Max Eyth
Schlehen
Max Eyth

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I

Die Frühlingssonne warf ihre letzten Strahlen flimmernd über die erglühenden Kuppen des nördlichen Schwarzwaldes. Die wenigen rosigen Wölkchen schienen heute leichter das tiefe Blau des Himmels zu durchfliegen, schienen höher in die ätherischen Räume gestiegen zu sein, um das stille keimende und sprossende Rund besser zu überschauen, und ruhten jetzt träumend in der klaren Höhe. Manchmal strich ein einsamer Vogel zwischen ihnen und den Tannenwipfeln hindurch und suchte mit lautem Geschrei sein Nest; manchmal wirbelte noch eine der unermüdlichen Lerchen bis herauf zu den frischen Höhen; dann lag wieder stille, heilige Ruhe über Wald und Flur.

Auch unten war's still, wenn nicht der Abendwind in den Föhren atmete, ein Specht im Waldesdunkel pickte oder aus der nächsten Schlucht ein Birkhahn kreischte. Aus den Tälern drang nur das muntere stetige Rauschen des Wildbachs. Duftige Nebel zogen heimlich aus der Tiefe und umschleierten in der Ferne die blauen, in der Nähe die grünen Berghalden, die sich mannigfaltig ineinander verschoben und wunderliche Schatten durcheinanderwarfen.

Mitten in diesem irdischen Paradiese, wie es sich von dem Gipfel des Hollohkopfes, einem der höchsten Teile des Gebirgs, darbot, einsam in dem herrlichsten Rund, das der Frühling angehaucht hatte, lag der Held dieser Geschichte, Johann Jakob Schwitzgäbele. Ein lächerlicher Name! Freilich. Aber wer kann etwas für seinen Namen? Und doch liegt oft schon im Namen eine dunkle Bedeutung, – eine Ironie, ein Wink des Schicksals. Deshalb vermutlich hieß er Johann Jakob Schwitzgäbele.

Im übrigen war er ein Jüngling deutschen Gepräges, wie man ihnen in jener Gegend nicht allzu selten begegnet; blondlockig, blauäugig, fröhlich, sorglos, hie und da etwas wehmütig, wofür er sogar Ursachen hätte angeben können, einundzwanzig Jahre alt. Wenn sonst noch etwas in den tiefen, blauen Augen lag, so war es ein großes Fragezeichen, von dem er selbst keine Ahnung hatte. Nichts Außerordentliches. Es ist die Art dieser Augen, und ihrer einundzwanzig Jahre.

Weiter unten am Berg führte ein gangbarer Weg den Abhang hinab; nebenan stand ein roh gezimmertes Bänkchen für den müden Wanderer. Wann aber wäre Johann Jakob je auf dem ordentlichen Weg geblieben, wenn ein anderer für kletternde Gemsen oder für meckernde Ziegen zu erspähen war? Wann hätte er sich je auf ein Bänkchen niedergelassen, das ein milder Weginspektor oder ein zartfühlender Forstbeamter in Wald und Flur zur allgemeinen Nutznießung errichtet hatte, wenn ihm der Kot erlaubte, daneben auf dem Boden zu liegen? Der Kot erlaubte es diesmal, denn auf dem Hollohkopf gibt es nur Sand.

Schwelgend war er in das üppige Moos gesunken. Sein trunkener Blick suchte durch das Gegitter einer alten Föhre das wohltuende, verwandte Blau des Himmels, als wollten beide ineinander versinken. Manchmal schielte er auch, ohne den Kopf zu rühren, links hinab in die tief dunkle Schlucht, die sich gegen das Murgtal öffnete, und ein freudiger Glanz verriet sein Interesse an der Schönheit der Landschaft. Unmittelbar an seinem Ohr flüsterte das Riedgras unaufhörlich in geheimer Geschwätzigkeit; freundlich hielt er den Atem an, wenn eine Ameise mit sichtbarem Erstaunen über seine Nase lief, um das Tierchen nicht zu erschrecken. Ihm wurde allmählich fast, als sei er nur ein Teil der großen, stillen, unbewußten Natur, die ihn umgab; es ward ihm so eigentümlich wohl zumute, wenn er sich in die Empfindungen eines alten Baumstumpfs hineinträumte, der in kontemplativer Ruhe hier oben wurzelte, eines Wacholderbusches, der fröhlich in die tiefen Täler hinabblinzelte, daß er sich kaum mehr zu rühren vermochte!

Nur wenn sein Blick sich noch senkrechter stellte und die blühenden Schlehenstauden traf, die sich über seine Stirne hereinbeugten, fiel er sichtlich aus seiner Wacholderrolle. Ein lebhaftes Rot überflog seine Wange; sein Auge wurde plötzlich heller und menschlicher; eine freundliche Erinnerung schien über die offenen Züge zu wandeln.

Mittlerweile vernahm man unten raschelnde Zweige, Tritte, Stimmen. Es kam herauf. Bei dem ersten bestimmten Laut schnellte Hans in die Höhe. Hans hieß er nämlich unter Studenten und seinesgleichen. Er lauschte; das Erstaunen ließ ihn den Mund nicht schließen! Aus dem Gebüsche unten traten zwei Gestalten hervor: ein Bauer mit einem Beil und ein elegant, wenn auch etwas phantastisch gekleideter junger Mann, der eben den Strohhut abnahm, um mit der Hand durch die schwarzen Haare zu fahren.

Mit einem jubelnden: »Artur!« rief Schwitzgäbele drei, vier Echo zumal wach und fuhr wie ein Pfeil, ohne sich zu erheben, den von Nadeln und Moos glatten Abhang hinab. Der andere stutzte einen Augenblick, im nächsten aber lagen sich beide in den Armen. Der Bauer hatte sich mit sichtbarem Entsetzen, ein Unglück befürchtend, auf die Seite gemacht.

Übergehen wir die erste Begrüßung! Wer je von Jugendfreundschaft geträumt hat, der kennt jene wilde, frohe, stürmische Lust einer solchen Begegnung, kennt den kräftigen Druck einer solchen Umarmung; – ein anderer lacht.

Sie zogen einander den Abhang wieder hinauf und setzten sich (Hans gab diesmal in seiner Freude ohne Bitten den Forderungen der Kultur nach) zusammen auf das Bänkchen. Brummend folgte der Bauer, setzte sich gleichfalls auf einen Baumstumpf und stopfte seine Pfeife. Eine Zeitlang saßen sie schweigend beisammen und sahen gegen Westen. Glühend schwebte die Sonne über den duftigen Horizont. Artur zog ein Fernglas aus der Tasche und gab es seinem Freunde. Langsam ließ es dieser über die herrliche Gegend streifen.

»Ich halte es nicht aus!« meinte er endlich und legte das Glas weg. »Schon seit zwei Stunden liege ich hier, um mich zu sammeln; 's ist mir, als zöge mir die ganze Herrlichkeit das Herz auseinander, als zerrisse sie mild und langsam mein ganzes Innere. Ich weiß mir mitten in dieser stolzen, stillen Pracht nicht zu helfen; weiß nicht, was ich mit meinem kleinen Ich anfangen soll, auf das sie unbarmherzig hereinstürmt!«

Artur ergriff den Tubus und richtete ihn gegen Baden.

»Du verstehst mich nicht. Ich glaub's wohl. Ein so närrisches Gefühl ist nicht für Worte gemacht. – Ich habe noch kein anderes Mittel dagegen gefunden, als eine Minute in ein Menschenauge zu blicken. Da sieht's weniger unendlich aus. Man findet sich wieder, Artur! –«

Der Angeredete lächelte ein wenig unter dem Tubus hervor, ohne sich weiter stören zu lassen. »Du schwärmst im alten Ton!« sagte er endlich, Hans fröhlich ansehend. »Ich mag eigentlich nicht fragen, woher du kommst? An einem solchen Abend sieht's aus, als ob lauter gute Genien in der Luft tanzten. Einer wird dich wohl hergeführt haben, um mich zu trösten. Ich komme von Baden!«

»Trösten? Mach die Augen auf!«

»Und sieh mich an!« ergänzte Artur, indem er plötzlich auffahrend Schwitzgäbele mit beiden Händen in die Haare fuhr und ihn an sich zog. »Freilich, du hast noch nie acht Tage ausgestanden wie ich wieder! Mitten unter den alten, strotzenden Tanten und Onkels, den gelockten Puppen von Bäschen, den hohlen Vettern, wegen jener Rücksicht an diesen Herren von N. N., wegen dieser Empfehlung an jenen Grafen von L. L. gespannt sein und dabei ein Herz für Gott und die Welt und dich verstecken müssen und für alles, was halbwegs natürlich und gesund ist, gar nicht haben dürfen! Ich hab's nicht mehr ausgehalten. Gestern bin ich in aller Stille davon.«

Während der letzten Worte hatte er den Hut abgenommen, auf dem eine halbverwelkte Rose steckte, und sah schweigend in die Ferne.

»Ein Herz für die Rose«, sagte Hans teilnehmend, »sieht dir aus den Augen. Hab' ich recht?«

»Schwitzgäbele! Schwitzgäbele! Kann ich dafür, daß du mir alles aus den Augen absiehst?« rief Artur stürmisch und warf sich dem Freund an die Brust.

»Und doch gefällt mir's nicht«, meinte der andere. »Letzten Sommer liefst du mit einer Lilie herum, vorletzten Herbst stack ein Veilchen an dem Platz, wo jetzt die Rose verwelkt; wie viele Gärten willst du noch plündern?«

»Kann ich dafür, daß die Blumen so schön sind?« klagte Artur, einige Reue zur Schau tragend. »Du verstehst mich freilich nicht. Einem Tugendhelden aus Marmor sind sie freilich alle gleichgültig!«

»Nicht alle!« sagte Schwitzgäbele leis und sah vor sich hin, als sei er vor seinen eigenen Worten erschrocken.

»Nicht alle?« rief Artur jubelnd. »Nicht alle? Hat man dich endlich? Und welche Blume konnte das Herz eines nordischen Römers rühren?«

»Schlehenblüten!« versetzte nach einer Pause der Jüngling lachend und trotz des Scherzes lag in dem Tone etwas, das Artur einen Augenblick stutzig machte. Er sah ihn an und sagte dann: »Herb genug wäre die Frucht!«

»Und die Blüten hätten Dornen. Drum bin ich's!« meinte Schwitzgäbele lakonisch.

»Immer noch die alte Leier!« lachte jetzt Artur wieder; »nur ein neues Stückchen drauf! – Gib acht! derartige Melodien fangen gewöhnlich in Moll an und gehen in Dur aus.«

Johann Jakob versetzte nichts darauf.

Die Sonne war versunken und dem Bauern, der regungslos in die Abendglut starrte, war seine Pfeife ausgegangen. Er unterbrach deshalb die feierliche Stille der Natur durch einen gutgemeinten Fluch und bemerkte: »Im badischen Jägerhaus sei das neue Bier gar nicht schlecht«.

»Wir gehen zusammen«, sagte Artur aufstehend mit schmeichelnder Bestimmtheit. »Ich muß doch jemand haben, dem ich meine Rosenmärchen erzähle!«

»Mir ist es recht«, erwiderte Hans. »Ich laufe schon acht Tage in Kreuz und Quer im Schwarzwald herum. Nur eins«, fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, indem er sich über den Schlehenbusch beugte, neben dem sie gesessen waren, und ein Zweigchen abknicken wollte: »nur eins: nach Wildbad bringst du mich nicht mehr!«

»Sei ruhig!« sagte Artur verwundert. »Wildbad vermeide ich so gut wie du. Ich käme dort vom Regen in die Traufe. – Aber warum?«

»Und zweitens«, fuhr Schwitzgäbele mit einiger Heftigkeit auf, – »nach dem Warum darfst du nicht noch einmal fragen!«

Drauf steckte er die Schlehenblüte auf den Hut, wickelte einen Grashalm schweigend um den von den Dornen geritzten Finger, warf sich die Reisetasche um und beide gingen leichten Schrittes waldeinwärts, dem Bauern nach.


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