Max Eyth
Schlehen
Max Eyth

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III.

»Den Trunk verdank' ich meinem Unstern!« sagte er, als die Gläser glockenhell zusammenklangen. Dann war's still.

Das Examen sollte drei Tage dauern. Bereits waren zwei davon überstanden, als am Abend jenes Tages Schwitzgabele jubelnd dem jungen Steinau entgegenstürzte, der ihm in dem königlichen Park zufällig begegnete.

»Ich habe sie wieder!« Das war alles, was aus ihm herauszubringen war. »Ich habe sie wieder!« war schon seit einer Stunde der Kehrreim jedes seiner Gedanken gewesen, die alle Gedichte waren. Wie hätte er jetzt auf die Berichte Arturs hören können, der von diesem und jenem Professor kam und die wichtigsten Nachrichten in bezug auf die zwei verflossenen Tage zu bringen glaubte.

»Morgen ist der letzte und wichtigste Tag«, sagte Steinau, der aus den wirren Bemerkungen und Ausrufen seines Freundes nicht klug werden konnte; »namentlich soll der Mittag entscheidend sein. – Professor Kramer war von den Arbeiten eines gewissen Schwitzgäbele ganz entzückt und hoffte zum mindesten, daß der hoffnungsvolle Examinand morgen abend sein I a. errungen haben werde; – Schwitzgäbele!«

»Artur!«

»Sei doch einigermaßen vernünftig, ich bitte dich! Wenn du morgen dein Delirium nicht überstanden hast, so ist mir's bang um dich!«

»Und ich habe sie wieder!«

»Du gehörtest doch sonst nicht zu jener Spielart von Menschen, die jeden Augenblick Gefahr laufen, kopf- und herzlos herumzutaumeln. Johann Jakob Schwitzgäbele, fasse dich! Halb Europa sieht morgen auf deinen Kopf!«

»So soll es sehen! Mir ist heute abend die ganze Welt Wurst oder ein Paradies«, sagte der Glückliche; »ein Paradies von Würsten, wenn du dies besser verstehst.«

»Adam, Adam, wo bist du?« rief Artur mit erhöhtem Pathos; aber es half nichts. Schwitzgäbele lächelte jedem Pudel, dem sie begegneten, überglücklich ins Gesicht, grüßte jede Kindsmagd mit ausgesuchter Höflichkeit, fütterte eine halbe Stunde lang die Schwäne im Teich des Parks mit Biskuit, das er in der Nähe erhandelte, und sah Artur nach seiner schärfsten Standrede so unendlich freundlich an, als hätte dieser für das Glück der Indianer in Paraguay geschwärmt, was ihn immer rührte.

Da war nichts zu machen. Artur ergab sich endlich in das Unvermeidliche, zog seinen Freund in die nächste Laube und bat, ihm doch wenigstens die Ursache seines Zustandes deutlicher auseinanderzusetzen. Dies gelang. Mit einer Offenheit, die Artur bei der sonstigen Zurückhaltung Schwitzgäbeles mit höchster Verwunderung erfüllte, fing dieser an von Wildbad zu berichten. Mit einer Genauigkeit, bei der man nicht wußte, sollte man mehr das Gedächtnis oder die Kindlichkeit des Erzählers bewundern, schilderte er jedes Steinchen, über das er dort gestrauchelt, jeden Brombeerstrauch, an dem er vorübergekommen und hängengeblieben war. Endlich schien man sich der Katastrophe zu nähern, denn der Bericht wurde feuriger und verwirrter; Schwitzgäbeles Wange rötete sich höher, seine Hand ergriff die seines Freundes; sein freudestrahlender Blick ruhte im Auge Arturs.

»Ich will sie dir nicht beschreiben; dieses offene Gesichtchen, dieses lebendige, funkelnde, unschuldige Auge, diese zierliche natürliche Anmut in jeder Bewegung des Kinds, – davon kann man nicht sprechen. Sie war einfach gekleidet; ein Sonnenschirmchen lag neben ihr; sie las. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Sie sah auf. Artur! sie sah mich an. Jetzt weiß ich nicht mehr klar, wie's weiter ging. Nur das bittere, drückende Gefühl einer unverzeihlichen Unbeholfenheit ist mir in der Erinnerung geblieben. Sie mußte mich im ersten Augenblick für einen Handwerksburschen gehalten haben; denn sie errötete, und fuhr mit der Hand in die Tasche. Ich erriet's und fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, aber von der Stelle konnte ich nicht.

»Sie sind wohl Badgast?»sagte sie dann, und schlug die Augen nieder. Eine Stimme – nein, ich wollte dir ja nichts beschreiben, aber hätte sie die Augen nicht auf den Boden gerichtet, ich wäre vollends eine Bildsäule geworden. Das Badeleben gewährt mehr Freiheit, als sonst erlaubt ist. Ich erinnerte mich bestimmt, daß ich das gelesen hatte. Ich antwortete. Sie sah mich wieder an, so freundlich, so lieb und mein stockendes Blut jagte jetzt lustig durch alle Adern. Sie zürnte nicht. Sie war nicht mehr in Verlegenheit. Ich auch nicht. Mir war wie in einem süßen, glücklichen Traum. Die tiefe Waldeinsamkeit, die Stille um uns, die nur ihre Stimme und das murmelnde Wasser unterbrach, das leise Flüstern der Bäume, ich träumte wirklich und manchmal durchfuhr mich ein banges Gefühl, als müßt' ich im nächsten Augenblick erwachen und alles wäre verschwunden.

Sie saß auf dem moosigen Rain, hinter ihr ein alter Granitblock mit wirrem Gesträuch, vor ihr ein kleiner Graben längs des Wegs. Ich deutete mir einen der freundlichen Winke ihres Auges auf meine Weise und saß einen Moment später im Graben zu ihren Füßen. Sie lächelte. – Das war der erste Frühlingssonnenblick im Jahr 1845; ich feierte ihm in meinem Graben drei Minuten lang ein stilles, heiliges Fest.

Wie lange ich dort gesessen, wie lange wir vom Himmel, Blumen, Waldbächlein, Schmetterlingen und glücklichen Menschen in der glücklichen Natur gesprochen, weiß ich nicht. Ich fühlte plötzlich, daß sie endlich genug haben könnte, stand auf und griff zu meinem Stock. Es tat mir etwas weh, ich wußte kaum: was? Nachher ward mir klar, daß ich in diesem Augenblick aus dem ersten Stockwerk meines Himmels in das zweite herabgemußt.

»Ich wollte, Sie könnten mir ein Erinnerungszeichen an diese Stunde geben!« sagte sie etwas zögernd.

Es war ein ferner, wonniger Klang aus dem ersten, aber der letzte. Ich hätte ihr gerne das Liebste geboten, was ich besaß, die Tabakspfeife, die du mir geschenkt hattest, aber das ging nicht. Ich kletterte daher an dem Granitblock hinauf, riß einen halben Schlehenbusch herab, der über und über mit Blüten beschneit war, gab ihr ein Zweiglein und war auf dem Weg den Berg hinauf.

Wie ich Abschied genommen, ob sie mir die Hand gegeben, ob ich noch einen dummen Streich gemacht, das weiß ich nicht.

Als ich den Berg zur Hälfte oben war und die warme Frühlingsluft mir freundlich übers Gesicht strich, kam ich wieder zu mir. Zwischen dem Tannengeäste hinab konnte ich den Platz sehen, wo sie gesessen. Sie war fort. Ohne zu wissen, was ich eigentlich wollte, war ich den Berg wieder hinunter, an dem Granit vorbei und in Wildbad.

Der Tag verging mir wie kein anderer bis heute. Ich suchte sie nicht; ich erwartete nichts, ich wußte kaum, wozu ich im Wildbad blieb, aber ich war glücklich in jedem Winkel, in den ich mich verlief; ich freute mich an jedem Busch und Baum und fragte nicht lange, warum? Ich weiß nicht, ob ich ahnte, daß noch nicht alles vorüber sei. Wahrscheinlich.

Abends war ein kleiner vornehmer Ball: der russische Gesandte, ein paar adelige Familien, die sich in Wildbad aufhielten – was weiß ich! Die Musik zog mich in das Konversationshaus. Ich versichere dir, ich suchte nichts dort. Ich vermutete mein Waldmädchen nicht in jenen Kreisen; sie war mir so einfach, so bürgerlich vorgekommen. Ein reiner Zufall führte mich hinter einem Aufwärter in den Tanzsaal. Ich stellte mich in eine Fensternische und schaute zu.

Da fuhr mir's plötzlich durch Mark und Bein; ich schrak zusammen wie ein auf bösen Wegen ertappter Bube. Eine Gestalt in weißen, wallenden Kleidern war an mir vorübergewirbelt am Arm eines jungen Offiziers. Sie war's. Siedend heiß lief mir's jetzt durch alle Glieder. Ich verfolgte sie mit den Augen. Es war mir nicht schwer. Ich sah nur noch sie und ihr tief schwarzes, einfach gescheiteltes Haar, in welchem – nein, ich täuschte mich nicht, ein einfaches Kränzchen von Schlehenblüten stak, dieselben, die ich ihr gebrochen hatte.

Kaum hatte ich die Entdeckung gemacht, die mir die ganze Seele aus den Fugen hob, als eine Dame in Samt und Seide einherrauschte, mein Waldfräulein bei der Hand nahm und mit ihr gerade durch den Saal auf mich zukam. Doch schienen beide mich nicht zu bemerken. Die Dame führte das Mädchen, das mit gesenktem Kopf neben ihr herging, in die Nische neben der meinen. Ich hörte sie eifrig sprechen, ohne etwas zu verstehen. Ein paar leise Worte, welche die Kleine, wie bittend, flüsterte, eine lange, scharfe Rede der alten Frau war alles, was ich unterschied.

Die letztere erschien zuerst wieder und schwebte langsam den Saal hinauf. Dann erschien das Mädchen. Sie kam an meiner Nische vorüber, sie schien einen Augenblick den offenen Saal meiden zu wollen. Das Schlehenkränzchen war verschwunden; zwei prachtvolle Rosen staken unter Brillanten in ihrem schwarzen Haar. Die Wangen waren bleich, in den Händen zerknitterte sie eine der weißen Blüten, in den schwarzen Augen glänzte eine Träne. ›Auch in diesem Himmel eine Träne!‹ dachte ich; da erkannte sie mich. Alles Blut stürzte ihr in die Wangen. Sie fuhr rasch mit dem gestickten Taschentuch über die Wimpern, drehte sich um und verschwand im Nebenzimmer.

Ich war allein, war aus dem Saal. Die Träne brannte mir auf dem Gewissen. Was hätt' ich nicht gegeben, sie trocknen zu dürfen! Mein Himmel war in dieser Träne untergegangen. – Den Abend darauf fand ich dich auf dem Holloh. Es war gut. Auch ohne dein Wissen hast du mich getröstet, erheitert, zerstreut. Ich konnte es brauchen.«

»Bildest du dir denn ein, sie habe wegen deiner geweint?« fragte endlich Artur lächelnd, der geduldig zugehört hatte.

»Warum nicht? Die Schlehen, die Tante – sie sah aus wie eine Tante der bösen Gattung – hat sie gescholten, daß sie die dummen Blümlein ins Haar getan, und ich hab' ihr die Schlehen gegeben. Seitdem aber sind sie mir heiliger als Eichen und Lorbeer.«

»Und wie heißt denn die göttliche Hamadryade, armer Sterblicher?« fragte Steinau mit eigentümlicher Mischung von Teilnahme und Spott. Schwitzgäbele sah seinen Freund groß an.

»Danach hab' ich nie gefragt«, versetzte er dann begeistert. »Die Sonne hat ja auch keinen Namen unter den tausend Sonnen am Firmament und doch kennt sie jedes Kind. Sie hat mir ein langes, halbes Jahr in einen einzigen glücklichen Sommernachmittag verwandelt, ohne daß ich sie sah. Heut' ist sie mir wieder erschienen. Verstehst du jetzt, daß ich darüber närrisch geworden bin?«

Artur verstand es. Er verzichtete darauf, über die heutige Begegnung etwas Näheres zu erfahren; denn er kannte die Art Schwitzgäbeles: das, was ihn am meisten beschäftigte, durch nichts als durch ein strahlendes Auge, ein stilles, seliges Lächeln zu verraten.

Allerdings hätte er gern eine Begegnung, die seinen Freund dermaßen aus den Fugen gebracht hatte, um ein paar Tage hinausschieben mögen; denn er fürchtete den üblen Einfluß, den all das auf den morgigen Tag haben konnte. Doch versicherte Schwitzgäbele mit vielem Ernst, morgen so vernünftig sein zu wollen wie ein pensionierter Professor der Mathematik.

»Wer weiß«, sagte er verschämt und leis, »ob mich der morgige Tag nicht einem Ziel um einen Schritt näher bringt, – einem Ziel, das ich mir kaum denken, kaum erträumen kann!«

»Johann Jakob Schwitzgäbele!« hatte Artur mit erhobenem Finger darauf gesagt.

Aber Schwitzgäbele war zu glücklich, um etwas zu verstehen. Er lächelte und sie schieden.

Als Schwitzgäbele in seiner Dachstube, die er im Gasthof zum Ochsen bezogen hatte, angekommen war, schien ihm der Mond hell und freundlich durch das Fenster entgegen. Er bat höflich um ein Licht, stellte es mit Papier und Schreibzeug in den dunkelsten Winkel des Zimmers, legte sich zum Fenster hinaus und wartete. Von Zeit zu Zeit zog er den Kopf herein, schrieb ein paar Zeilen und schaute dann wieder hinauf an den sternbesäten Himmel. Sonst bemerkte man nichts Ausfallendes an ihm, als daß er einmal mit ungewohnter Heftigkeit nach einer Wurst rief. Erschrocken eilte der Kellner herbei und brachte das Verlangte. Ganz verlegen entschuldigte sich Schwitzgäbele. Er war wohl zu entschuldigen. Er hat in jener ereignisvollen Stunde, der glücklichsten seines Lebens, wo die ganze Schönheit des unendlichen Firmaments, die ganze innige Glut des eigenen, guten Herzens seinen Kopf bestürmte und das wohlgebundene corpus juriss, das er enthielt, überrumpelte, – er hat in dieser Nacht sein erstes und letztes Gedicht gemacht:

»An die Namenlose«.


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