Max Eyth
Schlehen
Max Eyth

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II

Ein Vierteljahr war über jene Schwarzwaldreise hingegangen. Noch immer stand sie den beiden Freunden im treuen Gedächtnis, wenn auch jeder nur in seiner Weise an die scheinbar unbedeutenden Begebenheiten derselben zurückdachte.

Artur sprach häufiger davon. Für ihn hatte das ungebundene Durchstreifen von Wald und Flur noch den größeren Reiz, da es ihn Verhältnissen entrückte, deren Joch er zu Hause nur ungern ertrug. Sohn eines der höchsten Staatsbeamten, welcher seine Stellung nicht den lautersten Mitteln verdankte, fühlte er sich bald im Kreise munterer, freidenkender Jünglinge, selbst wenn sie seine von Jugend auf eingesogenen Vorurteile nicht gerade schonend berührten, heimischer als im väterlichen Hause, und der Geist des erwachten jugendlichen Widerspruchs trieb ihn weiter, als er sonst wohl gegangen wäre. Mit feuriger Innigkeit hatte er sich an Schwitzgäbele angeschlossen, einen Jüngling, der durch seine Kenntnisse sowohl, als durch seinen offenen und herzlichen Charakter ihn schon im ersten Jahre auf der Universität angezogen hatte. Beide sahen jetzt dem Ende ihrer Studienjahre entgegen und namentlich Artur suchte die vielleicht nur kurze Zeit ihres Beisammenseins möglichst zu nützen.

Sie saßen in einem abgelegenen, öffentlichen Garten. Ein Mädchen, das in einiger Entfernung Bestecke reinigte, war außer ihnen das einzige lebende Wesen, das durch das üppige Grün der Laube zu erblicken war, die eine herrliche Aussicht auf den Fluß hinaus darbot. Es war Schwitzgäbeles Geburtstag, den beide hier feierten.

Artur hatte, als er seinen Freund zu diesem einsamen Plätzchen führte, noch eine andere Absicht. Ihm schien derselbe seit zwei, drei Monaten nicht mehr ganz wie früher, ohne daß er sich den Grund der Veränderung recht deutlich machen konnte. Heute wollte er damit ins klare kommen; denn er glaubt zu fühlen, daß sich etwas zwischen ihn und seinen Freund eindrängen wollte.

Sie hatten lange heiter zusammen geplaudert, als Hans auffuhr:

»Du machst mir nicht weiß, daß ich glücklich sei! Glücklich? Daß ich eine lustige Haut bin, das ist mein einziges Glück. Nein, Artur (fuhr er ruhig und freundlich fort), dazu habe ich mich zu lange beobachtet. Wie ich noch ein Bube war und mir das erste Brot selbst schneiden wollte, kam ich zuerst auf die liebliche Entdeckung. In einem Körbchen lagen Messer und Gabeln beisammen. Sah ich nicht genau hinein, so durfte ich darauf schwören, drei Gabeln, wenn's gnädig ging, der Reihe nach herauszuziehen, bis mir ein Messer in die Hand fiel; wollt' ich eine Gabel, so konnt' ich auf Messer in Menge rechnen. Das ist mein Glück.«

Artur kam die Sache komisch vor. Er rief das Mädchen herbei, das ihr Besteckkörbchen auf den Tisch stellen mußte, um sogleich einen Versuch anzustellen. »Es gilt drei Flaschen Champagner gegen eine!« rief v. Steinau (Arturs Familienname), »du greifst mit zugehaltenen Augen; wenn du ein Messer willst, beim dritten Griff zum mindesten hast du eins!«

Schwitzgäbele ließ sich die Augen zuhalten und griff zu.

»Numero 1. – Eine Gabel!« rief Artur, ohne ihn loszulassen. – »Greif zu! Numero 2. – Wieder eine Gabel! Mehr rechts! – Noch eine Gabel!«

»Du bist nun doch ein Glückskind, Schwitzgäbele; du hast's gewonnen. Natürlich suchtest du drei Gabeln zu erwischen!«

»Keine Sophismen!« rief der andere, und mit eigentümlicher Wehmut betrachtete er die drei Gabeln, die seine Behauptung gerechtfertigt hatten. »Wenn ich immer auf mein Unglück wetten könnte wie heute, wäre mir's nicht bange. Wunder nimmt mich's nicht! Es liegt im Blut. Mein Urgroßvater war ein ehrlicher Pächter und weil er das war, haben ihn ein paar Hungerjahre und ein strenger Gutsherr zugrunde gerichtet. Er ließ meinen Großvater, um ihn diesem Los zu entziehen, studieren. Was half's? Die Anstrengung seiner letzten Kräfte verschaffte diesem eine Stelle. Aber er war zu gut, zu mildtätig, um Arzt zu sein und dabei leben zu können. Er wurde Armendoktor für einen unglaublich großen Distrikt und hat sich selbst an den Bettelstab gedoktert. Mein Vater wurde auf diese Weise schon als Knabe mit armen Leuten bekannter als mancher, der sie regieren hilft. Um dem Los seiner Eltern zu entgehen – er zeigte, wie man mir sagte, schon frühe ein sehr weiches Herz, dessen Gefahren mein Großvater gar wohl kannte –, mußte er Jus studieren. Du weißt, wie es ihm erging. Mir selbst ist seine Geschichte heute noch nicht recht klar. Er soll etwas zu laut gesprochen, die Rechte der Armen verteidigt und die des Adels angegriffen haben, da und dort verwickelt gewesen sein. Ich war kaum geboren, als er all das mit Verlust seiner Stellung und mit einer dreijährigen Untersuchungshaft büßen mußte, woraus er nur entlassen wurde, um in den Armen meiner vor Kummer kranken Mutter zu sterben. Namentlich die Intrigen eines Beamten, den ich nicht kenne, nach dem ich auch nicht fragen mag – was würde es helfen? ich weiß ja kaum, ob das Gerücht nicht gelogen hat! –, haben mich in meinem vierten Jahre vater- und mutterlos gemacht. Das geht übers Scherzen, Artur!«

Steinau war sehr ernst geworden. Erst bei den letzten Worten sah er seinen Freund wieder an, so warm, als wollte er mit seiner ganzen Liebe das ersetzen, was diesem so früh ein bitteres Geschick geraubt hatte. Schwitzgäbele zeigte selten und sichtlich ungern einen Schmerz, der sich ihm doch fast täglich bei dem Zusammenleben mit seinem glücklichen Freunde aufdringen mußte. Vielleicht vermied darum Artur jedes Gespräch, das sich auf seine eigenen Familienverhältnisse bezog. Beide sahen eine Zeitlang den Fluß hinab, der sich klar und freundlich durch die sonnigen Rebengelände hinzog, jeder, ohne die Gedanken des andern unterbrechen zu wollen.

»Trotz allem«, begann Hans wieder, plötzlich laut lachend, »trotz allem hab' ich mehr Glück, als man mir ansieht. Gestern bekam ich, wie vom Himmel gesendet, wieder 50 fl., die dritte Sendung der Art. Mir ist es ein unlösliches Rätsel woher? Das Postzeichen ist immer das der Residenz; aber wer sich dort für mich interessiert, an wen ich meinen Dank richten soll, davon habe ich keine Ahnung. Ich habe eigentlich niemand mehr, der sich für mich interessieren könnte, als einen alten, wurmstichigen Onkel; doch ist derselbe gegenwärtig im Wildbad, wie jeden Sommer, und kennt mich kaum!« Er sah dabei Artur fest an; denn schon mehr als einmal war ihm der Gedanke gekommen, ob nicht am Ende dieser den Umweg ergriffen habe, um seine nicht rosige Lage zu erleichtern, – eine Lage, die nur ein jugendlicher Humor, wie der seinige, zu ertragen vermochte.

Dieser Verdacht hatte wohl auch Augenblicke lang seinem Betragen gegen den Freund etwas von der freimütigen Offenheit genommen, die sonst seine Art war. Doch war Artur unschuldig. Das Geld kam von einem früheren Professor der Universität, der jetzt am Justizkollegium angestellt war und im stillen für den Sohn seines Jugendfreundes sorgte. Öffentlich den Sprößling des alten Demagogen unter seine Fittiche zu nehmen, wagte der gute Mann nicht.

»Auf meinen unbekannten Gönner!« rief der Jüngling, um gewaltsam der Unterhaltung eine heitere Richtung zu geben. Die Gläser klangen hell, der perlende Wein öffnete Herzen und Lippen. Artur hatte schon zweimal nach dem verlornen Champagner gerufen.

»Du magst sagen, was du willst«, fing Artur wieder an; »alles daß drückte dich schon lange Jahre, wie heute, und doch bist du ein anderer! Warum das leidenschaftliche Arbeiten? Das Examen? – Du hast es wahrhaftig am wenigsten von allen nötig, zu ochsen. Warum das verschlossene Wesen, das dir sonst so fremd war? Sei offen!«

Hans schwieg und sah hinaus auf den Fluß, über den der Mond schon eine silberne Brücke geschlagen hatte.

»Sei offen!« bat Artur dringender. »Ich weiß, ich bin der einzige, mit dem du so stehst, daß er's verlangen kann, und ich würde um keinen Preis diesen Platz einem andern einräumen. – Hab' ich vor dir je ein Geheimnis so lange geheim gehalten? Du kennst mich durch und durch. Du bist undankbar; du liebst mich nicht!« Schwitzgäbele ergriff seine Hand: »Ich weiß nicht – 's ist lächerlich –«, sagte er und stockte dann.

»Lächerlich!« fuhr Artur auf. »Für mich ist nichts lächerlich, was dich drückt. Du hast mich noch nie verstanden. Wie warm, wie treu ich an dir gehangen habe, wie ich deine Freundschaft jahrelang gesucht habe! Heut' willst du mich's fühlen lassen, daß wir nicht gleich sind, wie es Brüder sein sollen, so Geistesbrüder sind, wie du sonst wohl gesagt hast!«

Keine Antwort.

»Ja, ja; man hat recht: Du bist stolz, stolz auf deine geistige Überlegenheit, stolz auf dein Unglück, stolz auf die Kraft, mit der du alle fremde Hilfe abweisest. Bin ich dir denn gar nichts?«

»Sei ruhig, Artur!« versetzte der andere endlich leis, »'s ist lächerlich, aber ein unbeschreibliches Gefühl will mir's fast nicht über die Lippen kommen lassen. Ich bin ein Kind, – ich hab' mir's tausendmal gesagt, – ich bin ein Narr, – was hilft's? – ein einziger Blick hat mich dazu gemacht!«

»Und das wolltest du mir nicht sagen?«

»Du verstehst mich nicht. 's ist keine Liebe.«

»Keine Liebe? Was denn ums Himmels willen!«

»Wahnsinn!«

»Du bist ein Narr!«

»Das sag' ich ja ... Seit drei Monaten quält mich dieser Blick, und ich weiß nicht einmal, woher er gekommen, und hielt mich für so ruhig und vernünftig, – und ein einziger Blick!«

Das Kellnermädchen brachte die Champagnerflaschen, setzte sie mit einem Licht und den Kelchen auf den Tisch und ging. Schwitzgäbele löschte das Licht aus. »Du erinnerst dich noch an den Hollohkopf. Ich kam damals vom Wildbad. – Dort war's!«

Eine der Champagnerflaschen knallte. – Artur rückte die Kelche in den Mondschein und schenkte ein.

»Auf ihre Augen!« sagte er und ergriff einen der Kelche. Hans nahm den andern.


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