Kurt Faber
Tausend und ein Abenteuer
Kurt Faber

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Riffe und Palmen

Ankunft des Dampfers / Beschäftigung, die beinahe in Arbeit ausartete / Auf »Malanga« / Ein Weltwunder / Insel auf Urlaub / Besuch bei Robinson Crusoe / Etwas von Strandläufern / Die Insel Vavau / Ankunft in Apia / Zusammenstoß mit der Polizei / Ein Kapitel Politik / Urwaldzauber / An R. L. Stevensons Grab / Tusitala / Onkel Sams andere Insel / Ein hochnotpeinliches Verfahren / Und das Ende

Auch ein Tongatanz dauert nicht ewig. Auch die Tongasonne ermüdet zuweilen. Mondscheinnächte über Südseeinseln sind etwas ganz Paradiesisches, aber auch europäischer Komfort – so nüchtern er an sich sein mag – ist nicht zu verachten, und so war es kein Wunder, daß die Dampfsirene des am frühen Morgen von Neuseeland angekommenen Postdampfers ein freudiges Echo auf der ganzen Insel weckte. Für ein paar Stunden war selbst Nukualosa ein Geschäftsplatz, eine Art Zentrum der großen Welt, die bis hierher ihre letzten verschlafenen Wellen warf. Was vorher Beschäftigung war, das wurde nunmehr Geschäft und artete beinahe in Arbeit aus. Auf dem Brückenkopf türmten sich die Koprasäcke. Es wimmelte allenthalben von neuen Lendentüchern und fabelhaften Sonnenschirmen. Auch die Königin machte Toilette. Irgendwo sah man sogar ein Auto, der Schutzmann unter dem Sonnenschirm regulierte den Verkehr mit wichtiger Miene wie sein Kollege am Potsdamer Platz, und im Postamt, wo sie die exotischen Briefmarken verkauften, war Hochbetrieb. Denn in Tonga gibt es keine Analphabeten.

Ueber dem kam das weißgekleidete Heer der Passagiere über die Brücke; Geschäftsleute und Beamte auf dem Weg nach den Samoainseln, Engländer mit steinernen Gesichtern, junge und weniger junge Damen mit graumelierten Bubiköpfen und langen Hälsen, die sie noch länger streckten, während sie wundergläubig die Gegend lorgnettierten: »Very nice, indeed!«

Als der Dampfer am späten Abend wieder in See ging, schiffte ich mich ebenfalls ein. Der Kapitän hatte es eilig, weil er noch vor Einbruch der Dunkelheit die Riffe hinter sich haben wollte, die die Lagune einschließen. So wurde denn ohne viel Federlesens die Leine losgeworfen. Schnell entfernte sich das Schiff von der Brücke, wo unsere Freunde noch lange winkten, während eine lärmende Blechmusik einen mehr lauten als melodischen Abschiedstusch blies. – –

Schiffen, die durch die Südsee fahren, fehlt es zumeist nicht an Passagieren. Zumal die Tonganesen sind sehr reiselustig, Und da sie ohnehin zumeist nichts zu tun haben, packen sie mehrmals im Jahre die ganze Familie auf und gehen mit Kind und Kegel »auf Malanga« zu guten Freunden und getreuen Nachbarn, die nicht immer erbaut sind von dem Besuche. Oft, wenn sie das Herannahen des Unglücks noch zeitig gemerkt haben, ergreifen sie Hals über Kopf die Flucht in den nahen Busch. Im anderen Falle aber schicken sie sich mit der allergrößten Grazie in das Unvermeidliche, schmücken die Gäste mit Blumen, trinken Kawa und stehlen dem lieben Gott die Tage ab mit Schlafen und Tanzen. Aber auch der, der nicht auf Malanga geht, sondern sozusagen in Geschäften reist, wird von seinen Freunden wie ein Pfingstochse geschmückt mit einem schweren Kranz von Ingwer- oder Hibiskusblüten, und so wird das Verdeck zu einem Blütentraum von Tongatänzen, während die Maschine eigensinnig weiterstampft und der Mond ein geisterhaft weißes Licht durch das Tauwerk wirft.

Es war eine schöne Nacht, und ebenso angenehm wurde der folgende Tag, der wie ein junger Gott aus dem Meer aufstieg. – Und noch an diesem Tage sollten wir das größte Naturwunder schauen, das, trotz Niagara und allem, unsere Erde heute aufzuweisen hat.

Gegen Abend, als die Sonne sich schon zum Untergang rüstete und der ganze westliche Horizont in so tiefen Farben erglühte, wie man sie nur auf den unendlichen Wasserflächen des großen Pazifik sehen kann, kam Land in Sicht; einzelne Inseln, die sich ganz anders präsentierten als die, die wir bisher zu sehen bekamen. Statt des flachen Strandes und der Kokospalmen, die auf dem Meere zu schwimmen schienen, waren es schroffe Felseneilande, die jäh aufstiegen und auf denen von der weiten Gotteswelt kein weiteres Leben zu sein schien als der Wind, der sein klagendes Lied zwischen den Steinen sang. Weit weg, kaum sichtbar, im Dunste der Ferne stand ein spitzer Vulkankegel, um den die feinen, durchsichtigen Rauchwolken schwammen, und etwas näher, gegen Nordosten, eine andere hohe Insel, die man nur mit Kopfschütteln betrachten konnte. Mehr wie ein schwimmender Kochkessel sah sie aus, wie ein Krater, der durch irgendeine furchtbare Katastrophe vom Berggipfel weggeschleudert wurde und nun hilflos auf dem Wasser schwamm. Es ist eine etwa drei oder vier Quadratmeilen große Insel, die in ihrem höchsten Punkte etwa zwei- bis dreihundert Meter hoch über der Meeresfläche steht. Ein flaches Vorland im Westen steigt an zu einer hohen Wand, die in einem Halbkreis um einen nach dem Meere zu offenen Krater steht. Nur ein ganz niedriger Landgürtel trennt diesen von der anrennenden Brandung, so daß man vom Schiff aus direkt in diesen Kochkessel der Natur hineinsehen kann wie einer in einer Mietskaserne in des Nachbarn Küche. Es kocht und brodelt in dem Kessel. Dampfwolken steigen auf. Die weiße Asche liegt dick an den steilen Hängen. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm ist weithin zu sehen, und kein Wunder, denn das ist das große Wunder dieses seltsamen Landes, daß es vor einem Jahre noch nicht da war!

Faulcon Island, die Falkeninsel, so genannt nach dem englischen Kriegsschiff »Faulcon«, das sie in den achtziger Jahren zuerst entdeckte, worauf sie bald wieder verschwand, periodisch wiederkehrte und jetzt zuletzt vor einem Jahre von neuem auftauchte, ein willkommener Gesprächsstoff für die wenigen vorüberfahrenden Seeleute, die eifrig ihre Formveränderung seit der letzten Reise diskutieren.

Ganz dicht unter der Insel fuhren wir vorbei und, während die Maschine stoppte und der Dampfer schwerfällig in der langen Dünung des Pazifik rollte, hingen alle Blicke wie gebannt an dieser seltsamsten aller Naturerscheinungen. Die Sonne war schon untergegangen, die schnelle Nacht der Tropen stand am Himmel, und im letzten Dämmerlicht lag die Insel als ein schwarzes, unheimliches Etwas, wie eine aus der Unterwelt hervorragende Tatze, die es uns deutlicher als tausend Worte sagte, daß es noch viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt. – Ja, und wenn noch einmal ein Böcklin geboren würde, hier könnte er seine Toteninsel malen ohne einen Hauch von Phantasie! Lange noch, während wir weiterfuhren, schaute ich zurück nach der Insel, die schon von der Nacht verschlungen war wie vorher vom Meere. Seltsames Land! Wäre es in wilden Geburtswehen dem Schoße des Meeres entsprungen, hätte es Inseln in Erdbeben erschüttert, es würde uns nicht so unheimlich vorkommen wie nun, da es fast lautlos kommt und verschwindet und alle unsere Vorstellungen von Aufbau und Alter der Erde über den Haufen wirft.

Am anderen Tage aber lagen wir im Morgengrauen vor einer anderen Insel, die wieder eine andere Welt war. Wieder wie in Nukualosa war alles flach, mit Riffen und Palmen, die auf dem Meer zu schwimmen schienen; eine winzige Insel, die wie ein grüner Smaragd in der tiefblauen Einfassung des weiten Pazifik lag. Es war wie bei Daniel Defoe, und Robinson Crusoe ließ auch nicht auf sich warten. Mit dem Schiffsboot fuhren wir zur kleinen Landungsbrücke, von wo aus man die Herrlichkeiten von Hapau mit einem Blick übersehen konnte: die alte, süße Eintönigkeit von Riff und Palmen und weißem Strande, deren man niemals müde wird. Dicht am Strande träumte sogar ein Auto, denn Raum ist heutzutage auf der kleinsten Insel für so etwas.

Das Auto gehörte Robinson, einem aus Stettin gebürtigen Manne, der schon anno 1879 zu diesem Strande gekommen war und dem, nach seinem blühenden Aussehen zu urteilen, dieses Dasein außerordentlich gut zugesagt hatte.

Es ist erstaunlich, welchen lockenden Einfluß die Einsamkeit der Südseeinseln gerade auf Menschen auszuüben vermochte, denen sonst die bunte Abwechslung des Daseins ein Lebenselement war. Wetterharte Seefahrer, Abenteurernaturen von reinstem Wasser, die vorher als Walfischfänger, Sklavenhändler und in Dutzenden von anderen ausgefallenen Berufen in aller Herren Ländern ein fröhliches und gefährliches Dasein führten. Beach combers, Strandläufer nennt man solche Leute. Vielleicht nicht ein einziger von diesen hat solches Inseldasein von Anfang an beabsichtigt. Manch einer mag sich wohl vorgekommen sein wie ein Verbannter auf der Teufelsinsel, nachdem erst einmal der erste Rausch der Neuheit vorbei war. Wie der Robinson im Buche mag er nächtelang am Strande gestanden haben, um Ausschau zu halten nach einem rettenden Schiff. Aber die Schiffe waren selten, und wenn sie kamen, so standen die Chancen zehn zu eins, daß sie ihn nicht mitnahmen. So fand man sich in sein Schicksal und fand sich gut. Denn schließlich war man hier jemand, und was war man in Hamburg, in Liverpool? Man war frei, das Leben ein Traum, ein dolce far niente. So wurde die Südseesonne zum Kapua vieler starker Naturen. – Und wer wollte sie darum schelten? Die Sonne bringt das mit sich, und das Meer, das leise murmelnd von fernen Zonen erzählt.

Aber die Schiffe sind noch unruhiger als die Menschen. Bei Anbruch der Nacht gingen wir wieder in See und mit uns eine andere Horde von »glorreichen Wilden«, die sich ausbreiteten auf dem Verdeck in der unbekümmerten Art dieser Naturkinder; ein intimes Interieur, das voll Farbe war. Die Frauen bauten sich ein Zelt auf dem Ruderhaus, die Männer hockten faul auf der Luke und über allem hing der sonderbar süßliche Geruch von Kokosöl. Und noch geschmückt mit den Bändern und Blumenkränzen, die ihnen ihre Angehörigen bei der Abreise umgehängt hatten, begann dann gleich wieder der Tanz. –

Im ersten Licht des kommenden Tages näherten wir uns der östlichsten Tongagruppe, der Inselflur von Vavau. Diese ist nun wieder vulkanischen Ursprungs, dicht bewachsen und überragt von wilden Felszacken, die einem alles, was man einmal gelesen hat von verwunschenen Inseln, verschwiegenen Seeräuberschlupfwinkeln, vergrabenen Schätzen und spanischen Silberflotten wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Zwischen der Brandung vor den Riffen kommt man durch eine enge Einfahrt in einen Hafen, wie man ihn besser im weiten Pazifik kaum mehr wiederfindet. Zwischen steilen, von üppigem Grün wild überwucherten Bergen fährt man etwa sieben Meilen weit durch eine tiefe, blauschimmernde Meeresstraße in eine vollkommen landumschlossene Bai, wo einen an der Landungsbrücke die ganze Bevölkerung mit allen Anzeichen aufrichtiger Begeisterung empfängt. Denn das Erscheinen eines Dampfers – des Dampfers, der allmonatlich seine Rundreise macht, ist ein kleines Ereignis. Es wimmelt von bunten Gewändern, die in der Sonne schimmern. In seiner Farbenfreudigkeit ist es beinahe ein orientalisches Bild. Die Insel selbst stellt viel mehr vor als ihre Schwestern der Tongagruppe. Die Berge geben dem Bild einen Hintergrund. Lustige Bäche kommen plaudernd über die Steine. Dunkle Orangenbäume wachsen wild im Busch. Der Weg ist bestreut mit tauben Kokosnüssen, und was die Bananen anbelangt, so wachsen sie einem beinahe in den Mund aus der verwirrenden Ueppigkeit der hellgrünen Haine. Es ist in der Tat ein Schlaraffenland nach dem Herzen eines Kanaken. Als gewissenhafter Chronist muß ich freilich feststellen, daß die Bewohner mir bedeutend weniger wohlerzogen vorkommen als die von Nukualosa. Eine naseweise Manier marschiert frech durch die Gassen. Das mag an der engeren Berührung mit den Weißen liegen, von denen es etwa vierzig auf der Insel gibt, wovon die Hälfte Deutsche sind. Freilich ist es schwer zu sagen, wo hier Weiß anfängt und Braun aufhört. Man sieht Weiße, die nach Eingeborenenart in Hemd und Lava-Lava einherschreiten, und Braune, die aussehen, als ob sie eben aus einer Office in Pittstreet in Sydney herauskämen. Man sieht die abenteuerlichsten Mischungen von Weiß und Braun. Nie weiß man so recht, wo der Busineßman aufhört und der Strandläufer anfängt. Es ist alles ein wenig verkanakert. Strandläufer alle! Manche haben es sogar zum Minister und zu anderen hohen Vertrauensstellungen gebracht im Königreich Tonga. Doch fehlt es auch hier nicht, wie anderwärts, an den subtilen Dingen, die mit hohen Stellungen verbunden sind. Das erfuhr vor kurzem zu seinem Schaden der Königliche Leibarzt, der seine Herrin in Quarantäne beorderte, weil sie die Masern hatte. Es kam, wie es kommen mußte: sie gab dem Leibarzt den Sack und verbannte ihn noch obendrein aus ihrem Inselparadies.

Was soll man noch mehr von Vavau erzählen? Dicht hinter dem Hafen erhebt sich ein hoher, dicht bewaldeter Berg, an dessen steilen Seiten man sich mit Klauen und Zähnen hinaufarbeiten muß, im Zwielicht des Tropenwaldes. Aber es lohnt die Mühe, denn die Aussicht ist schön. Zu Füßen ein Meer von Palmkronen. Tief unten das Schiff wie ein Spielzeug. Weiter hinaus blaues Meer und weiße Riffe und zweihundertundfünfzig Inseln auf einen einzigen Blick!

Denn so ist das Land Tonga:

Das kleinste Königreich, der jüngste Vulkan, die schönsten Frauen, die meisten Inseln.

Es ist wirklich ein Märchenland!

 

Einige Tage später lagen wir vor der hohen Küste der samoanischen Insel Upola. Aus den weichenden Nachtschatten sonderte sich die liebliche Bai von Apia ab.

Apia, Samoa – hier lag es ausgebreitet im gleißenden Sonnenlicht, hier stieg es glorreich aus dem Meere wie fleischgewordene Kinderträume! Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße in Gestalt eines englischen bzw. neuseeländischen Polizeioffiziers, der eine Stunde lang bald mich, bald meinen Paß aufmerksam und andächtig betrachtete. – Wie war das denn möglich? Wie reimte sich das mit den Instruktionen? Wirklich ein »Hunne«, ein german citizendeutscher Staatsbürger hier am Strande von Apia, der erste seit vielen, vielen Jahren, versehen mit Brief und Siegel der neuseeländischen Behörde in Melbourne? Ein Mißverständnis, eine Ungeschicklichkeit nachgeordneter Instanzen. Aber das Pech war nun einmal passiert. Man mußte ihn laufen lassen, und so ging der Hunne an Land. Apia ist klein und ein Klatschnest. Die Kunde hatte sich schnell herumgesprochen. Sie sprang von Boot zu Boot. An der Landungsbrücke begrüßte mich ein ganzer Auflauf lavalavabekleideter Gestalten, die ihre halbvergessenen deutschen Brocken aus den hintersten Winkeln ihres Gedächtnisses hervorkramten.

»Guten Tag, Mister . . . Sehr heiß heute . . . Stillgestanden! Richt euch! . . . Verdammter Schweinehund!«

So viel Aufmerksamkeit war mir schon lange nicht mehr zuteil geworden. War sie echt? Vielleicht waren sie nur eine Gesellschaft von durchtriebenen Hafenlazzaroni; aber sie waren es mit Grazie. Sie taten so selbstverständlich familiär, sie lachten einen an mit Augen, so hell wie die Sonne dieses Landes, mit Zähnen, so weiß wie die Brandung. Und auf einmal fand einer das erlösende Wort:

»Willst du Bier haben?«

Das wollte ich freilich, denn der Tag war heiß, in Samoa herrschte schon seit zehn Jahren die Prohibition, und ein schlechtes Glas Bier war am Ende doch besser als gar keines. Wir gingen auf winkligen Wegen über Hinterhöfe und Gärten, über denen die Kokospalmen wehten, wir schlüpften durch mehrere Bananenhaine und kamen zu einem hinter dichten Mangobäumen versteckten samoanischen Hause, wo der Wirt das Mondscheingeschäft in aller Ruhe am hellen Tage betrieb. Das hausgemachte Bier schmeckte ein wenig nach Arsenik, aber sonst war es über Erwarten gut, sogar in Eis gekühlt, und so saßen wir noch lange auf der Matte und redeten Politik, denn das war von jeher das Lieblingsgeschäft der Samoaner. Das alte, immer neue Lied von den vergangenen besseren Zeiten. – Früher, als noch Dr. Solf hier war, da habe man eine gute Lava-Lava für zwei Mark bekommen. Jetzt koste eine schlechte doppelt soviel. Früher haben die Palangi (Weißen) Geld ins Land gebracht, jetzt tragen sie es fort. Früher sei man mit wenig Schutzleuten ausgekommen, jetzt müsse man schon Weiße aus Neuseeland herschicken, und alles werde einem vorgeschrieben, was man zu tun habe am Werktag und was nicht am Sonntag. Und überhaupt Neuseeland – soviel wie Dreck! – Ja, und ob es wirklich wahr wäre, daß demnächst ein großes deutsches Schiff komme, mit »Missi Uebba« und Gouverneur Schulz an Bord, und daß alsdann die Lava-Lava wieder zwei Schilling koste, und die vielen Schutzleute wieder fortgingen und man sich nicht mehr bei Nacht zu verschwören brauche, um ein Glas Bier zu trinken? »Vielleicht,« sagte ich. »Wer kann es wissen. Die Welt ist rund, und es ändert sich manches.«

Am hellen Mittag ging ich wieder durch die Straßen – die einzige Straße von Apia – und schaute auf das fremde Leben, das ganz eine Illustration war zu dem, was ich soeben gehört hatte. Wohin man schaute, sah man Eingeborene, bekleidet mit der blauen Lava-Lava, das Kennzeichen der Leute vom »Mau«, der großen Protestbewegung des samoanischen Volkes, das sich zu einem Bunde zusammengeschlossen hat, um durch das Mittel der passiven Resistenz, Verweigerung der Steuern, systematische Mißachtung der gesetzlichen Bestimmungen, also eine Art »non-cooperation«Nicht-Zusammenarbeit nach Gandhischem Muster, der nun schon vierzehn Jahre dauernden neuseeländischen Mißwirtschaft ein Ende zu machen. Denn zwischen diesen und ihren samoanischen Schutzbefohlenen ist heutzutage wahrlich keine Liebe verloren. Jener englische Staatsmann, der die Lügen in drei Klassen teilte: die gemeine Lüge, die Notlüge und die Statistik, hatte eine vierte, die Mandatslüge, vergessen, und diese ist die größte unter ihnen.

Was ist es, das einem hier nicht gefallen will? Ueber diesem Lande hängt schwer wie eine Wolke der Fluch der unerfüllten Versprechungen. Es ist etwas faul im Lande Samoa, und wenn man genauer nachforscht, so kommt man zu dem Schluß, daß das ganze hier herrschende System ein Unding ist. Vierzehn Jahre hat die deutsche Flagge über diesen Inseln geweht. Was unter ihr geschaffen wurde, ist nicht hinwegzubringen, denn es hat sich besser als ein steinernes Denkmal eingegraben in das Angesicht des Landes.

Nun ist das Land ebensolange in den Händen derer, die »in sacred trust of civilization« das Mandat übernahmen, mit der Begründung, daß die bisherigen deutschen Machthaber weder fähig noch würdig waren, das Land und seine Bewohner zu regieren. Sie übernahmen ein schuldenfreies Gemeinwesen mit einem Ueberschuß im öffentlichen Haushalt und dazu noch etwa 100 000 Hektar Plantagenland, das seinem bisherigen entschädigungslos enteigneten deutschen Besitzer einige 30 bis 40 Prozent Dividende abzuwerfen pflegte. – Wahrlich, ein beneidenswertes Erbe!

Heute, nach vierzehn Jahren, ist dieses ehemalige deutsche Musterländchen von Schulden erdrückt, am Rande des Bankrotts, das Land voll gärender Unruhe, die Regierenden selbst das Gespött des Mannes im Busch. Samoa hat man in diesen Jahren gebraucht, mißbraucht, vergewaltigt und bewußt getötet.

Getötet! Das Wort ist buchstäblich richtig. Als die Neuseeländer zuerst ins Land kamen, hatten sie nichts Eiligeres zu tun, als die deutschen Aerzte außer Landes zu schaffen und all das Hunnenwerk der deutschen sanitären Vorschriften außer Kraft zu setzen. Dafür brachten sie etwas anderes mit, und das war die Influenza, die in wenigen Wochen ein Drittel der gesamten Bevölkerung wegraffte! Der Massenmord am samoanischen Volke – das war die Morgengabe, die diese seltsamen Vormünder ihren Schutzbefohlenen überreichten! Daß es sich hier nicht um ein unvermeidliches Naturereignis, sondern allein um die grauenhaften Folgen einer frevlen Mißwirtschaft handelte, erhellt schon daraus, daß im benachbarten amerikanischen Samoa, das doch denselben Bedingungen unterworfen ist, nicht ein einziger der Seuche zum Opfer fiel.

Andere Sünden reihen sich würdig an diese wohl einzig dastehende Großtat auf sanitärem Gebiete.

Wie hat man in deutschen Zeiten gespottet über das Uebermaß von Uniformen, wo doch z. B. der frühere deutsche Gouverneur Dr. Solf alles andere als Militarist war und ist, während es die Neuseeländer bei ihren Gouverneuren nicht unter wohluniformierten Generalen und Obersten tun, die neuerdings sogar die Missionare in Uniform stecken und mit Säbeln versehen, damit dem Bedürfnis nach Pomp Genüge geschehe. Wie hat man einst genörgelt über deutschen Bureaukratismus, der doch ein Ausbund von liberalem Wohlwollen war, gegenüber dem, was heute in Samoa ins Kraut geschossen ist. Wenn es ein Land gibt, in dem noch mehr rote Tinte verschrieben und mit Schreibmaschinen geklappert wird, in dem kleine Regierungsbeamte sich mit einer leuchtenderen Aureole ihrer Wichtigkeit umgeben, dann möchte ich wohl wissen, wo das liegt. Es war das Unglück Samoas, daß Neuseeland sich gänzlich unvorbereitet in dieses Abenteuer stürzte, ohne auch nur eine einzige Persönlichkeit von praktischer kolonialer Erfahrung zu besitzen. So kamen die unglaublichsten Menschen zu Karrieren. Leute, die eben noch mit nichts als einem Paar Schuhe am Strand von Apia landeten, fuhren morgen im Auto, übermorgen sah man sie Urteil sprechen im Amtsgericht, und die Samoaner, die ein überaus fein entwickeltes Gefühl für Stand und Würde haben und überdies an die Herrschaft der deutschen Berufsbeamten gewohnt waren, weisen heute mit Fingern auf die Emporkömmlinge: »Was, das will ein Faamasino sein, wo er doch eben noch ein kleiner Kussi-Kussi war?«

Es würde zu weit führen, wenn man hier im einzelnen auf die verschiedenen Phasen der samoanischen Freiheitsbewegung eingehen wollte und auf die neuseeländischen Unterdrückungsmaßregeln, die darum nicht weniger grausam sind, daß das kabelbeherrschende Britannien wenig davon in der großen Welt verlauten läßt. Genüge es, zu erwähnen, daß im letzten Jahre nicht weniger als zweihundert Eingeborenenhäuptlinge verbannt wurden und daß man nun auch noch dazu übergeht, Europäer, die zufällig nicht der gouvernementalen Ansicht sind, des Landes zu verweisen. Ein besonders schwerer Fall war der des Halbblutsamoaners Nelson, eines reichen, in Apia ansässigen und dort geborenen Geschäftsmannes, der ohne Zeremonien aufs Schiff gesetzt wurde. In Anbetracht des den Bewohnern der Mandatsgebiete zustehenden Petitionsrechtes wandte er sich nach Genf an den Völkerbund, wo er aber gar nicht vorgelassen wurde, ein Schicksal, das man ihm voraussagen konnte, denn England beim Völkerbund anzuschwärzen, hieße wahrlich den Teufel bei seiner Großmutter verklagen!

So hat sich nach vierzehnjähriger segensreicher Regierung die neuseeländische Herrschaft glücklich zwischen alle Stühle gesetzt. Feindschaft bei den nicht beamteten Weißen, selbst bei den Stockengländern, Verachtung bei den Eingeborenen, verbunden mit systematischer Gesetzesverachtung, Deportierungen, Massenverhaftungen – das sind die Früchte.

Und schon sind sie in ihrer Ratlosigkeit dabei, einen Plan auszuhecken, der teuflischer ist als alle anderen, in seinen Konsequenzen schlimmer als die Influenzasünden. Die »Hawaiisierung« Samoas, die systematische Austreibung der eingesessenen Bevölkerung durch zugewanderte Asiaten. Man braucht nur die Grenzen zu öffnen, und in zehn Jahren ist es geschehen, wie heute schon in Fidschi und Hawai. Der Kuli wird den Lebensstandard senken und der Samoaner der Kuli der Kulis sein, ein Heimatloser auf eigner Erde.

Ah, das »Weltgewissen« ist weit und geduldig! Die derzeitigen Machthaber aber hätten endlich das gewünschte Milieu, das dem britisch-kolonialen Beamten von jeher am besten zusagte: die lächelnde Unterwürfigkeit des Chinesen, die pathetische Hilflosigkeit des Hindu, die grandios-vornehme Dienstfertigkeit der schwarzbärtigen, beturbanten Sikhs.

Samoa aber schliefe unter der britischen Fahne den Todesschlaf.

Doch das ist alles Politik. – –

 

Hinterwärts von Apia führt die Straße nach Vailima direkt in die Berge hinein. Es ist eine breite, sogar asphaltierte Straße, auf der die Autos jagen wie in einer Vorstadt von Berlin. Aber sie ist auch das einzige, was einen berlinisch anmutet in dieser Gegend. Einen Schritt vom Wege, und man ist schon im Busch, in der Wildnis oder wie man das nennen mag. Es ist allenthalben ein verwirrendes Chaos von üppiger Fruchtbarkeit. In hellen Hainen hängen die Bananen. Neben Brotfruchtbäumen stehen Palmen, schlank wie Schiffsmasten, und anspruchsvolle Mangos, die mit ihrem breiten Stamme und der mächtigen Krone alles andere beiseitegeellbogt haben, und unendlich viel anderes verwirrendes Gewächs, unter dem man sich nicht auskennt. Dschungel, die einem Garten gleicht, und Gärten, die wie eine Dschungel ausschauen, ein steter Kampf der Kultur mit der vordringenden Wildnis, die alles durchdringt, bis man beides nicht mehr auseinanderhalten kann. Ueberall sieht man die runden Dächer der Eingeborenenhütten, die eine so angenehme Ueberraschung sind für den, der eben erst von den Fidschiinseln kommt, wo die armseligen Blechhütten der Inder sein Auge ebenso beleidigten wie die Lehmhütten der Fidschianer, die von einer geradezu krankhaften Angst vor der frischen Luft zeugen. Mag man sonst über den Samoaner sagen, was man will: niemand kann ihm abstreiten, daß er es verstanden hat, ein Haus zu erfinden, das schlechterdings ein Ideal für das tropische Klima darstellt. Das Gerippe des Hauses besteht aus einem auf mächtigen Pfählen ruhenden Dach, und die Wände sind Kulissen aus Strohmatten, die man je nach Wind und Regen mühelos einsetzen und wieder entfernen kann. Bei Tag und bei gutem Wetter ist alles weit offen, und von der Straße aus kann man ungestört hineinschauen in das intimste Interieur.

Man sieht die Hausfrau, die dem Mann den Rücken mit Kokosfett einreibt, die Mädchen, die aus roten Beeren Kränze winden oder ein Stück Baumrinde zu einem Tapatuche hämmern. Weiße Wäsche flattert an der Leine. Zuweilen sieht man eine Nähmaschine oder ein Moskitonetz über dem Bett. In einem Hause bemerkte ich sogar eine Schreibmaschine, die unter einem Tapatuch hervorschaute. In solchem Hause sitzen sie auf den kühlen Matten und verbringen ihre sonnigen Tage, ohne daß einer so recht etwas zu tun hätte. Es gibt kein anderes Volk, das es so gut versteht, die Arbeit zum Spiel zu machen und im Spiel die Arbeit zu verrichten. Unterwegs begegneten wir zwei jungen Burschen, die beide schon ein Stück Arbeit hinter sich hatten. Der eine trug nach Chinesenart einen Korb voll Kokosnüsse an einem Stock, dessen anderes Ende ausbalanciert war mit einem zweiten Korb, aus dem ein lebendes Ferkel heraussah. Der andere war mit einer Axt im Walde tätig gewesen. Aber beide waren geschmückt mit grünen Kränzen, die sie sich unterwegs geflochten hatten. Es sah seltsam aus, aber nicht ein bißchen affektiert, keine Spur von bestellter Arbeit für den gutgläubigen Palangi. Denn so mußte es sein unter dieser Sonne.

Ganz plötzlich nimmt dieses Idyll ein Ende und man steht vor einem Hause, das in die Literatur eingegangen ist: Vailima, der einstige Wohnsitz des schottischen Dichters Robert Louis Stevenson, der hier seine Tage beschloß. Ganz in der Nähe liegt er begraben, und ich beschloß, dieser letzten Ruhestätte meine Reverenz zu erweisen, schon deshalb, weil ich kurz zuvor für einen deutschen Verlag noch eine von den allzu vielen Uebersetzungen seiner »Schatzinsel« angefertigt hatte.

Es war gewiß eine geniale Idee des Dichters, daß er, in Vorahnung kommender Touristen, sein Grab auf dem Gipfel des nahen Berges Vana errichten ließ; denn wenn sie schon einmal seine Ruhe stören wollten mit Literaturgesprächen aus dem Konversationslexikon und alles very nice und pretty und so awfully interesting finden wollten, so sollten sie wenigstens mit manchem Schweißtropfen dafür bezahlen. Es ist ein heißer, aber auch ein schöner Weg, der dort hinaufführt, ganz wie ein Bergpfad bei uns zu Hause. Ueber einen kleinen Bach hinweg kommt man zunächst an einen göttlichen – ja, ich weiß, aber von diesem Lande kann man nur in Superlativen sprechen! – an den göttlichsten aller Badetümpel mit einer natürlichen Dusche in Form eines Wasserfalls und rings umgeben von dem dichten Blätterdach des tropischen Bergwaldes, durch den die Sonnenstrahlen nur gedämpft hindurchdringen können. Es nützt nur wenig, daß man im kühlen Wasser badet, denn der Weg ist steil und der Urwald ist heiß wie ein Backofen. Am Wegrand stehen die wunderlichsten Bäume. Es raschelt und quakt im Dickicht. Eine Schlange zischt im Busch. Eine Eidechse läuft raschelnd über den Weg. Ein glatter Frosch, so grün wie die Blätter, sitzt glotzend im Schatten eines Mamniapfelbusches.

Und während wir noch beim Betrachten dieser Intimitäten des Urwaldes sind, wird es plötzlich hell in dem Dämmerdunkel. Vor uns liegt das Grab des Dichters, und ringsum schweift der Blick über Meer und Busch weit hinaus ins samoanische Land. Unter den vielen Blumen, die fleißige Hände zusammengetragen, liest man die Inschrift im Stein:

»Home is the sailor, home from sea,
And the hunter home from the hill.
«Daheim ist der Schiffer, daheim von der See,
Und der Jäger daheim vom Gebirg.

»O Tusitala«, steht über dem samoanischen Text. Biographen haben endlos viel geschrieben über diesen für Stevenson speziell erfundenen »Ehrentitel«. Es ist jedoch allem Anschein nach ein sehr gebräuchliches samoanisches Wort für einen, der Geschichten erzählt, und ehe ich noch zwei Tage in Apia war, war selbst meine Unbedeutendheit ein »Tusitala«.

Der hier liegt, war jedenfalls ein Tusitala von besonderer Sorte. Während man auf die Lichtung schaut und weit darüber hinaus auf Meer und Riff und Palmen, da ist es, als ob sie noch einmal aus dem toten Stein aufstiegen, die tollen Gestalten seiner wilden, ausschweifenden Phantasie: der Schoner, die Bai und die Insel. John Silver, der einbeinige Piratenkoch mit dem Papagei auf der Schulter. Die Sonne sank ins Meer. Fledermäuse geisterten zwischen den Bäumen, um die schon die Nachtschatten lagen. Ganz so eine sinkende Nacht wie jene, da den erschreckten Schatzsuchern von den Baumkronen die Geisterstimme entgegenschallte mit den letzten sterbenden Worten des Kapitän Flint:

»Darby Mac Graw! Darby Mac Graw!
Bring den Rum nach achtern, Darby!«

So ist Samoa noch heute ein Stück Literatur und ein Miniaturbild moderner Weltgeschichte. Wie muß es glorreich lustig hergegangen sein auf der Insel, damals, vor einem Menschenalter, als hier der »furor consularis«der Grimm der Konsuln wütete und der Strand von Apia wie ein Knochen zwischen den keifenden Hunden der »Großen Mächte« lag. Interessant müssen die Zeiten gewesen sein, als hier noch kein Tag ohne hohe Politik, keine Woche ohne Verschwörung, ohne diplomatischen Zwischenfall vorüberging. Damals – da war hier kein Konsul, der sich nicht als Königsmacher, kein Kommis, der sich nicht als politische Größe fühlte. Die heute so leeren, Limonade verschenkenden, ganz unanständig respektablen Wirtshäuser waren erfüllt vom Lärmen phantastischer Abenteurer, die ihre Suppe am Weltbrand zu kochen hofften, die Bai voll Kriegskanus und Kriegsschiffen, die mit ihren Kanonen zuweilen die Kokospalmen beschossen zur Unterstützung eines Schattenkönigs im Busch, und über allem stand das grausig-wilde Gefühl, daß man hier an der Zündschnur saß, die jeden Augenblick das europäische Pulverfaß zum Explodieren bringen konnte.

Damals –

 

Aber Apia ist noch immer der Südseetraum von Riffen und Palmen, dunklen Wäldern, rauschenden Wasserfällen, zerzaust vom Wind, überglänzt von der Sonne.

O süßer Wind!
O selige Sonne!
Ecce Samoa!

Früher hatten dort auf den Inseln die Menschenfresser gehaust; jetzt haben sie den englisch-amerikanischen Fiskus. Die Wahl wird einem schwer zwischen den beiden.

Schön ist hier das Land, glorreich die Sonne, göttlich das Meer, aber die Menschen und Dinge sind nicht mehr, wie sie waren, damals, in den Zeiten, von denen die alten Grauköpfe am Strand von Apia und anderswo noch heute mit einem nassen und einem heiteren Auge erzählen; da konnte man ungestört ein- und ausgehen, und keiner fragte nach dem Woher und Wohin, einerlei, ob einer ein Bankkonto hatte oder nichts als einen faulen Bauch, den er sich von der Sonne bescheinen ließ. Heute führen sie hier Buch über alles Lebendige, genau so wie anderswo.

Es ist alles registriert, klassiert und normiert, und ehe einer auf einer Insel landet, wird er streng ins Gebet genommen, ob er auch die nötigen Barmittel zum Lebensunterhalt habe, ob er getauft, geimpft, getraut oder geschieden sei; ob er krank und mit Ungeziefer behaftet, ein ehemaliger Zuchthäusler, ein Bettler oder gar ein Bolschewist sei. Ein Narr fragt viel, worauf sieben Weise nicht antworten können, aber im allgemeinen darf man wohl sagen, daß heute eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Strandläufer nach den Inseln gehen kann.

Und doch fand sich vor kurzem erst einer, der ihnen allen erfolgreich die Zähne zeigte. Jonny Luke hieß der Mann. Es wäre schade, wenn sein Name je der Vergessenheit anheimfiele, denn er war ein wahrer Märtyrer der Zunft und außerdem ein Mann, der sich zu helfen wußte. Eines Tages kam er nach dem Hafen Pago Pago in Amerikanisch-Samoa, wo man ihn landen ließ auf sein ehrliches Gesicht, ohne ihm die üblichen hundert Dollar Kaution abzunehmen. Schon am nächsten Tage stellte sich heraus, daß der neue Einwanderer ein polizeiwidriges Wesen ohne sichtbare Existenzmittel war. Der Schrecken ging durch alle Amtsstuben. – Was tun mit Jonny Luke? Der Dampfer, der ihn gebracht hatte, war fort. Man mußte sich mit ihm abfinden. Der Gouverneur selbst nahm ihn ins Gebet.

Ob er nicht gewillt wäre, einen leichten, gutbezahlten Regierungsposten anzunehmen?

Ob das etwa mit Arbeit verbunden wäre? fragte Jonny Luke, der gleich den Pferdefuß merkte.

»Mit etwas schon«, meinte der Gouverneur.

»Dann ist das nichts für mich«, antwortete Jonny. »Wenn ich arbeiten wollte, wäre ich in England geblieben.«

Und dabei blieb es. Es half kein Locken, kein Drohen. Jonny Luke blieb seinen Grundsätzen treu. Die Tage vergingen, und täglich mußten die amtlichen Augen auf dem Wege vom und zum Büro das unerwünschte Subjekt betrachten, das da am Strande lag und zwischen Mangos, Bananen und Kawatee ein Leben wie die Lilien auf dem Felde führte. Schließlich war es genug des Ärgernisses. Ein Kabinettsrat beschloß, ihm die Reise nach dem nahen Apia in Westsamoa zu bezahlen und außerdem noch die dort verlangte Kaution von hundert Dollar zu stellen. So machte Jonny eine neue Reise, wohl versehen mit Barmitteln.

Aber bald war es in Apia wie in Pago Pago, und die dortige Regierung bezahlte Jonny die Reise nach Suva auf den Fidschiinseln, wo der Emigrationsoffizier ihm aber die Landung verweigerte, denn sein Ruhm war ihm schon vorausgeeilt, und alle australischen und neuseeländischen Zeitungen hatten bereits eine besondere Rubrik eingerichtet: »Neues von Jonny Luke, dem Seefahrer. Ein Roman der Südsee.« Und es gab Stoff für die Rubrik auf seinen weiteren ruhelosen Wanderungen nach Aukland, Sydney, Brisbane usw. Zuletzt landete er wieder in Apia, wo er zur Zeit in Ruhe und Zufriedenheit von seinen weiten Wanderungen ausruht.

»Lady Roberts« nennt sich das Fahrzeug, das den Verkehr zwischen dem Mandatsgebiet und Amerikanisch-Samoa aufrechterhält. – Ah, wenn die Namen Schiffe machten! Jedenfalls ist sie eine kapriziöse Lady und alles in allem das jämmerlichste Fahrzeug, das jemals dem großen Pazifik Unehre machte. Dreißig Schilling kostet die Überfahrt, und dafür wird man dann während der ganzen langen Nacht allein gelassen auf dem Verdeck, mit den Schweinen und der Seekrankheit, und – oh! – es war die schrecklichste Nacht, die ich je auf einem Schiff zugebracht habe.

Bei dunkler Nacht kamen wir im Hafen von Pago Pago an, und als der Tag zu dämmern begann, enthüllte er ein Bild, wie man es sich schöner nicht wünschen konnte. Um eine fast kreisrunde, vollständig landumschlossene Bai, in der das Wasser so still und klar wie in einem Bergsee war, standen hohe, dichtbewaldete Berge, deren massige Formen sich im Wasser spiegelten. Wären nicht Palmen am Strande gewesen, man hätte wahrlich glauben können, ein Zaubermantel hätte einen weit weggetragen nach den Ufern des Vierwaldstätter Sees.

An der Landungsbrücke empfängt uns die Polizei, der Doktor, die Emigrationsbehörde. Es ist ein geschäftiges Getue um diesen einen Passagier, den Passagier, der heute von Apia kam. Aber schließlich geht auch das vorüber, und man ist nun frei zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt, die aus drei Kaufläden, zwei »Sodafontänen«, mehreren Kirchen und sehr vielen Soldaten besteht. Mit schmetternder Musik zieht eben eine recht flott ausschauende Eingeborenentruppe vor das Administrationsgebäude, wo mit den üblichen Zeremonien das Sternenbanner gehißt wird. – Denn so ist es: in Amerikanisch-Samoa wird heute mehr mit den Flaggen gewedelt als im anderen Landesteile während der ganzen deutschen Herrschaft. Es ist ganz auffällig, wie gerade die Amerikaner, die sich doch vier Jahre lang über den deutschen Militarismus ereiferten, heute selbst von einem wahren Rausch des Militärdünkels befallen sind, einer kritiklosen Anbetung der Uniformen und einer hysterischen Militärfrommheit, die den Fernstehenden mit bassem Staunen erfüllt. Exerzieren und Schießen ist die Parole des Tages. Die Colleges gleichen Manöverlagern. Die kleinsten Dreikäsehochs, weit unter dem preußischen Kadettenalter, werden von ihren Mammis militärisch eingekleidet, der Boyscouts sind es Legionen, und die Schulkinder müssen an jedem Morgen und Abend ihr Männchen vor der Flagge machen, indem sie militärisch grüßend daran vorbeimarschieren. Es sind das in der Tat seltsame Resultate des einst so feurig gepredigten Kreuzzuges gegen den Militarismus, und man ist versucht, auf sie die Worte Uhlands zu beziehen:

»Fürwahr, du bist dem Lehrer zu vergleichen,
Der seinen Schüler ob gestohl'ner Kirschen
Ausschalt und scheltend selber sie gefressen!«

 

Im übrigen ist Onkel Sams andere Insel ein Backofen, und an jenem Tage war sie außerdem noch ein türkisches Dampfbad. Denn es regnete, wie es nur in den Tropen regnen kann, und die tropfende Feuchtigkeit stieg in dicken Schwaden aus dem Blätterdach des Urwalds. Naß wie ein Pudel mußte ich unter dem Wellblechdache auf der Landungsbrücke schlafen, denn es war nirgendwo Raum und überhaupt keine Herberge in Pago Pago, und überdies hatte die vorsorgliche Behörde meine Schlafdecken eingeschlossen. Am nächsten Morgen aber wollten sie einen Dollar Schreibgebühr von mir haben. Das war zuviel. Ich verweigerte die Bezahlung, und die Sache kam vor den Richter, der mich nochmals ausdrücklich dazu verurteilte. Aber der böse German zahlte nicht, und die Angelegenheit ging auf dem Instanzenweg weiter zum Gouverneur.

Was mir wohl einfiele? Ob ich nun bezahlen wolle?

»Nein.«

Da richtete er sich auf in seiner ganzen Würde als Gouverneur der Insel Tutuila:

»Are you going to defy the laws of the Juh – United States?«Wollen Sie sich etwa den Gesetzen der Vereinigten Staaten widersetzen?

»Warum nicht?«

»Dann marsch, zurück auf die ›Lady Roberts‹ und nach Apia!«

»Schön«, sagte ich und ging hinaus und dachte dabei an Jonny Luke und an das viele Geld, das so etwas kosten würde, und daß ich ja dort gar nicht mehr landen konnte. – Ja, auch in Pago Pago wird mit Wasser gekocht. Nach fünf Minuten kam einer auf einem Fahrrad hinter mir her und brachte mir den visierten Paß und kein Wort mehr vom Dollar.

Eine Stunde später kam der Dampfer, von dessen Verdeck aus ich noch einmal hinüberschaute auf das seltsame Land. Eben holten sie mit Musik die Flagge nieder. Die hohen Berge widerhallten von militärischen Kommandos. Ein Kanonenboot salutierte mit einundzwanzig Schüssen die untergehende Sonne, das Nachtessen des Gouverneurs oder was weiß ich. Irgend etwas –

»Auszufüllen die Leere der Tage
Und die lange, unendliche Zeit.«

 

Schaurig widerhallte der Pfiff der Dampfsirenen in der engen Bucht. Hinaus ging es, ins offene Meer, wo der Passatwind wehte und die Insel Tutuila mit der untergehenden Sonne verschwand wie ein Spuk.

Und damit auch das letzte dieser tausend Abenteuer.

 


 


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