Max Eyth
Schlehen
Max Eyth

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V.

Des andern Tags erhielt Artur ein Billett, worin ihn Schwitzgäbele bat, abends in einen bestimmten Wirtschaftsgarten in der Nähe der Stadt zu kommen.

Artur war fast etwas bestürzt durch den eigentümlich, kurzen Ton des Schreibens. Er suchte seinen Freund in dessen Wohnung auf. Dort war dieser aber seit dem frühen Morgen nicht mehr gesehen worden. Es blieb ihm nichts übrig, als zu warten.

Eine Entdeckung, auf die er im Laufe des Morgens gestoßen war, machte ihm diese Begegnung heute zum erstenmal schwer. Sein Vater war verreist. Er war selten in dessen Arbeitszimmer gekommen, das Verhältnis zwischen beiden war bei der Verschiedenartigkeit ihrer Naturen immer ein gespanntes gewesen. Der blinde Zufall führte ihn heute hinein. In dem Zimmer befand sich nur ein alter Diener des Hauses, der Schreiberstelle bei seinem Vater versah. Artur blätterte, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, in einem halbvermoderten Aktenfaszikel, das er aus einem Winkel hervorgezogen hatte. Das erste, was sein Auge fesselte, war der Name Schwitzgäbele. Lachend fragte er den Alten, wie dieser Name hierhergekommen? Der Mann machte ein mißmutiges Gesicht. »Ach, Herr Baron, lassen Sie den alten Plunder! Das ist die dumme Geschichte mit dem alten Schwitzgäbele. Seien Sie so gut und tun Sie's wieder in den Winkel. Der Herr Papa könnte bös werden, wenn er die Papiere herumliegen sieht.«

Natürlich gehorchte Artur nicht. Indessen konnte er aus den verstäubten Papieren nicht klug werden und mußte sie endlich doch unmutig wieder hinter die Folianten verbergen. Aus dem Alten war wenig herauszubringen. Doch Artur reimte sich dies und jenes zusammen: daß der alte Schwitzgäbele im Staatsdienst früher ein Rivale seines Vaters gewesen sein mußte, daß ihn seine freie Gesinnung und seine offene Sprache, noch viel mehr aber boshafte Ränke zugrunde gerichtet hatten. Was Hans von seinen Verhältnissen, von seinem Vater namentlich erzählt hatte, vollendete das düstere Bild, dessen tiefster Schatten auf Arturs Vater zu fallen schien.

Er konnte nicht mitlachen, als ihm seine Schwester beim Mittagsmahl von dem geheimnisvollen Unglück erzählte, das den Abend zuvor ihren Freundinnen widerfahren sei. Das fröhliche Geplauder des Mädchens vermochte nichts gegen ein dumpfes Gefühl, das ihn drückte wie eine alte Schuld, wie kommendes Unheil.

Als er sich zur bestimmten Stunde auf den Weg machte, war es nur eine Empfindung, ein Vorsatz, der ihn beseelte: durch doppelte Freundschaft, durch doppelte Anhänglichkeit dem Freunde das zu ersetzen, was ihm sein eigener Vater genommen haben mochte.

Schon von ferne erkannte er Hans. Abgewandt, den Kopf auf die Hände gestützt, saß derselbe da, ohne die Annäherung Arturs zu bemerken, und starrte in das Laub, das der Herbst bereits zu röten anfing. Jener trat leise, hinter ihn, er wollte ihn überraschen, er hätte gerne, wie sonst wohl, in das heitere Gesicht, in die offenen Augen des Jünglings gesehen und berührte seine Schulter mit dem Finger. Schwitzgäbele schauderte und wandte sich um. Artur erschrak. Was hatte diese Wangen auf einmal so bleich gemacht und diese Augen so trüb?

»Dank' dir, Artur«, sagte er leise, indem er ihm die Hand bot, »ich wollte dich noch einmal sprechen.«

»Bist du krank? Wie bleich du aussiehst! Was hast du denn? So rede doch!«

Schwitzgäbele konnte die Augen nicht aufschlagen. Es war ihm wie dem Verbrecher vor dem Geständnis.

»Versprich mir etwas, Artur!« sagte er endlich stockend und bis über die Stirne rot, indem er Arturs Hand suchte.

»Sei kein Narr, Hans«, sagte dieser, indem er zu ihm rückte und den einen Arm um seinen Hals schlang. »Kennst du mich seit heute erst?«

»Versprichst du mir's?«

»Nun ja! Aber red nur. Komm, sieh mich an. Nein, du bist nicht der Alte.«

»Du hast recht. Aber was du mir versprechen mußt: frag nicht, wo ich gestern herumgefahren bin und frag überhaupt nicht.«

»Kommt wieder eine Schlehenblütengeschichte?« lachte plötzlich Artur laut, dem das Geständnis auf dem Hollohkopf einfiel.

»Nein, aber die Früchte!« versetzte Schwitzgäbele wehmütig und versank wieder in langes Schweigen. Artur wußte sich nicht darein zu finden. Es reute ihn fast, gelacht zu haben. Er hätte es gern wieder gutgemacht. Kräftig faßte er die Hand des Freundes und zog ihn an sich.

»Sei ehrlich, Bruder«, sagte er dazu. »War ich's doch auch immer.« – Das sagte er aber leiser, denn das Geheimnis von seines und Schwitzgäbeles Vater fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz. Ihre Augen trafen sich; Artur schlug jetzt die seinen nieder.

»Ich weiß, daß ich dich in dieser Stunde verliere«, sagte jetzt Schwitzgäbele mit halberstickter Stimme, »aber es muß heraus.«

»Nie, nie, Bruder, und wenn die halbe Welt unterginge!«

»Du kennst dich nicht. Doch warum lang um die Sache herumreden? 's ist einfach. Und doch – o Artur!«

»Schwitzgäbele, liebes, teures Schwitzgäbele! Sag's nicht. Ich will's nicht hören, eh' du glaubst, daß ich dein bleibe. Ich will's nicht.«

»Und du mußt und ich auch. Artur, es tut mir weh.« – –

»Kannst du meinem Vater nie verzeihen?« fuhr Steinau jetzt heraus; »kannst du mir –«

»Was?«

»Gott – nichts! Ich dachte nur – nichts.«

»Nun, so muß es sein«, preßte Schwitzgäbele über die Lippen, indem er sich gewaltsam den Armen Steinaus entrang, der ihn stürmisch umschlungen hatte. »Artur! Gott 'im Himmel! Artur! Ich kann nichts dafür – ich liebe deine Schwester.« –

Totenblaß fuhr Artur zurück und bedeckte seine Augen mit beiden Händen. Schwitzgäbele wandte sich um und drückte das Gesicht in das goldene Rebenlaub, das die Hütte umrankte. Heiß fielen Tropfen auf Tropfen aus seinen brennenden Augen auf die zitternden Blätter. Eine lange, lange Minute war's grabesstill um sie her. Nichts regte sich. Nur die lichten, heiteren Abendwölkchen flogen eilig über die keimende Natur. – Eine Minute reichte hin. Der strenge Engel des Erdenlebens war in dieser Minute durch die Hütte gegangen, leis, unhörbar, – aber beide fühlten's, daß er ihre schönste Blume geknickt hatte.

Schwitzgäbele wandte sich zuerst und fuhr mit der Hand über die Augen. »Artur!« flüsterte er kaum hörbar. Er regte sich nicht.

»Artur!« sagte er lauter. Jetzt sanken die Hände von den starren, trockenen Augen. Sie sahen sich an. Schwitzgäbele konnte sich kaum mehr halten; fest wollte er sein, aber seine Stimme zitterte, als er sagte:

»Noch einmal gib mir deine Hand, dann –«

»Nein, nein! ich laß dich nicht«, fuhr Artur wild auf. »Nie, nie!«

»Deine Hand, Artur!«

»Nie! Aber es ist unmöglich – 's ist unmöglich, ich kann's nicht tun, was – du verlangst –«

»Deine Hand! Ich verlange ja nichts. Ich will nur Abschied nehmen, Artur!«

»O Bruder! Mußt du denn gerade das – – nein, 's ist nicht möglich – aber dich verlassen – –«

»Deine Hand!«

Artur reichte sie ihm mit abgewandtem Gesicht. Der Jüngling sah ihn noch einmal an, voll, frei, stolz, dann ging er.

Eine Stunde später ging auch Artur, bleich, fieberfröstelnd, krank. So mag wohl ein Soldat aussehen, der vom Kampfplatz schleicht, eine Wunde in der Brust und den siegessichern Feind in der Ferne.


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