Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Zweiter Teil. Die Gesundung

 

Achtes Kapitel.
Die selbständige Entlassung

Während Doll so auf »Männer Drei oben« ein tatenloses Leben führte, dabei aber gezwungen war, durch die stets geringer werdenden Schlafmitteldosen alle Tage ein wenig wacher zu werden, konnte es ihm als dem Stammgast der Station nicht verborgen bleiben, daß die Patientenschaft dieser Station wesentlich anders zusammengesetzt war als früher. Die Paralytiker und Schizophrenen waren völlig zurückgetreten hinter einer ziemlich rasch durchpassierenden Klientel, die weder geistes- noch gemütskrank zu sein schien.

Diese Patienten langten meist in den Abendstunden an, selten von Angehörigen geleitet. Oft waren sie dann von einer fast gespenstisch anmutenden Lustigkeit, sehr geneigt, sich zu unterhalten und großzügig die teuersten englischen und amerikanischen Zigaretten zu verschenken. Später wurden sie von zwei Pflegern mit milder Überredung ins Bad geführt, und während sie dort in der Wanne saßen, arbeiteten die Stationsschwester und die Pflegerin eifrig an der Durchsuchung ihrer Sachen. Doll sah manchmal dabei zu und stellte fest, daß man mit einer minuziösen Genauigkeit jede Taschenfalte und jeden Briefumschlag nachsah, während man sich doch sonst damit begnügt hatte, alles Schneidende und Stechende zu entfernen, dazu vielleicht noch die Schnur vom Bademantel, die manche Depressiven zum Selbstmord benützten.

Tauchten dann die Neuankömmlinge wieder aus dem Bade auf, wurden sie trotz aller Proteste sofort ins Bett gesteckt. Es gab keine weiteren Unterhaltungen mit den andern Patienten mehr, eine Schwester faßte Posto an ihrem Bett, der junge Arzt erschien, meist gab es eine intravenöse Injektion, und der Patient schlief ein. In diesem Schlafzustand wurde er dann meist eine Woche lang gehalten. Manchmal wurde es freilich auch laut in dem Zimmer, Geschrei ertönte, das Geräusch scharrender Füße wurde laut, durch das Türfenster sah Doll flüchtig eine Pyjamagestalt, im Ringkampf mit Schwester und Pfleger befindlich, er hörte: »Macht mich nicht verrückt! Ich will . . .« Und das beruhigende Zureden: »Einen Augenblick Geduld, Herr Doktor! (Fast alle diese Patienten wurden »Herr Doktor« angeredet.) Der Arzt kommt sofort . . .«

Eilig kam auch wirklich der telefonisch herbeigerufene Arzt, nicht selten sogar der Geheimrat, neue Spritzen, andere Schlafmittel wurden gegeben, und Ruhe trat ein.

War dann diese erste Woche vorüber, tauchte der Patient schon dann und wann am Arme der Schwester auf. Mit gedunsenem Gesicht wandelte er schlafmittelbefangen von oder zu der Toilette, und es kam oft genug vor, daß er unterwegs stehen blieb, den Kopf gegen die Wand lehnte und stöhnte: »Ich kann nicht mehr, oh, ich kann nicht mehr! Was für ein Idiot bin ich gewesen, hierher zu gehen!«

Aber, ob Idiot oder nicht, auch ein Laie mußte sehen, daß es mit diesen Kranken rasch voran ging. Die meisten liefen schon in der dritten Woche angekleidet auf dem Gang hin und her, sie lehnten am Flurfenster und starrten ins Freie, sie sagten ungeduldig: »Es wird höchste Zeit, daß ich aus diesem Laden herauskomme!« Meist verschwanden sie dann wirklich rasch, besonders, wenn ihnen die Anrede »Herr Doktor« zu Recht zustand, und neue ähnliche Kranke zogen in ihr Zimmer ein.

Auch ein weniger in solchen Häusern erfahrener Mann als Doll hätte es schon nach drei Tagen gewußt, was es mit diesen Kranken für eine Bewandtnis hatte. Es war gar nicht nötig, daß einer dieser »Doktoren« eines Tages zu Doll ganz offen sagte: »Ja, mein Lieber, Sie haben's gut, Sie können hierbleiben, so lange Sie wollen. Ich muß möglichst schnell raus. Niemand draußen darf merken, daß ich hier bin, und warum ich hier bin.«

Natürlich durfte es niemand merken. Es waren ja Ärzte, morphiumsüchtig gewordene Ärzte, die sich hier, in aller Heimlichkeit, und vor allem verborgen vor dem gefürchteten Gesundheitsamt, von ihrer Sucht kurieren ließen. Daß es in der Mehrzahl Ärzte waren, lag daran, daß diesen das so knapp gewordene Morphium noch am leichtesten erreichbar war. Hätte es dieses Narkotikum reichlicher gegeben, wäre es bequem zu kaufen gewesen, so hätten bestimmt drei Viertel des deutschen Volkes die Zeitkrankheit, die abgrundtiefe Verzweiflung und Apathie, auf diese Weise zu betäuben gesucht.

So waren es in der Hauptsache Ärzte und allenfalls reiche Leute, die sich die Schwarzhandelspreise für Morphium leisten konnten. Sie fingen mit ein, zwei Spritzen an. Diese Spritzen schenkten Sorgenfreiheit; Kälte, Hunger, Leid um Verlorene und Verlorenes zählten nicht mehr. Langsam mußten sie steigern. Was vor einer Woche noch gewirkt hatte, heute wirkte es nicht mehr. Steigern und immer wieder steigern. Zu Anfang hatten sie nur des Abends vor dem Schlafengehen gespritzt, dann war die Nachmittagsstunde so endlos gewesen, und die Spritze hatte auch über sie bereitwillig hinweggeholfen, und schließlich hatten sie sich morgens für einen endlosen grauen Tag nicht mehr erheben können. Am Ende hatten sie so viel Morphium verbraucht, daß die Apotheker argwöhnisch geworden waren, oder ihre Arbeitslust völlig erstorben war. Oder aber ihre Frauen, ihre Angehörigen, ihre Freunde wurden mißtrauisch, ihre Ehe, ihr ganzes bürgerliches Leben, ihre Existenz standen auf dem Spiel: ein morphiumsüchtiger Mann war kein heilender Arzt mehr, sondern ein gefährlicher Kranker. Sie verschwanden eilig in dem Sanatorium. Nach außen hin lagen sie an einer Angina, ein freundlicher Kollege nahm sich unterdes der Praxis an – daß nur das Gesundheitsamt, die vorgesetzte Behörde, nichts davon erfuhr!

Doll sah in dieser nicht abreißenden Kette von Süchtigen Leidensgefährten, Menschen genau wie er selbst, die an sich und Deutschland verzweifelt waren, die unter der Last all der Erniedrigungen und Schamlosigkeiten zusammengebrochen und in künstliche Paradiese geflohen waren. Sie alle suchten – genau wie er – den »Kleinen Tod«. Sie alle hatten vielleicht noch eine geringe Hoffnung, die sie von dem letzten Schritt abhielt, ihnen allen fehlte noch – genau wie Doll – der letzte entscheidende Anstoß. Überall die gleiche Flucht aus der Gegenwart, die Weigerung, die Last auf die Schultern zu nehmen, die ein schmählicher Krieg allen Deutschen auflud.

Aber hinter der eigenen Gestalt, hinter diesen eiligen Besuchern der dritten Männerstation oben tauchte eine dunkle, düster drohende Masse auf: das ganze deutsche Volk. Es hatte eine Zeit gegeben, es war eine Zeit der Täuschung gewesen, aber in dieser Zeit hatte Doll doch gewußt, daß er nicht allein in dem ungeheuren Bombentrichter lag, sondern mit ihm das ganze deutsche Volk. Wie sich die morphiumsüchtigen Ärzte von diesem Volke gelöst hatten, so hatte es auch Doll getan. Endlose Stunden auf dem rotbraunen Linoleum des Ganges zur Nacht auf und ab schreitend, endlose Stunden in seinem Zellenbett liegend, in das Deckenlicht starrend, überlegte er, grübelte, übersah den Weg, den er bis hierher gegangen, immer weiter in eine eigensüchtige Vereinzelung hinein. Feige fliehend vor der ihnen allen gestellten Aufgabe . . .

Das Volk aber war draußen. Es war nicht wegzuleugnen, es war da, und er gehörte zu ihm. Während er hier tatenlos, weich gegen sich, von den Almosen lebte, die ihm auf Grund seiner früheren Besuche von diesem Hause gewährt wurden, arbeitete das Volk. Es hatte die Panzersperren weggeräumt und den Schutt von den Straßen, es deckte jetzt die Dächer ein und machte die Wohnungen winterfest. Es barg ausgeglühte Maschinen und ließ sie wieder arbeiten. Es hungerte, fror, brachte die Gleisanlagen wieder in Ordnung, buddelte im eisigen Oktoberregen Kartoffeln und zog in endlosen Trecks, mit dem Spärlichsten zufrieden, über die Landstraßen.

Während Doll neidisch auf die Zusatzlebensmittel der anderen Kranken starrte, versiegte die Milch in den Brüsten der Mütter, und Kinder kamen vor Hunger um. Während sich Doll mit der Nachtwache um ein zusätzliches Schlafmittel stritt, legten sich alte Frauen und Männer, zu Tode erschöpft, im Chausseegraben, im nassen Walde zum Todesschlaf nieder. Während heimkehrende Soldaten nach allem suchten: nach der alten Heimstatt, nach Weib und Kindern, nach Essen und Arbeit, Woche um Woche, und dabei nicht verzweifelten – waren Herrn Dr. Doll seine Wohnung und seine Nahrung nicht ein paar Schritt, nicht einige Worte auf den Ämtern wert. Während Doll ein Drohnendasein von dem Schmuckerlös seiner Frau führte und höchstens sich bitter beklagte, daß die Tausender nicht schnell genug zu ihm hinliefen, die er doch sofort sinnlos verschwendete, nahmen schwache Mädchen schwerste Arbeiten auf sich, von deren Tagelohn sie sich nicht eine Zigarette kaufen konnten – zu dem Preise, der Doll längst selbstverständlich geworden war.

Nein, er hatte sich wahrhaftig weit verloren, er war in ein beschämend nutzloses, faules Parasitendasein versunken. Er sah den Weg klar, der ihn in die Tobzelle dieses Hauses geführt hatte, seit jenem 26. April immer tiefer hinein in Morast und Sumpf. Und doch verstand er nicht mehr, wie er diesen Weg hatte gehen können. Welch Gefühlsaufwand um eine harmlos-trottelhafte Figur wie den Farken-Willem! Wie hatte ihn der Bierverleger Zaches so aus jeder Haltung werfen können –! Er hatte doch schon immer gewußt, wie diese Nazis waren. Diese sinnlosen Laufereien nach Ärzten und Schlafmitteln und Spritzen, die doch nichts änderten, die jede Entscheidung, die notwendig war, nur noch schwieriger machten!

Und dann war da noch etwas anderes. Dieser plötzlich ein wenig aufgewachte Dr. Doll, dieser Bücherschreiber, der gemeint hatte, es gebe für ihn nichts mehr zu schreiben, dieser Zweifler und Grübler, der sich völlig leer geglaubt hatte, dieser Ex-Bürgermeister, der seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen war, dieser Vater und Ehemann, der Kinder und Frau völlig vergessen hatte – er dachte plötzlich an die Kinder, mit großen Sorgen dachte er auch an die Frau. Jetzt, da Doll spürte, daß er gesünder wurde, daß es vielleicht doch noch etwas gab für ihn in diesem Leben wie eine Aufgabe, zwischen diesem schon wieder verbissen arbeitenden Volke, jetzt fiel ihm die junge Frau ein, und es wurde ihm angst um sie –!

Zu diesem Zeitpunkt war Doll schon nicht mehr ohne Nachrichten von seiner Frau. Geschrieben hatte sie natürlich nicht, aber eines Tages war das Dorle bei ihm aufgetaucht, die getreue Freundin seiner Frau, sie hatte ihm ein nagelneues Nachthemd gebracht und Zigaretten und ein halbes Brot. O ja, die Frau dachte an ihn, sie vergaß ihn nie, sie sorgte sich um ihn, und sie sorgte für ihn. Sie liebte ihn, und er liebte auch sie – wieder, er hatte es nur während seiner Krankheit vergessen.

Doll rauchte, Doll aß wie ein hungriger Wolf das halbe Weißbrot auf einmal auf. Das Dorle saß dabei auf der Bettkante und berichtete. Sie erzählte, daß die Alma der Liebling aller im Krankenhaus sei, auch der strengen, frommen Nonnen, und daß sie von allen verwöhnt werde, auch von den Ärzten. Die Wunde war wirklich schlimm gewesen, die Eiterung saß durch die verschleppte Behandlung schon tief. Aber nun sah es schon besser damit aus, jetzt hatten sie Zucker in die Wunde gestreut, ein altes Hausmittel, seitdem gehe es wirklich besser . . .

Ja, die Alma habe wieder ein bißchen Geld. Der Ben sei endlich – nach vielen Anrufen – im Krankenhaus erschienen und hätte Geld gebracht, aber nur noch Zweitausendfünfhundert. Er hätte gesagt, durch die stets sinkende Marktlage in Brillanten habe er im Ganzen nur Elftausend erzielt, mehr sei eben nicht zu machen gewesen. Die Alma habe eine Sauwut auf den Ben und habe es ihr, der Dorle, verboten, dem Doll davon zu erzählen; er möge es die Alma bloß nicht merken lassen, daß er Bescheid wisse. Eine Dame, die mit der Alma im gleichen Zimmer liege und die genau auf dem Schwarzen Markt Bescheid wisse, habe der Alma gesagt, ein Ring, wie von ihr beschrieben, würde mühelos 25 000, ja vielleicht sogar 30 000 Mark bringen. Doll könne sich also den Zorn der Alma vorstellen, und mit dem guten Freund Ben sei sie für jetzt und immer fertig!

Doll empfand auch Zorn, aber mit dem Zorn eine leichte Befriedigung, denn kein Ehemann ist frei von ein wenig Eifersucht auf die früheren Freunde der Frau, und er sieht sie lieber gehen als kommen. Er hörte also auch geduldig der Dorle schüchterne, aber gut verständliche Lobpreisung der eigenen Person an, was sie dagegen für eine gute Freundin sei, zu allem bereit, durch dick und dünn. Und er dachte, während er dies müßige Geschwätz anhörte: ›Ach, mein gutes, liebes, dummes Dorle! Auch du bist nur eine so gute Freundin der Alma, bis nichts mehr von ihr zu holen ist. Das müßte die Alma eigentlich auch recht gut wissen. Denkst du, ich merke nicht, daß du dir jetzt in aller Unschuld und Harmlosigkeit schon die dritte der zehn Zigaretten, die du mir mitgebracht hast, anbrennst –?! Bei der Alma wirst du es nicht anders machen, und wenn sie auch sehr gerne abgibt, viel zu gerne eigentlich und ganz verschwenderisch, sie will eben abgeben und nicht feindlich gebrandschatzt werden, und eines Tages wird es plötzlich bei ihr zu Ende sein mit den freundschaftlichen Gefühlen – auch dir gegenüber!!‹

So dachte Doll, aber er ließ sich darum nichts merken, sondern fragte, wie es denn wohl mit den schmerzstillenden Spritzen seiner Frau stehe? Auch darüber wußte das Dorle Bescheid. Zu Anfang habe die Alma ziemlich viele Spritzen bekommen, aber dann habe der Chefarzt ein Machtwort gesprochen, und nun bekomme die Kranke nur noch eine kleine Spritze zur Nacht und auch die nicht immer. Sondern sie mußte darum immer erst einen Tanz mit dem jungen Nachtdienst tuenden Arzt aufführen, aus dem sie freilich meist erfolgreich hervorging, denn der junge Arzt erlag leicht ihrem Charme, wenn sie bettelte, schmollte, weinte, klagte, lachte, sich zur Wand drehte und nicht ein einziges Wort mehr sprach, aber sofort aus dem Bette sprang und den fortgehenden Arzt festhielt, um die ganze Litanei noch einmal zu wiederholen. Verschlug das alles aber nichts, so war dieser Arzt für ausländische Zigaretten sehr empfänglich, die er sich von seinem dürftigen Gehalt nicht leisten konnte. So bekam die Alma doch noch meist ihre Abendspritze, berichtete das Dorle.

Nachdem Doll sich diese Nachrichten ein paar Tage überlegt hatte, entschied er, daß er bei Alma einmal selbst zum Rechten sehen müßte. Außerdem würde es sehr hübsch sein, das freudig überraschte Gesicht der jungen Frau zu sehen, wenn der Schwerkranke plötzlich in der Tür stand. Doll kannte den Geheimrat, und mit Recht bezweifelte er, daß er ihm schon jetzt die Erlaubnis zu freiem Ausgang in die Stadt erteilen würde. Doll war erst mitten in der Schlafmittel-Entwöhnung und noch nicht ganz taktfest in der Stimmung, und der Verdacht würde bei den Ärzten bestehen, daß er sich beim freien Ausgang in die Stadt zusätzliche Schlafmittel oder gar Narkotika besorgen würde. Denn diese Ärzte sind von einem ewigen Mißtrauen gegen ihre Kranken geplagt und können nie die Böcke von den Schafen unterscheiden – so denken wenigstens die Patienten, und also auch Herr Dr. Doll.

Wenn aber Doll den mißtrauischen Geheimrat kannte, so kannte er auch die Gewohnheiten des Hauses, und auf ihnen baute er seinen Plan, doch aus der streng geschlossenen Abteilung Männer Drei zu einem Stadtbesuch zu entwischen. Nach dem Essen, wenn die einen Pfleger zur Freistunde gingen und die andern von ihr kamen, in diesem Augenblick, da noch niemand recht Bescheid weiß auf der Station, in diesem Augenblick behauptete Doll kühnlich, es sei angerufen worden, er solle mal schnell aufs Büro wegen seiner Rechnung.

»Na, denn gehen Sie also aufs Büro!« sagte der Pfleger gleichgültig und schloß ihm die Tür auf.

Doll stieg die Treppen hinunter. Diese Treppen erinnerten ihn daran, daß er noch sehr wacklig und daß dieser Stadtausflug wirklich eine gewagte Sache war. Stufen waren eine komische Einrichtung geworden, sie saßen so willkürlich, immer anders als erwartet, die Knie wackelten, und sofort trat ein leichter Schweiß auf seine Stirne. Aber das erste Hindernis hatte er genommen, und nun galt es, das zweite zu nehmen, das Tor aus dem Haus hinaus! In der »Loge« saß ein immer waches Mädchen, und sie drückte nur auf den Knopf, der die Türe öffnete, wenn ihr der Fall klar schien.

Doll klopfte gleich gegen das Logenfenster und sagte dann freundlich zu dem heraussehenden Gesicht: »Der Geheimrat hat auf der Station angerufen, ich soll zu ihm ins Kurhaus kommen. (Das war der Hauptbau des Sanatoriums, in dem auch der Geheimrat wohnte.) Übrigens, ich heiße Doll, Dritte Männer oben.«

Das Mädchen nickte und sah ihn weiter prüfend an. Sie antwortete: »Ich weiß –«, aber dieses »Ich weiß« bezog sich nur auf Dolls Namen und Unterbringungsort.

Doll lächelte wieder. »Am besten«, sagte er sanft, »rufen Sie gleich beim Geheimrat an, damit Sie auch sehen, es stimmt.«

Aber er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hatte sie sich schon entschieden. Es war auf den Knopf gedrückt worden, das Türschloß summte. Doll sagte »Danke schön« und stand draußen im Garten, und zehn Schritte von der nicht verschlossenen Gartentür lief die Straße.

›Aber‹, sprach er zu sich, ›hier darf ich nicht auf die Straße treten, das Mädchen kann mir durchs Fenster nachsehen. Ich muß durch den Garten zum Kurhaus gehen und den dortigen Ausgang benutzen. Ein wenig mißtrauisch war sie schon. Geholfen hat mir, daß ich nur meinen Straßenanzug anhabe, nicht Hut noch Mantel. So geht man doch Ende November nicht aus. Sie sollte wissen, daß ich weder Hut noch Mantel besitze –!‹

Er lächelte vor sich hin. Er schlenderte, die Hände in den Taschen, durch den Garten, immer gewärtig, einen Arzt oder eine Schwester zu treffen, die nicht so leichtgläubig sein würden. Aber es ging alles gut, unangefochten gelangte er an der Hauptvilla vorüber auf die Straße und schlug nun rascher den Weg zur U-Bahnstation ein.

Es war doch schon verdammt kalt. Hoffentlich war Alma bald auf den Beinen, dann mußten sie als erstes in die Kleinstadt fahren und ein wenig saisongemäßere Kleidung holen. Nein, als erstes mußte die Geschichte mit der Wohnung und den Karten in Ordnung gebracht werden. Ach, sie hatten noch viel zu tun, ehe er richtig mit der Arbeit anfangen konnte –!

Es ist wirklich zu kalt für einen Sommeranzug – er ist froh, als er endlich in der U-Bahn ist, da ist es doch etwas wärmer. Er muß nun nicht mehr so klappern. Die Leute freilich können es nicht lassen, ihn wegen seiner leichten Kleidung anzustarren, aber sollen sie ihn gerne für einen Abhärtungsfanatiker halten.

Er sitzt auf einer Bank, die Hände zwischen den Knien, das Gesicht ein wenig vorgeneigt, daß es im Schatten bleibt. Ihm ist reichlich schlecht, Brechreiz quält ihn, der Schweißausbruch von der Treppe her wiederholt sich. Diese verdammten Dörrgemüse heute mittag! Es ekelt ihn jetzt noch, wenn er daran denkt. Hat man den ganzen Krieg darum Dörrgemüse gefressen, um es jetzt im Frieden mit Mäusedreck-Zulage zu bekommen –?! Eine Unverschämtheit ist das – der edle Geheimrat kann gar nicht schnell genug reich werden –!

Doch gibt sich Doll einen Augenblick später zu, daß es nicht das Dörrgemüse ist, das seine Übelkeit hervorruft. Immerhin hat er sich von dem Pfleger Franz noch zwei Nachschläge geben lassen – und der Mäusedreck war vielleicht gar kein Mäusedreck, sondern ein bißchen angebrannte Wruken! Nein, es ist einfach zu früh für diese Landpartie! Er ist noch nicht richtig gesund. Und es ist zu kalt!

Besonders fühlt er das, als er von der letzten U-Bahnstation zum Krankenhaus schleicht. Es ist gar kein so weiter Weg – normalerweise zehn Minuten, aber für ihn dauert das eine halbe Stunde. Er ist nicht mehr fröhlich, kaum freut er sich noch auf das Wiedersehen mit Alma. Über die von einer Bombe aus dem Verband geschleuderte Granitplatte der Gehbahn stolpernd, denkt er auf dem mühseligen Hinweg nur an den noch mühseligeren Heimgang. Und an den Empfang im Sanatorium. Da suchen sie ihn jetzt schon. Dem Pfleger und dem Logenfräulein, die ihn hinausgelassen haben, wird Krach gemacht. Es wird verdammt dicke Luft herrschen bei seiner Rückkehr. Nun, er sitzt gottlob schon im Stübchen, tiefer kann er auch strafweise nicht versetzt werden. Nimmt denn diese endlose Straße überhaupt kein Ende –? Und nun fängt es auch noch an zu tröpfeln – genau das richtige Wetter für solch eine Landpartie –!

Als er dann aber – von einer dieser Nonnen geführt, deren Lächeln, wie aus einem Madonnenbild gestohlen, immer geheimnisvoll unheimlich bleibt –, als er dann in der Tür von Almas Krankenzimmer steht, und er sieht sie da im Bett liegen – der Rücken ist ihm zugekehrt, sie schläft wohl, das Gesicht zur Wand –, als da die Dame im andern Bett sagt: »Frau Doll, ich glaube, Sie haben Besuch . . .«, ist alles Ausgestandene vergessen.

Er legt den Finger auf den Mund, ist mit drei raschen Schritten an ihrem Bett und sagt leise: »Alma –! Alma –! Meine Alma –! Mein Gold!«

Sie dreht sich langsam um, er kann es förmlich sehen, daß sie ihren Augen nicht glauben will. Aber plötzlich fängt ihr Gesicht zu glänzen an, vor lauter Glück zu leuchten und zu strahlen an, sie streckt die Arme nach ihm aus und flüstert: »Wo kommst du denn so plötzlich her? Du bist doch im Sanatorium!«

Er liegt schon neben dem Bett auf den Knien, hat die Arme um sie geschlungen, sein Kopf ruht an ihrer Brust. Er spürt den alten lieben Geruch der Frau, so lange entbehrt, er flüstert: »Ich bin denen ausgerissen, Alma! Ich habe es vor Sehnsucht nach dir nicht mehr aushalten können, da bin ich einfach ausgerissen . . .«

Oh, das Glück, wieder beieinander zu sein, zu fühlen, wo man hingehört in dieser eisigen Welt von Vereinsamung und Zerstörung. Glück, Glück, doch wieder Glück – und er hatte so lange geglaubt, er könne nie wieder glücklich sein! Zu hören, wie sie ihn voll Stolz der Zimmergenossin vorstellt: »Das ist mein Mann!« Und er weiß doch, er ist bloß ein alt gewordener Mann in einem zerknitterten, gar nicht einwandfreien Sommeranzug, er selber auch zerknittert und ganz und gar nicht einwandfrei aussehend. Aber das alles sieht sie nicht, weil sie ihn eben liebt, sie ist blind dafür.

Später sitzt er bei ihr auf der Bettkante, und sie erzählen sich – ach Gott! Was haben sie sich alles zu erzählen! Von den Ärzten, die jedes hat, und von den Mitkranken und den Schwestern und dem Essen, mit dem Alma es so viel besser getroffen hat als er, der Arme! Gleich muß er etwas Brot, das noch bei ihr liegt, essen, und die Suppe, die sie statt Nachmittagskaffee bekommt, zwingt sie ihm auch noch auf. Sie winkt mit Geld, und eine Schwester läuft nach Zigaretten. Ach, das Geld, diese Zweitausendfünfhundert, die Restzahlung von Ben, ihre letzte Einnahme, es ist schon beinahe wieder zu Ende. Bei ihr hält sich das Geld eben nicht. Er hat doch ein Nachthemd gebraucht (500 Mark!), und sie hat ein Nachthemd gebraucht (700 Mark!) – und dann diese Zigaretten –! Hier nehmen sie ihr sogar 15 Mark für die amerikanischen Zigaretten ab, diese Räuber! Sie wissen ja, sie ist eine Kranke, die sich nicht selber helfen kann!

Aber sie lacht dazu, lacht über die Wucherpreise, lacht über das schwindende Geld: heute ist heut! Es wird sich schon finden. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt, und es hat sich noch immer gefunden, immer ist es irgendwie weitergegangen. Es wird auch jetzt weitergehen! Wenn sie nur erst wieder zusammen sind, diesmal werden sie es anders machen! Sie werden ihre Sachen aus der Kleinstadt holen, sie haben ja noch so viel Sachwerte, ein Jahr lang können sie von der »Substanz« leben. Sie werden sich eine prima Wohnung einrichten, und sie wird am Kurfürstendamm ein Krawattengeschäft eröffnen. Nur ganz teure Ware, möglichst aus England –! Davon versteht sie etwas, er weiß doch, sie hat einmal in dem feinsten Herrenausstattungsgeschäft gearbeitet. Sie wird schon sehen, daß sie nur die Kundschaft bekommt, die Geld hat, dafür hat sie einen Blick.

Unterdes, während sie so Geld verdient, wird er ein großes Buch schreiben, das seinen Namen auf einen Schlag wieder in aller Leute Munde bringt. Aber er wird nicht nur schreiben, er wird dabei auch ein bißchen nach dem Kind, der Petta, sehen. Das Kind muß sich noch viel mehr an ihn gewöhnen, es muß ihn richtig liebhaben lernen, nie soll es ihn als »Stiefvater« empfinden.

So plaudert sie. Nirgends sieht sie Hindernisse, sie kann sich nur Erfolge denken. Er lauscht ihr, er nickt oder ist auch bedenklich, aber das alles ist nicht wichtig. Sie ist ein Kind, die Pläne von heute sind morgen vergessen, morgen sind andere Pläne da, andere Hoffnungen. Er kann sie ruhig auch die unmöglichsten Pläne entwickeln lassen, sie haben keine Konsequenz. Und doch fühlt er sich von ihrer Tatkraft angesteckt, von diesem jungen wirbelnden Leben: dieser Ausbruch aus dem Sanatorium, so verfrüht er auch war, er ist doch ein erster selbständiger Schritt, ein Gruß an die Zukunft!

So saßen sie und plauderten zärtlich von Vergangenheit und Zukunft, da ging das Licht an im dunkel gewordenen Zimmer, eine Nonne stand in der Tür, die Hand am Schalter, und sagte, madonnenhaft lächelnd in ihre erschrocken auseinanderfahrenden Gesichter: »Gleich kommt das Abendessen! Ich glaube, Herr Doll, Sie müssen jetzt nach Hause gehen.«

Ja, sie hatten über ihrem langen Gespräch alles um sich vergessen. Sie hatten nicht gemerkt, daß es dämmrig und daß es dunkel geworden war. Längst war die Tanzmusik im Radio verklungen, jetzt hielt irgendein Mann, der mit der Zunge anstieß, einen Speech über die Notwendigkeit, Steuern zu zahlen. Aber doch ging Doll nicht sofort. Er kam nun sowieso viel zu spät ins Sanatorium zurück. Vielleicht würden die ihm sogar, um ihn zu ärgern, nicht einmal das Abendessen aufheben, aber das war ihm alles jetzt ganz gleich. Die letzte Zigarette, die allerletzte, die übriggebliebene, rauchten sie beide noch gemeinsam: »Erst du drei Züge, dann ich drei Züge, nun wieder du drei Züge – halt, mogle nicht zu meinen Gunsten, Verwöhnerin, das waren nur zwei Züge –!«

»Morgen kommst du wieder!« sagte Alma beim Abschied mit Nachdruck.

»Morgen –?« fragte er lächelnd zurück. »Ich glaube nicht, daß ich schon morgen wiederkommen kann. Die werden mich jetzt eine Weile strafweise hinter Schloß und Riegel halten.«

»Ach, du schaffst es schon!« meinte sie vertrauensvoll. »Wenn du willst, schaffst du alles.« Er lächelte nur zu diesem Lob. »Und«, setzte sie eilig hinzu, »wenn es morgen nicht geht, kommst du in drei, vier Tagen! Denke nur immer daran, daß ich hier liege und bloß auf dich warte.«

Er küßte sie. »Auf Wiedersehen, Liebes! Sobald wie möglich!«

»Sobald wie möglich! Auf Wiedersehen! Komm gut hin – o Gott, du Ärmster, was wirst du frieren müssen!«

Ja, er fror erbärmlich auf seinem Heimweg, und er war froh, als er das Sanatorium endlich erreicht hatte. Von dem Augenblick an, da er auf den Klingelknopf drückte, da das Türschloß mit Schnarren begann, beschäftigte ihn, trotz seines Frierens, nur noch der Gedanke, wie man ihn wieder aufnehmen würde, und er hoffte, es werde ein wenig gnädig abgehen.

Das Mädchen, das ihm geöffnet hatte und das nun durch das Logenfenster sah, war noch dasselbe, das ihm am Nachmittag den Weg auf seine gröblichen Schwindeleien hin frei gemacht hatte. Sie wollte schon das Guckfensterchen öffnen und ließ es dann doch. Aufatmend stieg Doll die Treppen hoch und dachte: ›Nun, die erste Gefahr ist überstanden . . .

›Wie ist es?‹ dachte er weiter, noch immer auf der Treppe. ›Ist das nicht eigentlich genau so, als müßte ich mich in der Schule wegen eines geschwänzten Tages melden –? Bin ich nun eigentlich dreizehn oder bin ich zweiundfünfzig Jahre alt? Es ist genau dasselbe Gefühl wie damals, und jetzt riecht es auch so, wie es im Prinz-Heinrich-Gymnasium in der Grunewaldstraße gerochen hat! Ein Gefühl von erwartungsvoller, prickelnder Angst, ein Geruch von ödem, der Sonne ausgesetztem Staub . . . Ach, es ist wirklich so: im ganzen Leben kommen wir nicht aus der Schule. Ich jedenfalls nicht, ich bin und bleibe der alt gewordene Gymnasiast und mache noch immer die gleichen Dummheiten wie damals!‹

Er drückte jetzt auf den Klingelknopf der Dritten Männerstation. Wie immer mußte er eine ganze Weile warten, bis ihm geöffnet wurde. Der alte Oberpfleger sah ihn einen Augenblick an, als wolle er etwas sagen, aber dann ließ er ihn ohne ein Wort eintreten. ›Das war Gefahr Nummer Zwo –!‹ dachte Doll.

Auf der Diele saßen wie immer in der Stunde zwischen Abendessen und Schlafengehen viele Kranke herum, andere gingen den langen Gang mit einer zornigen Ungeduld auf und ab. Um diese Zeit verließen selbst Patienten, die den ganzen Tag teilnahmslos im Bett gelegen hatten, ihr Lager. Von irgendeiner Unruhe getrieben, vielleicht von einem unbewußten Freiheitsverlangen hochgejagt standen und liefen sie ziellos und wortkarg herum, ehe der Schlaf kam – meist durch die Nachtschwester in Tränklein, Tabletten, Spritzen verabreicht.

Doll ging wortlos zwischen den Leidensgenossen hindurch, und auch sie beachteten ihn kaum. Es war der große Vorteil dieser »schweren« Station, daß man sich benehmen konnte wie man wollte, heute mit allen reden und morgen gegen alle schweigen, heute lustig sein und morgen alles entzweischlagen – nichts überraschte, alles galt gleich.

Doll fand sein Stübchen, die Zelle, verschlossen, nicht nur die mit dem kleinen Glasstück des Spions, sondern auch die gepolsterte, lärmaufsaugende Außentür war zu: das war besorgniserregend viel Bemühen für das Eigentum eines Mannes, der so gut wie nichts besaß. Nun schön, sie hatten ein sehr kleines Stückchen Seife, ein Nachthemd und einen Kamm vor dem eventuellen Diebstahl eines kleptomanischen Kollegen bewahrt, aber nun sollten sie ihm seinen Stall aufschließen! Er war todmüde und hungrig, hoffentlich stand sein Abendessen drin in der Zelle, daß er damit nicht auch noch Lauferei hatte!

»Herr Ohnholz«, sprach Doll höflich zu dem gleichgültig an ihm vorbeigehenden Pfleger, »wollen Sie mir nicht meine Zelle aufschließen –?«

»Ihre Zelle –?« grinste der Pfleger, aber nur schwach, und tat nichts dergleichen. »Aber da sitzt seit heute nachmittag der Bartel aus Zimmer 14 drin, war ein bißchen aufgeregt, nicht wahr –?«

»Und wo wohne ich jetzt? In Zimmer 14?« fragte Doll und wollte es noch immer nicht so recht glauben, was ihm doch jetzt schon sehr wahrscheinlich schien.

»Ja, da kann ich Ihnen nichts darüber sagen!« antwortete der Pfleger achselzuckend und ging schon wieder weiter. »Soviel ich weiß, ist deswegen nichts angeordnet.«

›Sehr hübsch – angenehm und lieblich!‹ dachte Doll und ging weiter zur Teeküche. ›Nun, wir werden ja sehen. Qui vivra, verra . . .

In der Teeküche saß seine alte Freundin, die Pflegerin Kleinschmidt. Einige dutzend Male hatten sie schon im Luftschutzkeller miteinander gezittert und die letzte Zigarette und den letzten Bohnenkaffee nach dem Angriff untereinander geteilt.

»Na –?« fragte die Kleinschmidt, als sich Doll wortlos auf dem Holzstuhl an der andern Seite des Küchentisches niederließ. »Na –? Ich denke, Sie haben sich selbst entlassen, Herr Doll –?«

»Nur 'nen kleinen unerlaubten Besuch bei der kranken Frau gemacht«, antwortete Doll. »Und unterdes haben die meinen Bunker besetzt. Ganz der Chef, der liebe Gott!«

»Der liebe Gott tut immer das Richtige!« nickte die Pflegerin, die den Geheimrat ebensowenig ausstehen konnte wie Doll, und sie kannte den Chef schon an die zwanzig Jahre. »Wissen Se, Herr Doll«, fuhr sie dann fort und sah ihr Gegenüber mit bedeutungsvoll zusammengekniffenen Augen an. »Wenn ich Sie wäre, ließe ich's bei der eigenmächtigen Entlassung . . .«, und wieder nach einer Pause: »Ich ließe mich nicht mit viel Stunk rausschmeißen aus einem Laden, der so viel Geld an Ihnen verdient hat. Lieber schmisse ich mich selbst raus!«

Doll dachte einen Augenblick scharf nach. Die Uhr ging auf acht. »Ob ich noch 'ne Untergrund in die Stadt rein kriege?« fragte er dann.

»Immer! Immer!«

›Irgendwie werde ich in das Haus schon reinkommen. Die Schulz wird nicht sehr erfreut über mein neuerliches Auftauchen sein, aber mit der komme ich schon zurecht. Es geht alles ein bißchen schneller als im Programm vorgesehen mit meiner Heimkehr in die Welt, ins tätige Leben, aber die Kleinschmidten hat ganz recht: lieber tun, als getan werden!‹

»Na –?« fragte die Pflegerin und sah ihn prüfend an.

»Ist gemacht!« antwortete er und stand schon auf. »Auf Wiedersehen, meine Gute, oder nicht auf Wiedersehen – wenigstens nicht in diesem Haus!«

»Halt! 'nen Momang!« rief die Pflegerin und nahm nicht die gebotene Hand. »Sie haben doch nischt zu Abend gegessen! Warten Sie! Ick jeb Ihnen –!« Und sie nahm aus dem Wärmeschrank eine Schüssel Kartoffeln mit Mohrrüben. Sie legte Brot dazu, vier, fünf Scheiben.

»Das geht nicht!« widersprach Doll. »So viel Brot steht mir nicht zu. Ich will nicht, daß Sie sich meinetwegen Brot absparen.«

»Quatschen Sie hier bloß keine Opern«, antwortete die Kleinschmidten. »Ick gebe Ihnen nich mehr, als ick vaantworten kann.« Und erklärend: »Der Bartel hat 'nen Anfall jehabt, und jetzt 'ne Spritze, von der er bis morjen nich uffwacht. Der braucht keen Abendessen. Daher!«

»Na, denn also! Danke schön!« sagte Doll und fing an zu essen wie ein hungriger Wolf. Während er aß, drehte sich die Pflegerin aus Stummeln bedächtig eine Zigarette, brannte sie an der Gasflamme des Wärmschrankes an und begann dann, Doll über den Zustand seiner Frau auszufragen, wo er ein Heim finden würde, was für Sachen er noch besäße, und vor allem was für Aussichten . . .

»Na also!« sagte sie schließlich, räumte den Teller fort und stellte ihm einen Becher mit Milchkaffee und einen Teller mit Marmeladenbroten hin. »Dann können Sie ja ooch noch mal janz von vorne anfangen, wie wir alle. Schaden tut Ihnen det bestimmt nischt. Die Grappen vagehen Ihnen davon!«

Doll protestierte: »Aber diese Marmeladenstullen stammen nicht vom Haus. Die sind ganz privat. Solche Stullen werden hier nicht gereicht. Außerdem bin ich völlig satt.«

»Wie sich een erwachsener Mann bloß so anstellen kann«, meinte sie etwas spöttisch. »Seien Sie doch bloß froh, daß Se sich vor den Hungertagen noch mal sattfressen können! Fressen Sie, Mensch!« schrie sie plötzlich zornig. »Hab ick wat jesagt, als Sie mir am 16. Februar 43 morjens Ihren letzten Bohnenkaffee und Ihre letzte Zigarette gaben –?! Na also«, fuhr sie friedlicher fort, als er schon aß, »daß ihr Männer euch immer erst dußlig anstellen müßt, keene Jungfer ziert sich wie ihr!«

Später, als er sich zum Gehen anschickte, schob sie ihm noch eine »aktive« Zigarette und einen Zwanzigmarkschein über den Tisch. »Ick denke«, sagte sie drohend, »Sie werden sich nich wieder zieren! Ick werde mir auch nich zieren, wenn Sie mir statt eine zwei Zigaretten zurückbringen. Und det Jeld jeben Sie mir noch vor Ultimo zurück, Ehrensache det, wat –? Und jetzt hauen Sie bloß hier ab! Ihre sieben Zwetschgen ha ick in 'nen Karton jetan, es wäre auch noch mehr rinjejangen! Übrigens, die letzte U-Bahn dürfte schon abjeschwommen sind, na, det Loofen nach Wilmersdorf wird so 'nen starken jungen Mann, wie Sie sind, nischt ausmachen – besonders in diese Jahreszeit. Womöglich holen Se sich 'ne Lungenentzündung – jarnich unflott! Sparen Se sich 'ne Masse Sorgen in de nächste Zeit –!«

 


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