auf den befohlenen Sammelplatz in der Stadt. Oft schlossen sich ihnen Nachbarn an auf ihrem Wege, meist aber gelang es ihnen, sie abzuschütteln und für sich allein zu bleiben, wie sie es gewohnt gewesen waren in der ganzen Zeit ihrer Ehe.

Da gingen sie im frischen Maienmorgen nebeneinander her, Doll meist tief in seine Gedanken versunken und nur mit halbem Ohr auf das Plaudern seiner Frau lauschend, der ein dann und wann eingeworfenes »Jaja« oder »Soso« vollkommen genügte. Doll hatte seine Frau wegen ihrer Fähigkeit, immer weiter plaudern zu können, »seine Brandung« getauft. Er meinte, sie erinnere ihn an frühere lange Spaziergänge am Strande, bei denen ohne Aufhören die See neben ihm fortrauschte.

Kamen sie dann aber auf dem Sammelplatz, dem Schulhof, an, war es sofort mit dem gewohnten Zusammensein und der Brandung vorbei: Männlein und Weiblein wurden getrennt aufgestellt, abgezählt, aufgeschrieben und zu den verschiedensten Arbeiten eingeteilt. Ging es gut, konnten sie sich wenigstens beim Abrücken die Art ihrer Arbeit zurufen, so daß sie wußten, wo jedes den langen, getrennten Tag beschäftigt war. »Ich gehe saubermachen!« rief sie etwa. Und er gab zurück: »Säcke stapeln!« Später wurde beiden eine feste Arbeit zugeteilt, er wurde Kuhhirt, sie Sackträgerin.

Oft sahen sie sich dann erst am späten Abend wieder, beide übermüdet von der ungewohnten Arbeit, aber beide bemüht, den andern nichts davon merken zu lassen. Dann äußerte er sich wohl spöttisch über die Anstrengungen seines Hirtenlebens, bei dem es galt, eine Herde von weit über tausend Kühen, die nicht aus dem gleichen Stall stammten, also auch kein Zusammengehörigkeitsgefühl hatten, beieinander zu halten und Übergriffe in die Getreidesaaten zu verhüten. Wohl waren sie acht Hirten, aber seinen Mithirten wohnte die Neigung inne, auf einem Fleck zu stehen und miteinander zu schwätzen, Männergespräche, ob denn dies etwa so weitergehen solle, und von dem bißchen verteilten Brot werde nicht einer satt, geschweige denn eine ganze Familie, und daß sie sich den Frieden etwas anders vorgestellt hätten, und daß die Nazis schon wieder dabei wären, sich überall Druckposten zu sichern – alles völlig ergebnisloses Geschwätz, das Doll maßlos langweilte.

Unterdes zerstreute sich die Herde immer weiter, ging aus den Wicken in die Roggensaaten, und Doll tobte wie ein Irrer hinter tausend Kühen allein her, warf mit Steinen, schlug mit seinem Knüppel und setzte sich schließlich, völlig erschöpft und atemlos, auf einen Stein, verzweifelt, empört, mutlos. Oft tauchte gerade dann ein berittener Russe auf, die Arbeit der Hirten zu kontrollieren. Die andern Hirten, die ihren Plauderplatz weislich gewählt und den Anreitenden schon von weitem gesehen hatten, waren jetzt fleißig beim Hüten, während der erschöpfte Doll seiner Faulheit wegen hart angelassen wurde. Aber nie konnte er sich überwinden, es ebenso zu machen wie die andern. Er fand eine solche Art, nur fürs Auge des Regenten zu arbeiten, in Wirklichkeit aber gar nichts zu tun, verabscheuungswürdig, ja, typisch für den verhaßten Soldatenstand, bei dem ja auch der »Druckposten« großes Ansehen genießt.

Das einzig Gute an dieser Kuhhüterei war noch dies, daß sich Hirten wie Schwätzer nach dem abendlichen Eintreiben anstellen durften mit einer Kanne, sie mochte noch so groß sein wie sie wollte, sie wurde ihnen doch von den ukrainischen Melkern bis zum Rande mit Milch gefüllt. Dadurch gab es im Hause Doll zu dieser Zeit Abendsuppen, die jung wie alt gleich wohltätig waren.

Freilich war in diesem Punkte, dem Heranschaffen von Waren aller Art, Frau Almas Tätigkeit noch viel einträglicher, ihre Geschicklichkeit wohl auch größer als die des Mannes. Ihr war – mit dreißig, vierzig andern Frauen und Mädchen – die Aufgabe zugefallen, aus dem Barackenlager, das früher die SS eingenommen, die dort noch lagernden Vorräte in einen großen Schuppen an der Bahn zu schaffen. Es war ein weiter Weg, und oft waren die Säcke, welche die Frauen zu tragen hatten, mit schwerer Ware gefüllt, so daß die Last über ihre Kraft ging.

Was aber ihren Unwillen auf das höchste trieb, war der Umstand, daß all diese Fleischkonserven, diese Butter-, Käse-, Milch- oder Sardinendosen, daß diese Büchsen mit gemahlenem Kaffee, diese Stangen mit gepreßtem feinen Blättertee, diese Kartons voller Schokoladenpulver (wozu noch Flaschenbatterien mit Wein und Kognak kamen, sowie unübersehbare Packungen mit Rauchwaren) – ja, der Unwille der schleppenden Frauen wurde durch den Gedanken aufs schärfste angestachelt, daß all diese in solchem Übermaß vorhandenen Waren seit Jahren darbenden Frauen und hungernden Kindern vorenthalten waren, Kindern, von denen viele in ihrem Leben Schokolade nie geschmeckt hatten, um dann all dies anmaßenden, herrschsüchtigen Burschen von der SS, denen Deutschland ein gut Teil seines Unglücks verdankte, ins gefräßige Maul zu stecken.

Schon seit die Kinder, Weinflaschen in den Händen, sich vor dem größten Hotel der Stadt betrunken hatten, war eine neue Auffassung des Eigentumsbegriffs unter dem größten Teil der Bevölkerung aufgekommen: dies alles waren eigentlich Waren, die ihnen zustanden. Eigensucht und Geldgier der Kaufleute hatten sie ihnen vorenthalten – es war nicht mehr als recht, daß man sich jetzt noch nahm, was man nur bekommen konnte! Der Weg von den SS-Baracken zu den Bahnschuppen war weit, der Sack drückte, die Last war schwer: immer wieder verschwand eine Frau in den Büschen am Wege, und wenn sie wieder vortrat und sich, eben noch an der Spitze, jetzt in das Ende der lang auseinandergezogenen Kolonne einreihte, war der Sack nur noch dreiviertelvoll, für den Abend aber ein hübsches Depot in den Büschen angelegt.

Frau Alma Doll war nicht bedenklicher als die andern Frauen, wie die meisten von ihnen hatte sie zu Hause Kinder, die nach Fett ausgehungert waren und gerne auch einmal erfuhren, wie eine Tasse mit Milchschokolade schmeckte. Wie die andern Frauen legte sie ihre Depots an, und als sie merkte, daß entweder Mitarbeiterinnen oder Beobachter aus der Ferne diese Depots noch vor Feierabend beraubten, wurde sie noch kühner: sie ließ, in den Büschen versteckt, das Ende des Zuges ruhig an sich vorüberziehen. War er dann außer Sicht, eilte sie mit ihrem Sack in ein nahe gelegenes Haus zu Bekannten und ließ dort – auf Teilung alles. War nun die Zeit herangekommen, daß die Kolonne auf ihrem Rückweg wiederkommen mußte, trat sie neu unter die Büsche und schmuggelte sich, den leeren Sack über dem Arm, unter die andern.

Natürlich hatten die ihr Fehlen bemerkt, sie sparten auch nicht mit spitzen Bemerkungen und Anspielungen; da sie aber alle mehr oder weniger das gleiche taten, geschah ihr nichts Schlimmeres. Was aber die russischen Posten anging, die an der Spitze und am Ende des Zuges marschierten, so sahen sie entweder nichts oder wollten nichts sehen von dem, was da vorging. Wahrscheinlicher war das letztere, sie wußten wohl alle, wie weh Hunger tut, und waren großmütig – auch einem gehaßten Volk gegenüber, das die Frauen und Kinder der Posten erbarmungslos hatte hungern und verhungern lassen.

Am Abend saß Alma dann bei ihrem Manne, auf dem kleinen Notherd kochte »seine« Abendmilchsuppe, und die junge Frau wies ihm bei Kerzenschein – der elektrische Strom funktionierte nicht mehr – ihre Eroberungen. Sie aßen allesamt Ölsardinenbrot auf Vorschuß, dann wurde in die Milchsuppe Schokoladenpulver gestreut. Sie aßen nicht, sie fraßen, sie stopften sich bis zum Platzen voll, alle, von der fünfjährigen Petta an bis zur alten, fast bewegungsunfähigen Großmutter. Sie dachten nicht an überfüllte Mägen und an den schon ohnedies so unruhigen Nachtschlaf, sie dachten auch nie an den nächsten Tag, an die Anlage eines kleinen Vorrats. Gedanken derart waren ihnen in den Jahren der Bombenangriffe gründlich vergangen. Sie waren wieder zu Kindern geworden, die nur dem Heute, ohne einen Gedanken an den kommenden Morgen, leben, aber sie besaßen nichts mehr von der Unschuld der Kinder. Sie waren entwurzelt, sie, dieser Kuhhirte und diese Sackträgerin, die Vergangenheit war ihnen entglitten, und ihre Zukunft war zu ungewiß, sich mit Denken daran zu beschweren. Ziellos trieben sie auf dem Strom des Lebens dahin – wozu lebte man eigentlich?

Wenn Doll mit seiner jungen Frau am frühen Morgen zur Arbeit ging, wenn er abends allein vom Kuhhüten heimwärts eilte, stets führte sein Weg an einem großen grauen Hause vorüber, das mit seinen geschlossenen Fenstern einen abweisenden und düsteren Eindruck machte. An der Tür dieses Hauses befand sich ein sehr altes Messingschild, so vernachlässigt, daß es ganz stumpf aussah und an einigen eingebeulten Stellen Grünspan aufwies. Auf diesem Schilde war zu lesen: »Dr. Wilhelm – Tierarzt«.

Als Doll mit seiner Frau zum ersten Male nach dem Umsturz an diesem dunklen Haus vorüberkam, hatte seine Frau gesagt: »Der hat sich auch erledigt – hast du gehört?«

»Ja . . .« hatte Doll nur geantwortet, in einem Tone, aus dem die Frau verstehen mußte, daß er eine Fortsetzung dieses Gespräches nicht wünschte.

»Aber«, hatte Alma trotzdem zornig gerufen, »aber ich bin froh, daß der alte Kerl tot ist! Wenn ich jemanden gehaßt habe, so war er es; ja, ich hasse ihn noch . . .«

»Gut, gut«, hatte Doll sie unterbrochen. »Er ist tot, wir wollen ihn vergessen. Wir wollen nie mehr von ihm sprechen.«

Und sie sprachen nicht mehr von ihm, ja, Dr. Doll sah, wenn er in die Nähe des Hauses kam, geflissentlich die andere Straßenseite an, während seine Frau das Haus immer wieder mit gereizter oder spöttischer Miene musterte. Beides sprach nicht ganz für das von Doll gewünschte Vergessen, und sie wußten auch beide – trotz ihres Schweigens – sehr gut, daß sie weder vergessen konnten noch vergessen wollten. Dafür hatte ihnen beiden der tote Tierarzt Wilhelm zu viel Herzeleid angetan.

Auf seinem Türschild nannte er sich Tierarzt, aber er war ein so großer Feigling, daß er sich kaum je an ein krankes Pferd oder Rind herangetraut hatte. Die Bauern wußten das so gut, daß sie ihn höchstens zur Rotlaufimpfung der Schweine holten, daher trug er weit und breit den Übernamen »Farken-Willem«: Ferkel-Wilhelm. Ein großer schwerer Mann in den Sechzigern, mit einem fahlgrauen Gesicht, das stets so grämlich verzogen war, als schmecke er Galle.

Dieser Tierarzt besaß keine einzige Fähigkeit, die ihn vor dem niedersten Durchschnitt ausgezeichnet hätte, bis auf die eine, daß er eine ungewöhnlich feine Zunge für Weine hatte. Schnaps und Bier trank er auch, aber nur um ihres Alkoholgehaltes willen, denn er war längst das geworden, was man einen »mäßigen Trinker« nennen kann: er brauchte jeden Tag eine bestimmte, nicht einmal übermäßig hohe Alkoholmenge. Aber nichts ging ihm über den Wein, und je besser seine Kreszenz war, um so glücklicher wurde er. Dann glätteten sich sogar die galligen Falten in seinem Gesicht, und er konnte lächeln. Für einen Mann von seinem Einkommen war das eine etwas kostspielige Leidenschaft, doch meist wußte er, wie er zu seinem Rechte kam.

Gegen fünf Uhr nachmittags hielt ihn nichts mehr im Haus, konnte der dringendste Anruf ihn nicht mehr zu einem kranken Tiere locken; er nahm seinen Stock, setzte sein Jägerhütlein mit einem Dachspinsel auf und wanderte gravitätisch, immer in Kniehosen, die Füße gespreizt sehr auswärts setzend, die Straße entlang.

Dr. Wilhelm – Farken-Willem – hatte nur wenige Schritte zu gehen, so konnte er schon in ein kleineres Hotel treten, das einstens für ihn eine wahre Weinrente bedeutet hatte, nämlich als der selbst ins Trinken verliebte Wirt noch lebte. Nach seinem Tode wurde das Haus aber von der Witwe und je länger je mehr von der jüngsten Tochter regiert, einem Mädchen voll unbegreiflicher Launen, ja, von direkten Antipathien besessen, von denen eine – und nicht gerade die schwächste – dem Tierarzt Dr. Wilhelm galt.

Der Tierarzt mußte zu seinem tiefsten Kummer erleben, daß die Tochter des Hauses ihm immer häufiger die bestellte Flasche Wein verweigerte und ihm nur ein Schöppchen brachte, während sie doch auf andere Tische noch oft genug Flaschen stellte. Beschwerte er sich dann mit seinem nußknackerhaften, gallenbitteren Munde, langsam und bedächtig sprechend, wie es seine Art war, so fuhr sie ihm schon in den Anfang seiner Rede mit ihrer raschen, scharfen Zunge hinein und rief: »Sie wollen alle Tage Ihren Wein, die andern kommen nur dann und wann – da liegt der Unterschied! Sie können nicht allein all unsere Vorräte austrinken!«

Oder sie antwortete auch gar nichts. Oder sie sagte, rasch nach dem Römer fassend: »Wenn Sie den Schoppen nicht wollen, nehme ich ihn gern wieder mit. Sie müssen ihn nicht trinken!« Kurz, sie ließ ihn alle Tage aufs deutlichste merken, wie abhängig er doch mit seinen Trinkerwünschen von ihren Launen war. Er aber mußte ihr Schimpfen wie die immer geringer werdenden Zuteilungen mit galligem Seufzen ertragen und kam doch jeden Tag wieder, ohne Würde und ohne Scham.

Vom Hotelchen wanderte der Tierarzt dann gravitätisch auf seinen sehr auswärts gesetzten Füßen durch die halbe Stadt bis zum kleinen Bahnhof, wo er meist kurz vor sechs Uhr den Wartesaal zweiter Klasse betrat. Oft hatte er dann das Glück, am Stammtisch, an dem auch ihm ein Platz zustand, den reichen Kornhändler der Stadt zu treffen, der ihn stets gerne an seinem Weine teilnehmen ließ. Saß dieser Händler aber mit einem oder mehreren Kunden an einem Sondertisch, so trat auch hier der Tierarzt hinzu, sagte ernst »Mit Verlaub« und wurde meist aufgefordert, mit Platz zu nehmen. Denn hier konnte der Dr. Wilhelm eine andere Seite seines Wesens geltend machen: er besaß ein ziemliches Repertoire derbster ländlicher Geschichtchen und Witzchen, die er in einem echten, bodenständigen Platt zu erzählen wußte. Ganze Gelächtersalven antworteten oft dem Erzähler, der doch nicht eine Miene seines galligen Gesichtes verzog, dadurch die Wirkung seiner Geschichten nur noch steigernd und die Laune der Kunden des Kornhändlers verbessernd.

Im übrigen schnitt der Tierarzt in der Bahnhofswirtschaft auch sonst meist günstig ab. Er war dort Stammgast seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten hatte er von etwa sechs bis acht Uhr abends an diesem Stammtisch gesessen, früher mit seiner Frau, nach ihrem Tode allein. Der Bahnhofswirt Kurz hielt auch ihn knapp, aber er ließ den alten Kunden meist nicht ganz ohne Stoff.

Um die Abendbrotzeit leerte sich der Wartesaal schnell, und auch Dr. Wilhelm setzte seinen Stab weiter. Was ihn nun in dem führenden Hotel des Städtchens erwartete, stand ganz dahin: es konnte viel, es konnte auch so gut wie gar nichts sein. Zwar floß der Wein noch willig in diesem Hause, aber der Wirt war ein Mann, der es liebte, Geld einzunehmen, und je mehr, um so lieber. Selbst als das Geldeinnehmen schon ziemlich sinnlos geworden war, da es für Geld kaum noch etwas zu kaufen gab, setzte der Wirt die Preise für seine Flaschenweine immer höher, so daß der Kauf auch nur einer Flasche weit aus dem Bereich des Möglichen für einen Schweineimpfer gerückt war, dessen Tageseinnahme häufig noch nicht einmal fünf Mark betrug.

So war hier Dr. Wilhelm ganz auf sein Glück angewiesen; oft mußte er Stunde um Stunde vor einem Glase des kriegsmäßigen Dünnbiers sitzen und beobachtete dabei gallig die Offiziere der SS, die eine Flasche nach der andern tranken. Sie baten ihn nie an ihren Tisch – die SS hielt sich stets vom kommunen deutschen Volke fern. Oder aber ein Hitler-Jugendführer von noch nicht zwanzig Jahren schwelgte mit seinem Mädchen in Süßweinen – auch hier war keine Nachfrage nach dem alten, geschichtengewandten Tierarzt.

Das waren schwere Stunden für einen alten Alkoholiker, dem das Trinken Lebensbedürfnis war. Wenn so die Zeit verstrich, die Nacht vorrückte, die Gäste immer betrunkener lärmten und der weißhaarige, stets voll Bonhomie lächelnde Wirt an die Polizeistunde erinnerte . . . Wenn er einsehen mußte, daß an diesem Abend bestimmt nichts für ihn abfiel, da doch so viele herrlich alkoholisiert waren . . . Wenn er dann nach dem Bezahlen seines Bieres die kümmerlichen Groschen und Scheinchen in seiner Tasche zusammenzählte, ob sie nicht vielleicht doch wenigstens zu einem Schnäpschen reichten, und er wußte doch schon vorher, sie reichten bestimmt nicht . . . Wenn er dann schließlich mit einem schweren, bösen Seufzer Stock und Hut in die Hand nahm und in die Nacht hinaustrat, zu seinem Heim zu wandern . . . Und wenn er dann an die vor ihm liegende Nacht dachte, in der er sich den Schlaf mit dummen Tabletten rufen mußte, den doch der Alkohol so göttlich voller Träume schenkte . . . Dann wurde sein ledernes Gesicht womöglich noch gelber als zuvor, der Neid auf alle und alles zwackte ihn zum Erbarmen, und er hätte gerne und ohne Besinnen die ganze Welt untergehen lassen, wenn ihm das nur eine einzige Flasche Wein eingetragen hätte –!

Aber es kamen auch bessere Stunden für den alten Tierarzt. Da saßen dann plötzlich in diesem führenden Hotel am Platze Sommerfrischler oder Sportangler, die sich stets gerne Geschichten aus dieser vom Kriege kaum berührten Gegend erzählen ließen. Oder aber ein Landwirt sah den alten Mann da sitzen, plötzlich dachte er daran, wie lange er ihn schon nicht mehr auf den Hof gerufen hatte, und sein schlechtes Gewissen trieb ihn, sich Farken-Willem an den Tisch zu holen, mit ihm zu plaudern und ihm zu trinken zu geben, denn seine Schwäche war ja jedem bekannt.

Am schönsten aber war es, wenn in diesem Hotel der Stammtisch zusammenkam. Leider war das nur ein-, höchstens zweimal im Monat der Fall, dann nämlich, wenn der Herr Amtsgerichtsrat aus der Kreisstadt herübergekommen war, um im Städtchen den fälligen Gerichtstag zu halten. Sofort hängte sich dann der Hotelier ans Telefon, er benachrichtigte einen Großgrundbesitzer, den Dentisten, einen Landesproduktenhändler en gros und auch den Herrn Dr. Doll – freilich den alten Tierarzt nicht, der fand sich schon ohnedies ein.

Wie Doll in diese so scheckig zusammengesetzte Runde gekommen war, konnte er später kaum noch herausfinden. Zuerst – aber das lag schon Jahre zurück und war noch während seiner ersten Ehe, als er auf einem kleinen Hof in der Nähe des Städtchens wirtschaftete –, zuerst also hatten ihn wohl die so verschiedenartigen Trinkgenossen interessiert und vor allem ihre Geschichten, in denen besonders der alte Amtsrichter exzellierte, der auf diesem Gebiete bei weitem den Tierarzt schlug, dessen Witze oft gar zu grobschlächtig oder auch geradezu gemein waren. Aber Doll hatte bald gesehen, daß auch diese Menschen völlig aus dem Dutzend waren. Am zweiten Abend mußte der alte Amtsrichter seine Geschichten schon wiederholen, er wußte nur zehn oder zwölf, er war aber gerne bereit, sie auch hundertmal zu erzählen. Außerdem wurde seine Neigung immer deutlicher, sich Lebensmittel schenken zu lassen und die Bedienung um die Marken zu betrügen. Der Dentist hatte bloß Weibergeschichten im Kopf, seine Praxis war ihm nur ein Vorwand, den im Behandlungsstuhl liegenden Frauen erotisch zuzusetzen, und der alte Tierarzt war nichts wie ein jeden Tag gieriger und stumpfsinniger werdender alter Säufer.

So war es die ganze Runde herum. Plattes, alltägliches Gesindel die, zusammen mit ihrem fuchsischen Wirt, dem es nur ums Geldverdienen ging. Nein, Doll kam durchaus nicht immer, wenn ihn das Telefon zum Stammtisch rief, aber er kam doch recht häufig, vielleicht einfach darum, weil er sich auch einmal die Nase begießen wollte, oder weil auch er gerne gute Weine trank, und weil seine dörfliche Umgebung noch stumpfsinniger war als diese Runde. Er kam und trank und spielte den großzügigen Gastgeber, denn er war zu jenen Zeiten noch ziemlich gut mit Geld versehen, bei ihm kamen alle Freischlucker vom gierigen Tierarzt bis zum vorsichtigen Amtsrichter auf ihre Kosten. In sehr guten Nächten kroch dann wohl der dicke, weißhaarige Hotelier noch in die verschwiegensten Winkel seines Kellers, er brachte dick verstaubte Burgunderflaschen oder ›Mumm extra dry‹. Zu dem roten Wein aber holte er – ohne Marken! – herrliche Käse, die sie in tortenförmig geschnittenen Stücken aus der Hand aßen. Das waren Stunden voller Seligkeit für den alten Tierarzt, und seine Freundschaft für Doll schien fest begründet.

Aber das änderte sich, und wie meist, wenn Männerfreundschaften auseinandergehen, war eine Frau daran schuld. Wie der alte Amtsgerichtsrat auf diese junge strahlende Frau gekommen war, blieb dunkel; jedenfalls, als Dr. Doll eines Abends, etwas verspätet, zu der Stammtischrunde stieß, traf er dort die Frau eines Berliner Fabrikanten, der sich hier am Ufer eines der vielen Seen ein Blockhaus gebaut hatte, um über das Wochenende dem Angelsport zu huldigen.

Aber an diesem Abend war der Mann in der großen Stadt Berlin geblieben, und seine blutjunge Frau saß allein zwischen den Männern des Stammtischs, sie schüttelte ihre rotblonden Locken, sie sah mit ihrem länglichen Gesicht und vor allem mit ihrem schönen blutroten Munde jeden Sprecher aufmerksam an – es war ganz, als sähe dieser Mund die Menschen an. Dann warf sie den Kopf zurück, ihre kleine weiße Kehle schien vor Lachen zu tanzen – Himmel, wie sie lachen konnte, Gott, wie jung sie war! Doll drückte den alten Tierarzt beiseite und nahm neben dieser unglaubhaften Jugend Platz, sie saß nun auf dem langen Ecksofa zwischen Doll und dem alten Amtsgerichtsrat.

Wie jung sie war, was steckte für ein Leben in diesem Wesen, wie mitreißend konnte sie lachen über die dümmsten Geschichten des Amtsrichters! Doll fing selber an zu erzählen, und wenn einer gut erzählen konnte, so war er es. Das war kein fertiges hundertmal geleiertes Repertoire wie beim Amtsgerichtsrat und Tierarzt, nein, die Geschichten flogen Doll aus allen Zeiten seines Lebens zu, genau als fielen sie ihm jetzt zum ersten Male ein und auf. Er erzählte rascher, überstürzte sich, übertrumpfte alle – und dazwischen rief er nach Wein, Wein, Wein!

Es wurde ein ganz großer Abend. Auf einen Mann Ausgang der Vierzig macht es schon Eindruck, wenn eine zwanzigjährige schöne Frau ihn merken läßt, er interessiert sie. Was Doll über so viel interessierter Jugend aber nicht verlor, war seine kritische Beobachtungsgabe, und die war es, die ihn darauf aufmerksam machte, daß der alte Tierarzt, während Doll begeistert nach links erzählte, unterdes rechts in eigener Sache arbeitete. Dem Tierarzt waren sowohl Geschichten wie Frauen längst gleichgültig geworden, ihn interessierte nur der Alkohol. Alkohol gab es genug an diesem Tisch, aber nach Ansicht von Farken-Willem wurde er zu langsam getrunken. Während er aller Augen auf die junge Frau gerichtet sah, tastete sich des Tierarztes Hand nach der Flasche. Hastig füllte er sein Glas, leerte es, und füllte es sofort wieder . . .

»Hoppla!« rief Doll, der ihm den Rücken zuzuwenden schien und hatte es doch gesehen. »Dies nun doch nicht! Solange ich der Gastgeber bin, bestimme ich das Tempo!« Und er nahm Wilhelm die Flasche aus der Hand, aber nicht unliebenswürdig.

Natürlich fielen nun sofort alle Mann über den alten Freischlucker und Säufer her, sie zogen ihn nach Kräften auf. Sie verspotteten ihn, sie kramten Geschichten der beschämendsten Art über ihn aus, ins Gesicht hinein verdächtigten sie ihn aufs gemeinste. Aber das kümmerte ihn nicht viel, er schämte sich nicht. Er war es längst gewohnt, jeden Freischluck mit einer Kränkung seiner Menschenwürde zu bezahlen. Das war nun schon so lange und so oft geschehen, daß darüber all seine Menschenwürde längst verlorengegangen war. Sicher, er verachtete sie alle, sie hätten alle sterben können in dieser Minute vor seinen Augen es hätte ihm nichts ausgemacht – nur Alkohol machte ihm noch etwas aus. So ließ er sie auch jetzt spotten und hänseln, er hörte sie gar nicht, seine dicke, altersfleckige Hand lag um den Stiel des Weinglases, er dachte: ›Ich habe doch zwei Gläser Wein mehr als ihr!‹ Und: ›Wenn es wieder so paßt, versuche ich es noch einmal!‹

Darauf brauchte er nicht einmal sehr lange zu warten. Es saß ja eine blühende, junge, schöne Frau am Tisch, ein gewaltiger Flirt – den alten Farken-Willem konnten sie alle Tage haben, aber dieses Weiblein durften sie sich nicht entgehen lassen. Vergessen saß der Tierarzt da. Diesmal drehte ihm Doll wirklich ganz den Rücken zu. Dreimal hatte er nun schon die Weinflasche angefaßt und die Hand doch wieder leer zurückgezogen. Beim vierten Male griff er entschlossen zu und schenkte sich neu ein . . .

Und sofort fuhr wiederum Dolls Kopf über die Schulter, und, diesmal ohne die geringste Liebenswürdigkeit, sagte er: »Wenn Ihnen das Tempo, in dem wir an diesem Tische trinken, nicht paßt, setzen Sie sich vielleicht an einen anderen? Es sind ja genug Tische frei . . .« Und da der Tierarzt ihn zweifelnd, ungläubig, fast flehend anblickte, eher noch gesteigert: »Verstehen Sie mich nicht –? Sie sollen von diesem Tische fortgehen! Ich habe Ihre Unverschämtheiten satt!!!«

Langsam hatte der alte Mann sich aufgerichtet. Langsam ging er auf einen Tisch im entgegengesetzten Winkel des Zimmers zu. (Da es schon sehr spät war, längst nach Polizeistunde, war kein anderer Gast als diese mehr im Zimmer.) Einen Augenblick hatte er geschwankt, aber dann hatte er doch dieses Glas, durch das er so viel verloren, in die Hand genommen, und trug es vorsichtig wie ein Heiligtum vor sich her. War es doch das letzte Glas Wein, das er voraussichtlich an diesem unseligen, so glücklich begonnenen Abend trinken sollte. Hinter ihm spotteten sie auf die gröbste Art, vor Schadenfreude zerplatzten sie bald, diese fetten, vollgetrunkenen Spießer. Übrigens beteiligte sich Doll natürlich nicht an diesen zusätzlichen Demütigungen eines schon Besiegten, vielleicht bereute er sogar seine zornigen Worte – es war ja schließlich ein alter Mann. Aber wenn er bereute, so verging diese Reue rasch, denn die junge Frau sagte plötzlich: »Das war recht, Herr Doll, ich habe den alten Schleicher auch nie ausstehen können!«

Das Trinken und die lebhafte Unterhaltung am Stammtisch gingen weiter – diese Unterhaltung, die immer trunkener wurde. Der alte Tierarzt war vergessen. Er aber saß da an seinem Tischchen, die Hand noch immer um den Stiel seines Glases, das nun schon längst geleert war. Er saß, er sah, er hörte, er zählte. Er zählte die Flaschen, die noch an den Tisch getragen wurden, er zählte die Gläser, die jeder trank, und bei jedem Glase, das sie dort tranken, dachte er: ›Davon hätte ich auch eines haben müssen!‹

Dr. Wilhelm wartete ab, bis die drüben endlich genug hatten und sich zum Bezahlen anschickten. Dann verließ der Tierarzt leise die Gaststube und stellte sich auf vor dem Hotel in einer dunklen Straßenecke.

Lange mußte er warten, bis die beiden auftauchten, jedes sein Rad führend. Er sah das weiße Kleid der Frau, schnurgerade führte sie ihr Rad, während der Mann große Kurven machte, oft halten mußte. Dann nahm er einen neuen Anlauf, stieß gegen das Rad seiner Begleiterin und ließ das eigene fallen. Er brach in ein betrunkenes Gelächter aus und hielt sich an der Frau. Dr. Wilhelm stellte noch fest, daß die beiden an der Straßenecke, an der sie sich hätten trennen müssen, nicht auseinandergingen. Doll begleitete die junge Frau, stolpernd, fallend, fluchend, lachend, auf ihrem Heimwege. Kopfnickend, das lederne Gesicht noch mehr verzogen, als fräße er reine Galle, machte der Tierarzt sich auf den Heimweg, langsam und gravitätisch, mit sehr auswärts gesetzten Füßen.

Am nächsten Morgen schon durchflogen Gerüchte von der ›Orgie‹, die im ersten Hotel der Stadt gefeiert worden, die Straßen und Gassen und gelangten mit den Milchwagen auch bald aufs freie Land. Doll, den ein telefonischer Hilferuf der jungen Frau in die Stadt holte, erfuhr von dieser, daß die sehr bigotte Frau des Hoteliers ihr ›wegen unsittlichen Auftretens‹ für heut und immer die Gaststube verboten habe. Die junge Frau war unglücklich und empört; zum erstenmal in ihrem Leben sah sie sich einem jener Kleinstadt-Urteile gegenüber, die ohne Anhören des Beschuldigten gefällt werden und gegen die es weder Berufung noch Wehren gibt.

»Und wir haben uns doch nichts vorzuwerfen! Nichts ist geschehen, nicht einmal ein Kuß! Und dieses Schwein von einem Tierarzt hat erzählt, ich hätte den ganzen Abend auf Ihrem Schoß gesessen, und Sie dann in der Nacht mit mir nach Haus genommen! Wo doch das ganze Hotel weiß, daß Sie dort übernachtet haben!«

Dies war richtig: nachdem sich nämlich herausgestellt hatte, daß Doll weder gehen noch radeln konnte, hatte ihn seine Begleiterin zum Hotel zurückgeführt, wo er sich dann ein Zimmer genommen hatte.

»Nein, Herr Doll, Sie müssen unbedingt mit dem Wirt reden! Das Lokalverbot gegen mich muß aufgehoben und diesen ekelhaften Gerüchten Einhalt getan werden! Sie müssen mir helfen, Doll, ich bin sehr unglücklich! Wie gemein das alles ist –! Die hier hassen eine Frau schon, bloß weil sie gut aussieht und gerne lacht. Am liebsten verkaufte ich unser Wochenendhaus auf der Stelle und käme nie wieder hierher –!«

Tränen standen in den Augen der jungen Frau, und Doll versprach alles, was sie wünschte. Er hätte es aber auch ohne diese Tränen getan, denn auch ihn erfüllten Wut und Haß. Doch sollte er rasch erfahren, daß solche Gerüchte leichter entstehen als ausgelöscht werden. Der unter der Fuchtel der bigotten Frau lebende Hotelier wand sich wie ein Wurm; schließlich, als die Debatte hitziger wurde, verschwand er sachte aus dem Zimmer und – ward an diesem Tage nicht mehr gesehen. Der als Entlastungszeuge angerufene Amtsgerichtsrat, sichtlich von Eifersucht auf den jüngeren, erfolgreichen Doll besessen, war ungewiß in seinen Angaben: in der Gaststube habe er nichts Anstößiges beobachtet. Was dann in der Nacht draußen auf der Straße geschehen sei, darüber könne er freilich nichts aussagen. Mit solchen Geschichten habe er übrigens nicht gerne etwas zu tun –!

Empört rief Doll: »Was soll denn auf der Straße vorgekommen sein –?! Jeder im Hotel weiß, daß ich hier übernachtet habe!«

Sanft, mit gesenktem Kopf, gab die Hoteliere zu bedenken, daß zwischen dem Fortgang der beiden und seiner, Herrn Dolls, Rückkehr ins Hotel immerhin mehr als eine Stunde vergangen sei –!

»Das ist maßlos übertrieben!« rief Doll. »Eine Viertelstunde vielleicht, im höchsten Falle eine halbe Stunde kann es gedauert haben –!«

Die Hoteliere und der Amtsgerichtsrat lächelten, dann meinte die Frömmlerin, auch eine halbe Stunde sei lang, auch in einer halben Stunde könne vieles geschehen . . .

Jetzt drückte sich auch der Amtsgerichtsrat aus der Stube, den zornigen Ruf Dolls, wie sie zu der Unverschämtheit komme, zwei unbescholtenen Menschen ohne jeden Anhalt zuzutrauen, sie könnten nicht eine halbe Stunde im Rechten zusammensein, hörte der alte Richter nur noch vom Gang aus. Er lauschte auch nicht mehr länger: dies sah ganz danach aus, als könne es ein Prozeß werden, und in einem solchen Prozeß als Zeuge aufgerufen zu werden, das war nicht sein Wunsch.

Doll ermatteten in der Folge sowohl Angriffslust wie Empörung im Kampfe gegen eine frömmlerische Frau, die auf all seine Einwände und Forderungen nur mit einem halben Lächeln und zweideutigen, ausweichenden Worten antwortete. Nicht einmal auf seine klare Frage, wie sie es denn nun mit dem Lokalverbot für die junge Frau zu halten gedenke, antwortete sie mit einem klaren Ja oder Nein.

Unvermittelt brach Doll in ein Lachen aus und ließ die Hoteliere stehen. Gegen was kämpfte er hier –? Der Kampf des Don Quichote gegen die Windmühlenflügel konnte nicht aussichtsloser sein wie sein Streit mit dieser Frau, die bestimmt immer ihren angeschwärmten Führer gewählt hatte. Nein, was in dieser Sache noch zu tun war, das war mit dem Urheber all dieser Gerüchte abzumachen, diesem alten Waschweib in Hosen, dem tierärztlichen Freischlucker. Dem wollte er es schon besorgen –! Und von einer neuen Welle seines Zornes emporgetragen, machte er sich auf die Suche nach Dr. Wilhelm. Aber er ging umsonst, er fand ihn weder in seiner Wohnung noch in der Stadt, noch in einer Trinkstube. Es war, als hielte sich der alte Mann in Ahnung des ihm Drohenden versteckt – und vielleicht tat er das wirklich!

So blieb Doll nichts, als zu einem Rechtsanwalt zu gehen und Briefe schreiben zu lassen, an den Tierarzt wie an die Hoteliere. Von dem Anwalt erfuhr Doll, daß jetzt im Kriege Privatklagen wegen Beleidigung nicht angenommen würden. Aber das mußten die andern nicht wissen, und so wurden denn Briefe abgeschickt, in denen ihnen mit gerade solcher Klage gedroht wurde. Vielleicht aber hatten auch sie Anwälte oder wußten Bescheid, jedenfalls antworteten sie nicht. Die Gerüchte gingen weiter.

All dies erhöhte seine Erbitterung, wie die Abreise der jungen Frau seinen Zorn vermehrte: sie hatte flüchten müssen vor dem neidischen Gegeifer dieser Kleinstädter. Ihm war, als suche er sich einen Weg durch eine Wand von Federn und Watte, er mochte noch so stark auf sie einschlagen, sie blieb unverändert. Die Briefe seines Anwalts schienen ihm in dieser Stimmung viel zu sanft und diplomatisch; er setzte sich selbst hin und schrieb einen Brief an den Dr. Wilhelm, in dem er ihm ankündigte, er würde ihn als Ehrabschneider öffentlich ohrfeigen, wo er ihn auch treffe . . .

Als er ihn abgesandt hatte, kam die Reue. Dies war seiner nicht würdig, er hatte sich auf das Niveau seiner Gegner begeben, statt sie schweigend zu verachten, wie es bisher sein Standpunkt gewesen. Aber es sollte der Augenblick kommen, da er diesen Brief noch stärker bereute! An einem Vormittag betrat er den Wartesaal des Bahnhofes – da saß er auf dem Sofa, Farken-Willem, vor sich eine Flasche Wein!

Am liebsten wäre Doll auf der Schwelle noch umgekehrt, und für seinen Seelenfrieden wäre es entschieden besser gewesen, er hätte es getan. Aber da saßen neben vielen Fremden auch etliche Mitbürger, die gespannt von ihm auf den Tierarzt blickten. Doll wußte, Wilhelm hatte nach Art aller alten Weiber den Brief den Stammtischgenossen und der halben Stadt gezeigt – die Drohung, sein Gegner werde ihn ohrfeigen, war allgemein bekannt. Ging Doll jetzt zurück, so war der andere der Sieger und jedem neuen Geschwätz Tür und Tor geöffnet.

Doll trat also ein und nahm sich einen Platz, dem andern gegenüber. Ohne ein Wort trug der sonst so geschwätzige Wirt die bestellte Flasche zu. Alle Einheimischen warteten, daß die Fremden den Wartesaal verließen, ihr Zug mußte in einer Viertelstunde fahren. Unterdes saß Doll, die Hand um den Fuß seines Weinglases, im Kampfe mit sich selbst. ›Er ist deiner nicht wert‹, sprach es in ihm. ›Er ist bloß ein alter Mann, ein Waschweib. Was hat der mit deiner Ehre zu tun –?!‹ Und mit einem raschen Blick auf den andern, der wie er stumm, die Hand am Weinglase, saß: ›Aber sie werden mich als Feigling ansehen, alle, er zuerst, wenn ich nichts tue. Ich muß diesen Bürgern zeigen, daß ich mich nicht ungestraft mit Dreck bewerfen lasse! Es gibt kein Zurück!‹

Die Fremden verließen den Saal, es blieben übrig fünf oder sechs Einheimische. Es war ganz still in dem Raum. Dann begann der Wirt Kurz, der hinter der Theke, scharf beobachtend, seine Gläser polierte, ein gleichgültiges lautes Gespräch mit einem Malermeister. »Die kriegen in Berlin mal wieder keinen guten Tag«, hörte Doll, denn gerade brausten über das Städtchen fort die feindlichen Luftgeschwader . . .

Da stand er schon direkt vor seinem ›Feinde‹. Beide Hände auf den Tischrand gestützt, das Gesicht nahe dem verhaßten, gelben, galligen des andern, fragte er flüsternd: »Wollen Sie jetzt auf der Stelle hier öffentlich Ihre Verleumdungen zurücknehmen –?«

Neben ihm sagte der Wirt halb bittend, halb böse: »Unterlassen Sie das, Herr Dr. Doll! Ich dulde keinen Streit in meinem Lokal! Gehen Sie vor die Tür, wenn Sie . . .«

Doll fuhr unbeirrt ebenso leise fort: »Oder wünschen Sie, daß ich Ihnen hier öffentlich mit der Hand ins Gesicht schlage? Sie wie ein Kind strafe, das gelogen hat –?«

Der alte schwere Mann war bewegungslos auf seinem Platz im Sofa sitzen geblieben. Das Gelb seines Gesichtes wandelte sich langsam unter dem drohenden Blick Dolls in ein fahles Grau, aber sein fischiges Auge blickte, ohne zu blinzeln und ohne erkennbaren Ausdruck, auf den Bedroher. Als dieser schwieg, war es, als wolle er antworten, seine Lippen bewegten sich, dann erschien die Zungenspitze, wie um sie anzufeuchten, aber kein Laut wurde vernehmbar.

»Also gehen Sie schon, Herr Dr. Doll!« sagte der Wirt mit eifrigem Drängen. »Sie sehen ja, Herrn Dr. Wilhelm tut es leid . . .«

Hier begann der alte Tierarzt plötzlich, unbegreiflich hartnäckig, wie eine Pagode mit dem Kopf zu schütteln.

»Pssst! Pssst!« machte der Wirt wieder, als scheuche er Hühner. »Du wirst doch nicht, Willem!«

Doll hatte einen Augenblick diesen pagodenhaft Schüttelnden starr angesehen, jetzt hob er die Hand und schlug mit ihrer Fläche dem Verleumder leicht ins Gesicht.

Wie ein aus tiefster Brust geholtes »Ah –!« kam es von den Zuschauern dieser Szene.

»Da –!« sagte der Wirt, offenbar erleichtert, daß nicht stärker und daß nicht zurückgeschlagen wurde.

Einen Augenblick hatte Doll dem Gegner drohend und doch wie erlöst ins Gesicht gesehen. Die zerrenden, zwängenden Gewalten in seiner Brust hatten sich beruhigt, er war endlich wieder frei, von Haß wie von Zorn. Doch da geschah etwas Schreckliches, ganz Unerwartetes: aus den beiden ausdruckslosen Augen des alten Mannes traten zwei große klare Tränen. Einen Augenblick verharrten sie am Lidrand, dann rollten sie langsam über die Wangen. Andere folgten, mehr und mehr, nun lief es schon in ganzen Bächen über das lederne Nußknackergesicht, das von der Nässe glänzend wurde. Die Kehle begann zu schluchzen: »Oh –! Oh –! Oh –!« schluchzte der alte Tierarzt. »Oh, mein Gott, er hat mich geschlagen! Was soll ich nur tun –?! Oh –! Oh –! Oh –! Ich kann keinem Menschen mehr ins Gesicht sehen, ich muß sterben! Oh –! Oh –! Oh –!«

Als Doll zuschlug, hatten die Sympathien im Raum zweifelsohne ihm gehört, das tief erlöste »Ah!« aus ihren Kehlen hatte das bestätigt. Aber die Tränen des alten Arztes änderten das. Doll war vom ersten Augenblick an fest davon überzeugt, daß es nur Krokodilstränen waren, schlau darauf berechnet, die Wirkung der Züchtigung aufzuheben und die Stadt auf seine Seite zu bringen.

»Oh –! Oh –! Oh –!« weinte Dr. Wilhelm immer noch. »Er hat mich geschlagen – grade heute zu meinem 63. Geburtstag –! Und ich habe ihm nie etwas getan. Immer habe ich für ihn zum Guten gesprochen, wenn die Leute schlecht von ihm redeten. Ich war ihm ja so dankbar für all den vielen Wein, den er mir geschenkt hat –!«

Bei diesen letzten Worten fühlte Doll Zorn und Haß von neuem erwachen. Lebhaft stand ihm die Szene vor Augen, wie er den Tierarzt wegen gar zu eigenmächtiger Freischluckerei vom Tische gejagt. Die Verleumdungen hatten begonnen, nicht, weil er viele Male »vielen Wein« geschenkt, sondern weil er einmal den Wein verweigert hatte. »Nun ist es aber genug!« rief er zornig. »Ein altes Wasch- und Klatschweib sind Sie – darum habe ich Sie geschlagen. Und wenn Sie hier weiter so lügen, werde ich Sie noch einmal schlagen, trotz ihrer verstellten Tränen –!« Und er hob drohend die Hand.

Aber Doll hatte nicht mit den andern im Raum gerechnet. Sie hätten ja eigentlich ihren alten Farken-Willem kennen müssen, und wirklich kannten sie ihn seit vielen Jahren und hielten gar nichts von ihm. Aber diese Tränen und Klagen gegenüber entließen sie sofort ihre Erfahrung und Verstand. Ein schluchzender Alter wirkt immer auf das Gefühl, und sie drängten, der Bahnhofswirt voran, auf Doll ein: »Ja, nun ist es wirklich genug! – Sie werden doch den alten Mann nicht noch einmal schlagen –! – Am besten verlassen Sie sofort das Lokal, Sie können sich auch Ihre angetrunkene Flasche Wein mitnehmen –!«

Und in einem Augenblick war Doll von seinem Feinde fortgedrängt, man gab ihm seinen Hut, der Bahnhofswirt legte ihm in die Aktentasche die eilig zugestöpselte Weinflasche, und plötzlich stand Doll auf dem Platz vor dem Bahnhof. Der Wirt aber sah ihn bekümmert aus den rötlich geäderten Augen an und sagte: »Das hätten Sie nie tun dürfen, Herr Doll, das bringt die ganze Stadt gegen Sie auf! So was tut ein feiner Mensch nicht: Schlagen! – Na, es mag sich ja alles wieder zurecht laufen . . .«

Aber leider lief sich nicht alles wieder zurecht. Der Wirt behielt recht: Doll verlor den letzten Rest von Sympathie in der Stadt, er wurde das, was er dann in alle Zukunft bleiben sollte: der meistgehaßte Mann weit und breit.

Und Dr. Wilhelm operierte in diesem Falle mit teuflischer Geschicklichkeit; dieses Mal gab ihm sein galliges Hirn ausgezeichnete Ratschläge. Nach dem Fortgange Dolls hatte er immer weiter geweint und schluchzend versichert, diese Schande überlebe er nicht. Er müsse sich das Leben nehmen, und das gerade an seinem Geburtstage . . .

Sie gaben ihm Wein zu trinken, damit er sich beruhigte, viel Wein und dann führten sie ihn nach Haus. Die Kunde aber von der ihm angetanen Schmach durcheilte die ganze Stadt, sie erweckte ihm Sympathien selbst da, wo er nie welche besessen. Nicht umsonst hatte er immer wieder betont, wie schlimm es doch sei, daß dieses ihm grade an seinem Geburtstag geschehen wäre: noch Tage später bekam er Geschenke – Lebensmittel, Wein, Schnaps – von Leuten, die ohne dies Ereignis nie daran gedacht hätten, von dem Geburtstage des Freischluckers Notiz zu nehmen.

Unterdes ging der Krieg weiter, durch ein und durch zwei Jahre. Die Leute hatten jetzt andere Sorgen als die von Doll und seinem schlimmen Lebenswandel.

Auch Doll hatte an anderes zu denken: in diesem Jahre wurde seine Ehe geschieden. Er hatte mancherlei Sorgen, und es tat ihm darum um so mehr weh, wenn er den schon überwunden gewähnten Haß beim Anblick des Tierarztes wieder losbrechen spürte, mit der alten Gewalt, unverändert durch die Zeit, immer noch die alte Schmach . . .

Dann tauchte nach langer Abwesenheit die junge Frau wieder im Städtchen auf. Jetzt trug sie schwarze Kleidung. Doll erfuhr, daß sie schon seit längerem Witwe war. Aber wenn die Leute bei dieser Nachricht neugierig in sein Gesicht spähten, so lasen sie darin nichts als Gleichgültigkeit. Und es war wirklich Gleichgültigkeit, die Doll empfand. Wenn er vor zwei Jahren, in einer entflammten Stunde, etwas mehr für diese Frau gefühlt hatte, so war das längst vergessen, er erinnerte sich nicht mehr . . .

Aber das Leben in einer kleinen Stadt hat seine eigenen Gesetze. In einer großen Stadt begegnen sich Menschen, um sich nie wiederzusehen. Hier aber war dieser Außenseiter Doll, ein Mann, der trotz seines Geldes durch sein hochfahrendes Wesen nur Verdacht erregen konnte. Und da war diese junge Frau, jetzt zweifelsfrei Witwe, dreiundzwanzig Jahre alt, nicht mehr, obwohl sie bereits die Mutter eines fünfjährigen Kindes war, und sie trug zur Trauer gelackte Fingernägel und machte sich den Mund purpurrot. Die Kleinstadt wußte, was sie von einer solchen Frau zu halten hatte, genau wie sie über Doll Bescheid wußte!

Eine gemeinsame Abwehrfront gegen sich, ausgeschlossen vom Leben der andern, bespitzelt, beargwöhnt, verleumdet, mußten sie eines Tages zueinander kommen.

»Guten Tag!« sagte Doll zögernd. »Wir haben uns lange nicht gesehen . . .«

»Ja«, antwortete sie. »Und viel ist seitdem geschehen.«

»Richtig!« erinnerte er sich und sah die junge Frau an. Sie schien ihm noch schöner in der Trauerkleidung. »Sie haben Ihren Mann verloren . . .«

»Ja«, bestätigte sie. »Ich habe schwere Zeiten hinter mir. Mein Mann war über ein Jahr krank, ich habe ihn stets allein gepflegt. Und bei jedem Alarm mit dem Kranken in den Keller, die Wohnung halb ausgebrannt . . .«

»Schwere Zeiten!« bestätigte er und lachte dann über den neugierigen Blick der vorübergehenden »Frau Kapitänleutnant« böse auf. »Aber dieses Nest hat sich nicht geändert, heute abend werden wir wieder in aller Leute Munde sein.«

»Sicher!« bestätigte sie. »Bringen Sie mich ein paar Schritte? Wenn sie klatschen, sollen sie auch mit Grund klatschen! Wollen Sie heute bei mir zu Mittag essen? Ich habe grade ein Huhn vom Lande bekommen; so geht es«, sie lächelte, »auch ohne Marken.«

»Gut!« antwortete er. »Gerne. Ich bin niemandem mehr Rechenschaft schuldig.«

»Ich weiß«, sagte sie.

So begann es, und nicht anders ging es weiter. Sie wurden zueinander geführt, aus Trotz, aus Protest, aus einem Gefühl der Vereinsamung heraus. Endlich jemand, mit dem man wirklich sprechen konnte, der kein Verräter war. Später kam mehr dazu: aufrichtige Sympathie, sogar Liebe. Da war ihnen das Geklatsche der kleinen Stadt längst gleichgültig geworden. Sie zogen zusammen in das kleine Blockhaus der jungen Frau, die Mitbürger mochten über solche Schamlosigkeit toben! Jetzt war es Doll auch gleichgültig, als er überall hörte, der Tierarzt Wilhelm erzähle es jedem: nun sehe man es ja, jedes Wort, das er früher berichtet, sei goldrichtig gewesen. Jetzt war es ihm ganz gleichgültig geworden, daß dieser Feind triumphierte.

Aber dann, als sie geheiratet hatten, nicht in dem kleinen Nest, sondern in der großen Stadt Berlin, dann, als sie in der Küche der fast ausgebrannten Wohnung beieinander saßen und Adressen ausschrieben für die Hochzeitsanzeigen – da kam er wieder hoch, der Haß in ihnen allen beiden, und sie vergaßen nicht einen ihrer Feinde. Ein jeder bekam seine Anzeige: Farken-Willem und die bigotte Hoteliere voran! Was sie sich von diesen Anzeigen eigentlich für eine Wirkung versprachen, hätten sie selbst so genau nicht sagen können. Es kam ihnen schon wie ein Triumph vor, daß sie nun doch geheiratet hatten – ihnen allen zum Trotz, ein Schlag ins Gesicht der Prüderie –!

Sie kamen nur gelegentlich aus Berlin zurück in die kleine Stadt. Für viele Tage vergaßen sie oft das Nest in den Wirrnissen der Großstadt, in ihrer stets zunehmenden Düsterkeit, in die nur die Flammenbrände ganzer Straßenzüge ihr schauerlich zuckendes Licht warfen. Sie saßen nebeneinander in unzureichenden Luftschutzkellern, hörten das näherkommende Brausen der Flugzeuge, die ihnen auf den Leib rückenden Einschläge der Bomben . . . Sie hielten sich im Arm, die junge Frau sagte beruhigend: »Sie sind schon vorbei!« Dann ein ohrenbetäubendes Knacken und Krachen, das Licht zuckte gelb auf und erlosch . . . Sie schmeckten Kalkstaub im Munde, es war, als äßen sie ihren eigenen Tod –.

Wenn sie sich dann über zerstörte Gleisanlagen und Bahnhöfe wieder aus Berlin herausgekämpft hatten, wenn der Zug sie immer tiefer in die Wälder trug, die kein Anzeichen von Zerstörung aufwiesen, wenn sie dann abends, vor dem Rest des Heimwegs, noch in die Bahnhofswirtschaft traten, um rasch einen Schoppen zu trinken – so fanden sie dort alles wie eh und je. Der Wirt war noch ein bißchen geiziger mit seinen Vorräten und noch ein bißchen unverschämter gegen seine Gäste geworden; aber auf dem Sofa saß immer noch am gewohnten Platz der alte lederhäutige Tierarzt.

Sofort aber, wenn Doll diesen Mann neu erblickte, wurde mit einem Ruck der alte Haß in ihm wach. Mit einer elementaren Gewalt brach er in ihm hervor, und erst später kamen die Erinnerungen an all das, was dieser Mann ihnen Übles getan, wie eine nachträgliche und doch so unnütze Begründung. Er war dem Doll unbegreiflich, dieser Haß; so viel Schweres war doch in diesen Zeiten zu ertragen, nach jedem Bombenangriff empfand er das Leben als neu geschenkt. Unbegreiflich war dieser niedrige Haß, und doch mußte man sich mit ihm abfinden. Er hatte diesem Haß in sich Raum gegeben, er hatte ihn einnisten lassen, nun mußte er ihn ertragen, wohl sein ganzes Leben lang.

Ja, das ganze Leben – aber nur des andern Leben lang! Denn wenn er jetzt an dem verschlossenen, düster drohenden Haus des alten Tierarztes auf dem Hinweg zur Arbeit mit seiner jungen Frau vorüberging, wenn er, allein auf seinem Heimweg, das alte, verbeulte Schild mit seinen Grünspanflecken passierte, so vermied sein Auge nicht darum das Haus, weil er den Toten noch immer haßte. Nein, mit seinem Tode war der Haß dahingegangen, an seiner Statt war etwas wie eine Leere geblieben, eine vage Erinnerung an ein Gefühl, dessen er sich hatte schämen müssen. In diesen Zeiten des Umsturzes hatte kein Gefühl mehr Bestand, der Haß verging, es blieb Leere, Öde, Gleichgültigkeit, ferne waren alle Menschen. Nie war man so allein gewesen. Keiner war je so allein gewesen. Nur noch die junge Frau war bei ihm. Aber auch ihr gab er zu verstehen: »Es ist gut. Wir wollen nicht mehr darüber reden. Es ist für immer erledigt.«

Nein, wenn Doll seinen Blick von diesem Totenhause abwandte, so hatte das noch einen andern Grund. Immer wieder grübelte er über eines nach: da habe ich ihn doch sitzen sehen in der Bahnhofswirtschaft, die Tränen liefen ihm bachweis über das Gesicht, und er klagte, er müsse sich das Leben nehmen wegen der angetanen Schmach. Aber er hatte sich nicht das Leben genommen, dieser alte Jammerlappen, er hatte aus seiner Schmach, ohne Würde und Scham, ein Geschäft gemacht! Immer, sein ganzes Leben lang, war dieser Dr. Wilhelm ein Feigling gewesen, feige vor dem Hufschlag eines Pferdes, dem Hornstoß einer Kuh, dem Biß eines Hundes, war er zu einem bloßen Impfer von Schweinen im ungefährlichen Alter gesunken: Farken-Willem! Den Namen trug er mit Recht, und er hatte sich auch nie gegen ihn aufgelehnt, gegen diesen Spottnamen, wenn sie ihn beim Freischlucken erbarmungslos so anriefen, immer war er ohne Würde und Mut gewesen . . .

›Aber dieser Dr. Wilhelm‹, grübelte Doll dann wohl weiter, ›hat den Mut gehabt, zu tun, was ich zu tun nicht den Mut habe – obwohl ich Tag für Tag auch immer mehr verliere an Würde, Selbstachtung, Scham, Glauben und Hoffnung. Ich kann es nicht, und ich habe mir doch immer eingebildet, ein leidlich mutiger Mann zu sein. Aber er, der Feigling, hat es gekonnt. Er, der Feigling, den ich ins Gesicht schlug, er hat diesen Mut gehabt, und ich habe ihn nicht.‹

Mit solchen Gedanken ging Doll an diesem Hause vorbei, immer mit solchen quälenden Gedanken beschäftigt, denen er um jeden Preis entgehen wollte, und denen er doch nicht entging, er mochte hinsehen oder nicht. Dann suchte er sich das Zimmer vorzustellen, in dem dieser Mann die letzte Stunde seines Lebens verbracht hatte, in dem er »das« getan hatte. Doll wußte, zuletzt hatte der alte Tierarzt fast nichts mehr besessen als Bett, Tisch und Stuhl, alles andere war für Alkohol dahingegangen. Er suchte sich den Mann vorzustellen auf diesem einzigen Stuhl, die Pistole lag auf dem Tisch vor ihm – waren vielleicht auch da Tränen über sein Gesicht gelaufen, hatte er vielleicht auch da »Oh –! Oh –! Oh –!« geflennt –?!

Doll schüttelte den Kopf, er wollte sich dies nicht vorstellen, es quälte ihn zu sehr.

Eines stand jedenfalls fest: der Alte mit der Lederhaut ließ Doll zurück, leer, voller Selbstvorwürfe und Zweifel. So vieles Sichere war in diesen Tagen nun schon zweifelhaft geworden, und über dem alten Tierarzt verlor Doll nun auch noch seinen so alten Haß und den Glauben daran, daß er ein mutiger Mann sei. Wahrscheinlich war er gar nichts, ein ausgeblasenes Ei; er hatte sich mit Selbsttäuschungen gefüttert, und nun zerging alles! Nichts blieb mehr von Doll.

Wie gerne hätte er den Weg vorbei an diesem verschlossenen Hause überhaupt vermieden. Aber die Lage der auf einer Halbinsel gebauten Stadt zwang ihn immer wieder daran vorüber. Zwang ihn zu diesen quälerischen Gedanken. Erzwang von ihm das Geständnis, daß er nichts war, auch nie etwas gewesen war und in aller Zukunft, möge sie nun lang oder kurz sein, nichts sein würde als ein – Garnichts! Immer weiter ein Garnichts –!

Da war es schon am besten, man sagte zu der jungen Frau: »Gut, er ist tot. Wir wollen ihn vergessen. Wir wollen nie mehr von ihm sprechen!«

Es war eine Lüge. Nichts war gut, es konnte nichts vergessen werden. Aber was kam es denn heute noch auf eine Lüge an –?! Mochte die Frau ruhig denken, er haßte den alten Kerl immer noch so, wie er es vordem getan. Er konnte niemanden mehr hassen, aber lügen, das ging noch. Lügen paßte auch besser zu seiner Halbheit.

 


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