Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14. [13]

Es war kurz nach acht Uhr, als die Fürstin Orlowski und der alte Basil in Graz aus dem von Triest kommenden Abendschnellzug stiegen. Die Fahrt war ungestört verlaufen. Lisaweta hatte für sich und Basil ein ganzes Abteil reservieren lassen, um sich vor einer etwa beabsichtigten »Annäherung« des Wiener Sicherheitsagenten zu bewahren.

Diese Vorsicht schien nicht unbegründet, denn die Beamten, deren »fürsorgliche Tätigkeit« ihr bisher wenig fühlbar geworden, hatten seit Dr. Jelbermayers vorgestrigem Besuch in der Villa Marina jede Zurückhaltung abgelegt und hefteten sich in auffallender Weise an ihre Fersen.

Das war ein schlimmes Zeichen.

Es bewies, daß die Leute verschärfte Instruktionen erhalten hatten, und das wäre nicht geschehen, legte man in Wien nicht großes Gewicht darauf, sich ihrer Person jeden Augenblick versichern zu können. Lisaweta gab sich darüber keiner Täuschung hin. Sie fragte sich selbst, ob sie sich wirklich noch in voller Sicherheit befand, wie Jelbermayer versichert hatte, ob unangenehme Ueberraschungen ausgeschlossen wären. – Es mochte ja sein, daß sie heute noch nichts zu befürchten hatte – würde es aber auch morgen, würde es übermorgen noch sein?

Jede Stunde konnte eine Aenderung der Lage bringen. Die beiden Detektive standen jedenfalls in reger Drahtverbindung mit dem Wiener Sicherheitsbüro und sie war keinen Augenblick sicher, daß nicht schon der nächste einen telegraphischen Haftbefehl in ihre Hände legen würde.

»Ruf einen Fiaker an, Basil,« sagte sie. als sie die äußere Bahnhofhalle durchschritt, die Agenten wie ihre Schatten hinter sich herziehend.

»Wohin soll er uns fahren, Mütterchen, Durchlaucht?«

»Zu den Barmherzigen Schwestern. Er wird sie zu finden wissen, die genaue Adresse habe ich nicht.« –

Der Abend war kühl, die Fürstin sehr angegriffen und unbehaglich. Ein Frösteln kam sie an, als sie ins Freie trat und sie zog ihren grauwollenen Reisemantel fester um sich.

Sie wartete auf den zur Straße niederführenden Stufen, bis der von Basil gerufene Wagen vorfuhr, um sie und ihr Reisegepäck aufzunehmen, und die Detektive standen dicht hinter ihr. Sie fühlte ihre Blicke auf sich ruhen, sie wußte, daß ihnen auch nicht die leiseste ihrer Bewegungen entging. Das machte sie so nervös, daß es in ihren Gliedern kribbelte wie von Ameisen.

Zugleich mit ihrem Wagen fuhr ein zweiter vor, den ein Gepäckträger beordert hatte, und durch Lisawetas Kopf zuckte es: »Für meine Wächter!«

Und so war es.

Ihre Gepäckstücke waren noch nicht richtig untergebracht auf dem Kutschersitze, als die Fürstin ihre Verfolger schon in den hinteren Wagen steigen sah, mit dessen Lenker der eine geflüstert hatte.

Basil setzte sich auf den Rücksitz, und kaum daß die Pferde angezogen hatten, sagte er mit verbissener Wut:

»Mütterchen Durchlaucht, die Spitzeln sind schon wieder hinter uns her!«

»Ich weiß es, mein guter Basil,« antwortete die Fürstin trübe.

»Und Mütterchen läßt sich's gefallen,« brummte er grimmig.

»Ich bin verdächtig, die Polizei hat das Recht, mich überwachen zu lassen. Dagegen ist nichts zu machen.«

»Und wenn die beiden Schufte uns ins Kloster nachschleichen, was werden die frommen Frauen dazu sagen, was werden sie denken?«

»Beruhige dich, mein Alter, bei den Barmherzigen Schwestern einzudringen, werden sie sich wohl zweimal überlegen. Das ist der Grund, weshalb ich sie aufsuche.«

»Die Nadascha hat es mir gesagt, Mütterchen Durchlaucht, ob aber die zwei sich daran kehren? Sie sehen mir aus, als wären sie zu jeder Schandtat fähig und um kein Haar besser als – mit Verlaub zu sagen – ihre russischen Gevattern!«

»Wir wollen es abwarten,« antwortete Lisaweta, obgleich sie sich sagte: des Russen Besorgnis könnte vielleicht nicht ganz unbegründet sein.

Basil hatte eine kleine Weile in Schweigen hingehen lassen, jetzt sagte er ernst, warnend:

»Gut, gut, abwarten, aber auch vorsorgen!«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine daß Mütterchen Durchlaucht mir eine Depesche an den Exzellenzherrn geben sollten.«

Sie schüttelte leise den Kopf.

»Du weißt doch, daß ich das nicht darf!«

»Er ist aber der, der uns am besten helfen kann, geht's noch schiefer als es jetzt geht. Ein Wort von ihm und die Spitzelbande zerstiebt in alle Winde!« beharrte Basil.

Er hatte ja recht, einen wirksameren Schutz als den Onkel Felix fand sie nicht so leicht, aber was hals es – sie durfte ihn nicht anrufen. Sein erstes würde sein, die Polizei gegen Karamanoff aufzubringen.

Das sagte sie auch dem alten Diener.

»Und es ist um Alexander Alexandrowitsch, wir sind's ihm schuldig,« setzte sie hinzu.

Doch auch dieses wirksamste Argument überzeugte ihn nicht von der Unzweckmäßigkeit seines Wunsches.

»Väterchen Durchlaucht ist ein Mann, ein kluger Mann, kein Kind, und wir leben nicht in Rußland. Ich brauche die Depesche auch nur im alleräußersten Notfall abzuschicken, damit Mütterchen nicht ganz verlassen ist,« bemühte er sich sie zu überreden.

Verlorene Liebesmühe!

Lisaweta zog vor, selbst zu entscheiden, ob und wann der alleräußerste Notfall eingetreten sein würde, und kam es wirklich so weit, so konnte sie die Depesche an den Feldzeugmeister immer noch abgehen lasten oder doch ihren Abgang veranlassen.

Ein abgeschossener Pfeil kehrt nicht wieder zum Schützen zurück, außer um ihn selbst zu treffen.

So mußte Basil sich zufrieden gehen ohne die geforderte Vorsorge erreicht zu haben.

»Und ich sage dir, Basil,« begann die Fürstin gleich wieder, »es mag kommen wie es will, es mag kommen was will – du verrätst das Vertrauen nicht, was ich in dich gesetzt habe! Du rufst keines Menschen Beistand an für mich, kein Wort geht über deine Lippen! – Wenn ich reden will, kann ich es jeden Augenblick, denk daran!«

Sie hatte das sehr eindringlich, feierlich gesagt.

»Gelobe es mir, Basil, bei der Muttergottes von Kasan, die du verehrst, auf deren Fürsprache du in diesem wie im andern Leben hoffst!« forderte sie.

Den Alten überlief es kalt.

»Ich verspreche es, Mütterchen Durchlaucht,« sagte er stotternd – widerstrebend.

»Bei der Muttergottes von Kasan!« wiederholte Lisaweta dringend.

Basil zögerte.

Ein Versprechen war ein Versprechen, eins bei der Muttergottes von Kasan war ein doppeltes, ein dreifaches – eins, das unter keinen Umständen gebrochen werden durfte, das einem Eide gleichstand.

Und je länger er zögerte, um so hartnäckiger bestand die Fürstin auf ihrem Verlangen.

»Hörst du nicht? – Bei der Muttergottes von Kasan!«

»Bei der Muttergottes von Kasan!«

»Verspreche ich zu schweigen über alles und jedes und gegen jedermann! – Sag's mir nach!«

Und der alte Mann sagte es nach, aber mit einer Empfindung, als spräche er sich selbst das Todesurteil.

»Ich danke dir, Basil.«

Es wurde nicht viel mehr gesprochen während der nur noch kurzen Fahrt. Lisaweta bedachte die nächsten Schritte, die sie beschlossen, der alle Mann brachte das ihm abgerungene Gelöbnis nicht aus dem Kopfe, das ihm erbarmungslos die Hände band. Nur ab und zu schob er den Kopf durchs Fenster, um einen Blick nach dem »Wagen mit den Spitzeln« zu werfen.

Er folgte unentwegt. –

Endlich hielt der Fiaker vor der stattlichen Anstatt der Barmherzigen Schwestern.

Der Kutscher stieg vom Bock und öffnete den Wagenschlag mit der Meldung, daß man am Ziel angelangt wäre.

»Soll i anläuten, gnä Frau?« fragte er.

Lisaweta nickte. Dann gab sie ihrem alten Diener eine Besuchskarte und wies ihn an, sie an der Pforte für die ehrwürdige Frau Mutter abzugeben.

Als er ausstieg, galt sein erster Blick dem Wagen der Verfolger. In einer Entfernung von noch nicht fünfzig Schritt hatte er ebenfalls stille gestanden. Einer der »Spitzeln« stand bereits beobachtend daneben.

»Daß sie den Hals brächen!« stieg es aus Basils Seelentiefen. Dann schlug er hastig das Kreuz über sich und murmelte: »Gott verzeih mir die Sünde!«

Nach kurzem Warten hatte sich die Pforte geöffnet, und die Pförtnerin im schwarzen Schleier über der blütenweißen, starrsteifen Stirnbinde fragte nach seinem Begehr.

Zunächst wurde Lisaweta durch die weite, in klösterlicher Sauberkeit prangende Eingangshalle in einen Korridor geführt, an dessen Ende ein bunt bemalter Negerknabe aus Gips ihr eine Sammelbüchse mit der Aufschrift: »Für die armen Heidenkinder« entgegenstreckte. Sie schob eine große Banknote hinein, ehe sie der Schwester Pförtnerin durch eine hohe, breite Doppeltür ins Sprechzimmer folgte. Basil war auf einen Wink der Barmherzigen draußen an der Tür stehen geblieben.

»Die ehrwürdige Frau Mutter wird sogleich erscheinen,« sagte die Schwester leise und überließ den Gast sich selbst.

Die Fürstin befand sich in einem großen, ernsten Raum, ausgestattet mit alten Eichenmöbeln, die sich in strengen Linien abhoben von den mit grauer Oelfarbe gestrichenen Wänden. Der Wandschmuck bestand aus einem hölzernen Kruzifix in halber Lebensgröße und einer riesigen Kastenuhr.

Lisaweta sah aber von alle dem nur wenig. Mit schnell schlagendem Herzen ging sie hin und her, getrieben von der inneren Unrast, und all ihr Denken wob um den Plan, der sie hierhergeführt hatte, das einzige Rettungsmittel, das ihr eingefallen war: Ob sie dazu kam, seine Durchführung zu versuchen, hing davon ab, wie die Oberin sich zu ihren Wünschen stellte.

Ulrike Hansrucker war eine Freundin aus den Tagen ihrer Kindheit und ihrer frühen Jugend, die Enkelin des guten alten Verwalters von Eibenstein, einer großen Reichlingenschen Waldherrschaft, auf der Lisaweta bis zu ihrer Verheiratung wenigstens vier Monat des Jahres mit ihren Eltern verlebt hatte.

Die Eibensteiner Tage zählten heute noch zu ihren sonnigsten Erinnerungen und die Gestalt der reichlich um zehn Jahre älteren Ulrike war untrennbar von ihnen. Sie war ihr eine ältere Schwester gewesen, eine Beraterin und zugleich auch eine Gespielin, die mit dem Spiele die Belehrung verband. Ulrike hatte ihr die Wunder des Wienerwaldes und die des Pflanzenlebens erschlossen, sie hatte ihr wunderliche Märchen erzählt und dir Sagen, die das gebrochene und verfallende Gemäuer der alten Burgen umrankten. – Später war die Trennung gekommen. Ulrike war als Novize in den Orden der Barmherzigen Schwestern eingetreten, die junge Baronesse Elisabeth hatte sich ein halbes Jahr danach mit dem Fürsten Orlowski verlobt, um ihm nach einem weiteren halben Jahr als sein Weib in das ferne Rußland zu folgen.

Nur zweimal hatten sich die einstigen Freundinnen seither gesehen. Bei einem Abschiedsbesuch, den Lisaweta wenige Tage vor ihrer Hochzeit der Novize und bei einem zweiten Besuch, den sie der damals im Spitale der Barmherzigen Schwestern in Wien wirkenden Schwester Celesta vor nun schon mehr als vier Jahren gemacht hatte. Wenige Wochen danach war diese nach einer siebenbürgischen Station versetzt worden.

Ob Ulrike sich der vergangenen Zeiten ebenso getreulich und warm erinnerte wie sie? – Ob sie ihr noch die einstige schwesterliche Zuneigung bewahrte? – Wie sie sie das letztemal gesehen, war ihr gewesen, als ob etwas fremdes, etwas Unüberbrückbares zwischen ihnen stände, und sie hatte dieses Trennende schmerzlich empfunden, schmerzlicher noch die gelassene Ruhe der Nonne, die Unbewegtheit.

Leise ging die Tür wieder auf und in das von einer einzigen grünbeschirmten Lampe nur sehr mäßig erleuchtete Zimmer glitt eine hohe schwarze Gestalt, die Hände in die weiten Aermel des schlichten, schwarzen Ordenskleides geschoben.

»Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit! Amen,« erwiderte Lisaweta in der herkömmlichen Weise den katholischen Gruß.

Sie tat es aber hastig, zerstreut, ohne dabei etwas zu denken, und die Oberin, die es mit feinem Ohr heraushörte, ließ unter den leicht gesenkten Lidern hervor einen prüfenden Blick über die rasch auf sie zueilende Fürstin hingleiten.

»Grüß Gott tausendmal, meine gute, gute Uli!« und sie schlang die Arme ungestüm um die leise zurückweichende Nonne, in der die glückliche Vergangenheit, das sonnenreiche Jugendland leuchtend vor ihr heraufstieg, die sie ihr gegenwärtiges Elend mit verdoppelter Schärfe empfinden ließ.

»Schwester Celesta, Eure Durchlaucht« erinnerte die Oberin, die von der Erregung der stürmisch erschütterten jungen Frau unberührt schien.

Diese fühlte sich erkältet, zurückgestoßen und diese Empfindungen setzten sich äußerlich in Ungeduld und Heftigkeit um.

»Ach was!« rief sie, den Fuß härter auf den Boden setzend als nötig gewesen wäre. »Du bist und bleibst für mich meine Uli, eine Schwester Celesta kenne ich nicht, und ich bin für dich keine Durchlaucht!«

Ein mildes Lächeln trat in das schmale Gesicht der Barmherzigen Schwester und leise sagte sie: »Immer noch die Elisabeth von fünfzehn Jahren, die wir den »Wirbelwind« nannten!«

»Schon lange nicht mehr, Uli! Das Leben hat mich abgekühlt, es hat mich zahm gemacht, hat mich gelehrt Lasten zu tragen. Hergeweht aber hat mich ein böser Wirbelsturm, zu dir, in den Schutz und Schirm deines Klosters! Ich komme als Hilfesuchende, bitte dich für mich und meinen alten Diener Basil um Aufnahme für zwei, höchstens drei Tage – kannst und willst du sie mir bewilligen?«

Dieses Stürmen und Drängen, die ganze Art der Fürstin stand in einem schroffen Gegensatz zu dem üblichen Klosterton, an den die Ulrike Hansrucker seit nun schon bald zwölf Jahren gewohnt war, daß sie sich nicht sofort zurechtfand, stutzig, bedenklich wurde, zögerte. War ihr schon der Besuch der Fürstin Orlowski zu dieser Abendstunde auffällig, ihre vielsagenden und doch so unklaren Aeußerungen gaben ihr noch mehr zu denken.

Sie antwortete auch erst nach einigen Augenblicken langsam, forschend: »Gewiß können wir Gäste beherbergen – möchtest du mir aber nicht erklären –«

»Ich bin auf der Flucht vor der Polizei, die mich von zweien ihrer Agenten bewachen läßt, und ich muß ihnen vorläufig entrinnen, muß mich mit meinem Mann in Drahtverbindung setzen!« erklärte Lisaweta rund heraus.

Die Nonne war einen Schritt zurückgetreten und schaute der Fürstin aus einem erblaßten Gesicht steif in die Augen. Hinter der falten- und fleckenlosen Stirnbinde schien die Angst, eine folternde Angst zu sitzen.

»Angst um mich oder Angst vor der Berührung mit dem Unreinen?« fragte sich die Fürstin, die ihre einstige Freundin nicht so gefunden, wie sie es gewünscht hatte.

Das Fremde, Trennende trat ihr heute noch schärfer entgegen, als vor vier Jahren, da sie sich zum letztenmal gesehen hatten.

»Hat die Polizei Grund dich zu verfolg«:, Elisabeth – bist du – bist du –«

»Unschuldig schuldig bin ich, Uli, und gerade sehr schwer ist meine Schuld auch nicht, sie besteht im Schweigen über Dinge, über die ich nicht reden darf ohne Alexander Alexandrowitschs Leben zu gefährden. – Ich erzähle dir alles – alles, aber später, jetzt drängt die Zeit, vor der Pforte steht der Wagen mit meinem Reisegepäck und auch die beiden Geheimagenten stehen draußen. Darum – nimmst du uns auf oder nicht?«

Der Frau Mutter Brust hob sich höher unter dem schwarzwollenen Zeug ihres Gewandes.

Plötzlich hob sie den Kopf und sagte um vieles freier, herzlicher als sie bisher gesprochen, mit einem kräftigen Anflug ihrer einstigen Wesensart: »Komm mit, Elisabeth. die Fremdenzimmer sind oben im ersten Stock.«

Die alte Anhänglichkeit an Lisawetas Person und an ihre Familie hatte sich durchgerungen und den Sieg behauptet über die Bedenken eines skrupelvollen Gemütes, umschnürt von strenger Klosterregel. –

Die beiden der Fürstin zur Verfügung gestellten Räume waren behaglich bei all ihrer klösterlichen Einfachheit und sie waren auch freundlich, soweit man es bei Lampenlicht beurteilen konnte. Ulrike – Celesta hatte sie mit einem frommen »Gott segne deinen Einzug!« hereingeführt und dann ein warmherziges, kräftiges »Sei unser Gast, solange es dir gefällt,« hinzugefügt.

Lisaweta hatte aber nicht vor, von dieser Einladung nur eine Stunde länger Gebrauch zu machen, als sie notgedrungen mußte. Im Laufe des morgigen Tages mußte die Antwort auf die unterwegs an ihren Mann wie auf die an Scheragin gesandte Depesche ankommen, und danach blieb ihr nichts mehr zu tun, als der Versuch, ihren Plan durchzuführen. Ob Ulrike sie dabei unterstützen würde, erschien ihr fraglich.

Den aschblonden Kopf in die aufgestützte Hand gelegt, lehnte sie in einem altmodischen Armstuhl, in dem ihre zierliche Gestalt fast versank und sann – sann – sann.

Sie war so versunken in das wilde Gewoge ihrer Gedanken, daß ihr der Eintritt eines ganz jungen Schwesterchens, beladen mit einem schweren Speisebrett entging, das diese auf ein Tischchen nahe der Tür absetzte. Aufmerksam wurde sie erst, als das Decken des Tisches begann.

Wieder zur Augenblicks-Gegenwart zurückgerufen, erhob sie die Hand zur Abwehr und sagte: »Bitte nicht, Schwester, ich habe wirklich keine Bedürfnisse.«

Die Barmherzige ließ sich nicht beirren.

»Die Frau Mutter hat's so angeordnet und sie bittet auch, nichts übrig zu lassen. Durchlaucht müßten ausgiebig speisen, es täte dringend Not,« sagte sie, sich auf die höchste Instanz des Gemeinwesens berufend.

Lisaweta wehrte nicht mehr ab. den Kopf aber wendete sie zur Seite. Schon der Anblick der Speisen erregte ihr Widerwillen.

»Die ehrwürdige Frau Mutter hofft bis in ungefähr einer Stunde bei Eurer Durchlaucht zu sein. Leider gibt es gerade heute mehr vorzusorgen als gewöhnlich.. Auch ist es der Tag, an dem die Küchenmeisterin Rechnung zu legen hat,« sagte die Schwester, ehe sie wieder aus dem Zimmer ging.

Lisaweta war froh, daß man sie allein ließ. Sie war schrecklich müde, abgespannt und sorgenvoll. Das Sprechen kostete sie Ueberwindung, war ihr eine Anstrengung.

Die zierlich angerichteten und lecker duftenden Speisen blieben unberührt, aber den funkelnden, goldklaren Klosterwein, den die junge Nonne eingeschenkt, leerte sie in kurzen, hastigen Zügen und das leise Feuer, das er in ihren Adern entzündete, durchströmte sie wohlig.

Die Zeit rann langsam weiter. Es wurde Zehn, es wurde halb Elf, niemand kam, und die belebende Wirkung des genossenen Weines verlor sich allmählich, Lisaweta wurde wieder müde.

Endlich drehte sich die Tür mit schwachem Knarren in den Angeln und vor der Schwelle klang es: »Verzeihe, Elisabeth, es war unmöglich, eher zu kommen. Bei uns muß jeder Tag sein Werk vollenden, sonst kommen wir nicht mehr nach. – Du hast keinen Bissen genossen!« setzte die Frau Mutter mit leisem Vorwurf in der Stimme bei.

»Ich kann nicht, Uli, ich glaube, der erste Bissen schon würde mich ersticken,« versetzte Lisaweta.

»Der erste wird dich würgen, es ist immer so, wenn man lange nichts zu sich genommen hat, mit jedem weiteren geht's dann besser. Versuch's!« und die Barmherzige setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Ich kann wirklich nicht!«

»Du mußt, du mußt dich bezwingen, denn es ist dir bitter Not! – Weiß wie die Hand ist dein Gesicht und müde, welk ist es auch. In deinen Jahren ist das unnatürlich. – Iß! sage ich, Elisabeth! Ich bleibe, leiste dir Gesellschaft wie ich in Eibenstein getan habe, wenn du als Kind eigensinnig warst, nicht essen oder nicht schlafen wolltest!«

»Und Geschichten hast du mir dazu erzählt, Geschichten, über denen ich alles vergaß, sogar meinen sogenannten Eigensinn,« plauderte Lisaweta warm werdend. Dann mit einem Seufzer: »O, was waren das für wundervolle Zeiten und was gäbe ich, ließ sich nur ein einziges dieser Jahre nochmals durchleben! Ich habe nur nicht gewußt, wie herrlich sie waren, weiß es erst jetzt, wo sie vorbei sind, wo alles Glück, jeder Friede aus meinem Leben geschwunden ist!«

»Beide können wiederkehren Elisabeth, wenn vielleicht auch in einer anderen, in einer geläuterten Form. Ich weiß es aus Erfahrung, denn auch ich bin wieder glücklich geworden. Der Christ verzagt nicht – er kämpft und hofft,« mahnte die Oberin mit ernster Eindringlichkeit.

Die Fürstin aber schüttelte den Kopf.

»Ich habe nahe an sechs Jahre gekämpft und gehofft und bin bei alledem nur immer tiefer und tiefer hineingekommen in Jammer und Elend. – Ohne meine Schuld, Uli – ich habe nichts verbrochen, habe auch nichts versäumt! – Nun gibt es für jeden eine Grenze, nach deren Ueberschreiten Kampfesmut und Hoffnung rettungslos zusammenbrechen – ich habe diese Grenze überschritten. Zwar kämpfe ich weiter – ich habe ja keine Wahl – doch hoffen? Nein, ich kann's nicht mehr.«

»Das ist sehr unrecht und auch sehr töricht! Der liebe Gott kann dir jeden Augenblick helfen und er wird es tun, wird es in der Stunde, die dich gänzlich ratlos findet.«

»Ratlos war ich schon oft und angerufen habe ich, Gott tagtäglich während aller dieser Jahre, aber er ist taub für mein Flehen,« sagte Lisaweta dumpf.

Da richtete die Oberin sich kerzengerade auf und sagte strenge: »Schäme dich, so zu denken, so zu reden! Meinst du. Gott müßte gerade dann helfen, wenn du es nötig glaubst! – Aber iß jetzt, ist's auch nur wenig, und dann erzähle, was du erzählen wolltest. Ein wundes Herz wird oft wunderbar erleichtert durch Aussprache.«

Und die Nonne nahm von dieser und von jener Platte ein weniges und füllte damit den Teller der Fürstin.

Das Zureden der alten Freundin brachte es schließlich auch so weit, daß sie von allen diesen ein paar Bissen genoß. Zuerst hatte es zwar nicht gehen wollen, dann hatte sich aber doch ein gewisser Appetit eingestellt. Der vernachlässigte Körper machte seine Rechte geltend.

Große Rücksicht schenkte sie seinen Ansprüchen aber auch jetzt nicht. Es hieß sehr bald: »Du hast genug, gib dich zufrieden?«

Lisaweta legte sich wieder in den Stuhl zurück und begann mit statt gedämpfter Stimme: »Du wirst noch wissen, daß ich den Fürsten Orlowski gegen die innersten Wünsche meiner Eltern und Onkel Felix heiratete, die mich ungern in ein so fernes Land gehen ließen. Zu bereuen hatte ich diesen Schritt jedoch nicht, denn Alexander ist ein guter Mensch und erfüllte mir jeden Wunsch, womöglich noch ehe er ausgesprochen war. Wir waren sehr – sehr glücklich!

Wie es bei den Orlowskis von altersher Sitte ist, verbrachten wir den größeren Teil des Jahres auf unseren Gütern. Zwei oder drei Wintermonate aber gehörten dem Gesellschaftsleben in Petersburg, um meines Mannes nahe Beziehungen zum Hof, besonders aber zum Kaiser, nicht erkalten zu lassen.

Vor nun sechs Jahren waren wir gleich nach Neujahr wieder dorthin gekommen, um bis Ende März dort zu bleiben. Es war mein schönster und anregendster Winter in der neuen Heimat, er entschwand mir wie im Fluge. An einem Abend im März waren wir zu einem Souper geladen, veranstaltet von den Offizieren des Garderegiments, dem mein Mann etliche Jahre angehört hatte. Es ging lustig her, und der reich strömende Champagner erhöhte die frohe Laune bis zum Uebermut. Der tollsten einer war Paul Petrowitsch Scheragin, ein jüngerer Vetter meines Mannes.

Als wir gegen zwei Uhr morgens aufbrachen, schloß er sich uns an und überredete uns, den Wagen heimzuschicken und den ziemlich weiten Weg nach dem Orlowskischen Palaste zu Fuß zurückzulegen. Die Nacht war kalt, doch schön, wir beeilten uns nicht, schlenderten durch die Straßen und plauderten von diesem und jenem, hauptsächlich von dem guten lustigen Abend, der hinter uns lag.

Plötzlich blieb Paul Petrowitsch stehen und sagte in einem Tone und mit einer Miene, die einen tiefen, einen erschütternden Eindruck auf uns machte: »Ja, es war schön, und ich habe mich gefreut, soviele alte Freunde nach langer Trennung wiederzusehen. Und doch sage ich Euch, es ist eine scheußliche Sünde, teilzunehmen an Festen, bei denen der Reichtum solche Orgien feiert, sich in Sekt zu baden, in Trüffeln zu schwelgen, sich mit Juwelen und mit kostbaren Gewändern zu behängen, solange das Elend Ströme blutiger Tränen weint, die keiner beachtet, geschweige stillt! Nur ein paar Straßenzüge trennen den Prachtsaal, aus dem wir kommen, von Lokalitäten, in denen Dutzende von Menschen, zusammengepreßt wie Heringe in einer Tonne, schmachten, Pesthöhlen, unwürdig, von menschlichen Füßen betreten zu werden!«

Er war sehr aufgeregt und gestikulierte heftig. Der Fürst suchte ihn zu beruhigen, es war jedoch verlorene Mühe. Je mehr er zuredete, um so stürmischer wurde sein Vetter, bis er uns schließlich den Vorschlag machte, ihn am anderen Abend an eine der von ihm geschilderten Stätten zu begleiten. Auch die Kehrseite der uns bekannten Medaille kennen zu lernen, wäre sehr heilsam, sagte er, Kontraste wirkten belehrend.

»Wenn man helfen kann, gehe ich gern mit, sonst nicht,« erwiderte ihm Alexander Alexandrowitsch.

»Jeder kann helfen, ist er guten Willens.«

Was wir in den folgenden acht Tagen an Elend, Krankheit und Scheußlichkeiten zu sehen bekamen, will ich dir nicht schildern. Mit der Sache selbst steht es in keinem direkten Zusammenhang, und es ist nicht angenehm zu hören,« fuhr die Fürstin nach einer Augenblickspause weiter fort. »Genug, daß wir Paul Scheragins Empörung teilten, daß auch wir geneigt waren, alle Schuld an diesen grauenvollen Zuständen bei der Regierung, bei der Stadtverwaltung, bei der Gesellschaft zu suchen, nicht aber auch bei denen, die wir ihnen verfallen sahen. Unser Vetter war an allen diesen Stätten des Jammers und des Lasters eine wohlbekannte und mit Freuden begrüßte Erscheinung. Seinen Namen wußten die Leute nicht, oder sie waren schlau genug, sich den Anschein zu geben, als wüßten sie ihn nicht. Er hieß für sie einfach: »Bruder Petrowitsch.« Und er handelte als Bruder an ihnen, denn wo er sich zeigte, streckten sich ihm Dutzende geldgieriger Hände entgegen, und er füllte sie alle mit Gold. Auch jene, die er schon so oft und so reichlich gefüllt hatte, daß ihre Eigner nicht mehr nötig gehabt hätten, in diesen Höllenasylen Zuflucht zu suchen. Mein Mann stand ihm im Geben nicht nach, seine zornige Erregung war auf ihn übergegangen.

An einem der letzten Abende, an denen wir diesen traurigen Rundgang durch die »Sümpfe von Petersburg« machten, besuchten wir auch eine uns noch unbekannte Höhle dieser Art. Sie war fast noch trostloser als die anderen, und die darin hausenden Gäste machten einen noch jämmerlicheren Eindruck. So vertierte Gesichter habe ich nie vorher und nie nachher gesehen. Wir waren noch keine Viertelstunde dort, als der »Wirt« eine heisere Glocke schwang und hierauf mit einer ebenso heiseren Stimme verkündete: er wolle schließen und alle, die hier nicht zu nächtigen gedächten oder kein Schlafgeld hätten, möchten sich schleunigst zum Teufel scheren.

Ehe aber noch einer der Anwesenden dieser liebenswürdigen Aufforderung nachkommen konnte, stand ein zerlumpter Mensch, der mit fünf Strolchen an einem der Tische saß, auf und rief, einen Browning-Revolver ziehend: »Keiner rührt sich von der Stelle, auch der Wirt nicht!«

Es rührte sich auch wirklich niemand von dem Platze, an dem er sich eben befand, denn des Mannes Genossen hatten es ihm gleichgetan und die sechs blinkenden Läufer vielschüssiger Revolver flößten den Jammermenschen den entsprechenden Respekt ein.

Einer nach dem andern tritt heran und weist seine Legitimationspapiere vor! – »Im Namen des Gesetzes vorwärts!« gebot der Zerlumpte, der als erster aufgestanden war.

Ein starkes Erschrecken ging durch die Asylgäste. Sie drängten sich zusammen und duckten sich wie Schafe in einem Gewittersturm. Sie hatten es nicht mit verwandten Seelen zu tun, wie sie bislang geglaubt, sondern mit Geheimpolizisten, und da wohl keiner der Anwesenden ein reines Gewissen besaß, fürchtete wohl ein jeder, der polizeiliche Besuch möchte ihm gelten.

Dennoch schlich einer nach dem anderen mit scheuen Bewegungen herbei, gab seinen wahren oder erborgten Namen an, legte seine Papiere vor oder erklärte, so gut er konnte, ihr Fehlen, wenn er keine hatte. In solchen Fällen hörten wir den Zerlumpten ein paarmal sagen: »Weiß schon, weiß schon, alter Kamerad! Stell dich dort hinten hin, gehst dann mit, damit du das teuere Schlafgeld sparst.«

Endlich hieß es auch an unsere Adresse: »Vor mit Euch drei, dort hinten!«

So unangenehm es war, wir mußten gehorchen. Mein Mann und Scheragin nannten dem verkleideten Polizeibeamten flüsternd ihre Namen, zeigten ihre Karten und baten ihn, jedes Aufsehen zu vermeiden. Das tat er wohl, aber er erklärte, wir müßten ihm zum Polizeikommissar folgen. Besuchskarten wären keine ausreichenden Legitimationen und seine Instruktionen lauteten sehr bestimmt. Die Herberge, in der wir uns befänden, wäre eine der schlimmsten». –

Der Kommissar, vor dem wir unsere Depositionen zu machen hatten, war weder ein so höflicher noch ein so wohlwollender Mann wie sein Agent. Er versuchte den Gewalthaber herauszukehren, was sich Alexander Alexandrowitsch in seiner höchstgradig gereizten Stimmung mit heftigen Worten verbat. Was noch schlimmer war, er machte ein paar Bemerkungen über Polizeiwesen und staatliche Fürsorge für die Armen und Elenden, die sich verschieden auslegen ließen.

Zwei Tage später sagte Scheragin, er würde uns in eine Vereinigung ernster Männer einführen, die sich die Hebung des russischen Volkes zur Lebensaufgabe gemacht hätten. Gewitzigt durch das polizeiliche Zwischenspiel, das mir nicht ganz belanglos erschien, riet ich zuerst ab. Mein Mann war aber dem Vorschlag geneigt. Paul Scheragin ließ nicht ab, und so willigte schließlich auch ich ein.

Nach neun Uhr abends machten wir uns auf den Weg, und eins halbe Stunde später betraten wir ein großes, vernachlässigtes Vorstadthaus. Das Versammlungslokal lag im dritten Stock eines Seitengebäudes. Man kam aber nicht ohne weiteres hinein. Scheragin flüsterte mit verschiedenen Herren, die auf eines Dieners Meldung kamen und gingen, während wir in einem schäbigen Salon auf unsere Einführung in die Gesellschaft warteten. Mir mißfiel der ganze Betrieb, und ich sagte meinem Mann, wir wollten uns zurückziehen. Da kam ein junger Mann, um uns in das Beratungszimmer zu führen.

Es dauerte kaum zehn Minuten, bis auch von Alexanders Augen die Binde fiel – wir waren in eine Verbindung mit terroristischen Bestrebungen und Zielen geraten, die sich die »Menschenretter« nannte.

Spontan in seinem Handeln wie in seinen Entschließungen, stand mein Mann auf und erklärte rundweg: »Meine Herren, ich achte und ehre jede Ueberzeugung, die Ihrige ist aber nicht die meine und wird es nie sein. Das wenige, was wir bei Ihnen gehört haben, ist aus unserem Gedächtnis gelöscht für alle Zeit, das schwören wir, so war wir an Gott den barmherzigen Vater glauben! Erlauben Sie, daß wir uns zurückziehen.«

Die sonderbaren Menschenretter bezeugten jedoch keine Lust zur Erteilung der erbetenen Erlaubnis. Schmähreden wurden uns ins Gesicht geschleudert. Drohungen, Waffen wurden sichtbar. Da rief Scheragin kreidebleich mit donnernder Stimme: »Brüder, das ist wider die Abrede, ihr brecht Euer Wort! Als ich Euch nachgab, als ich Euch versprach, den Fürsten und die Fürstin hierher zu bringen, bedang ich mir von Bruder Iwan Feodorowitsch und von Bruder Wladimir in Euer aller Namen für beide freien Rückzug unter dem Eide unverbrüchlichen Schweigens, wenn sie es ablehnten, mitzuarbeiten an unserem erhabenen Werke.«

Daraufhin erhob sich ein langbärtiger Mann von grauenhafter Magerkeit und sagte: »Bruder Paul Petrowitsch sagt die Wahrheit, Bruder Wladimir und ich haben ihm für seine Verwandten freien Rückzug zugesagt, und wir durften es nach unseren Satzungen, die bestimmen, daß das Wort, das ein Bruder vom Vorstand im Namen aller gegeben, auch für alle bindend sein soll.«

Ein dumpfes Gemurmel erhob sich unter den vierzehn Männern, die alle Frontstellung gegen uns angenommen, und die Waffen senkten sich.

»Das war nicht wohlgetan, Bruder Iwan Feodorowitsch. Du hast uns in schwere Gefahr gebracht. Du und Bruder Wladimir. Wenn diese beiden,« und er wies auf uns, »ihren Eid brechen –«

»Dann werden sie, wird Bruder Paul Petrowitsch sterben! Er bürgt mit seinem Kopfe für sie. – Auch wird der Fürst Orlowski uns eine Steuer entrichten, zweimalhunderttausend Rubel, und zwar in einer nach Sicht zahlbaren Anweisung,« sagte der Magere.

»Mein Mann,« fuhr die Fürstin in ihrer Erzählung fort, »schäumte innerlich vor Wut, ich sah es ihm an und zitterte vor dem Bescheid, den er geben würde; da brach unser Vetter Scheragin los: »Auch das ist wider die Abrede, Iwan Feodorowitsch! Nie habe ich diese Bedingung eingegangen –«

Doch, du hast es, denn ich sagte dir: »Wollen deine Verwandten nicht die unsrigen werden, so zahlen sie ein kleines Sühnegeld –«

»Ich weiß es nicht mehr, indessen mag es ja sein. Zweimalhunderttausend sind aber kein kleines Sühnegeld, sie sind ein Vermögen!«

Iwan Feodorowitsch jedoch erwiderte ihm kaltblütig, »Nicht für alle, nicht für Alexander Alexandrowitsch Orlowski. Sein Vermögen beläuft sich auf viele Millionen, zweimalhunderttausend Rubel sind für ihn eine Kleinigkeit.«

Meinem Mann war die besonnene Ruhe inzwischen zurückgekehrt. Er legte die Hand auf Scheragins Arm und sagte: »Rege dich nicht auf, Paul, ich schreibe die Anweisung, auf die hin der Betrag schon morgen erhoben werden kann. Auf welchen Namen soll sie lauten?«

»Auf Kyrill Danielowitsch Muchinow,« fuhr der, der dem Mageren vorhin Vorhaltungen gemacht, so hastig heraus, als fürchtete er, ein anderer könnte ihm zuvorkommen.

Alexander stellte einen Scheck aus über die ihm erpreßte Summe, der Mann, der den Namen Muchinow genannt und wahrscheinlich selbst so hieß, prüfte ihn mit der peinlichsten Aufmerksamkeit, dann wurde uns von ihm die Eidesformel vorgesagt, die wir nachsprachen, worauf unsere Entlassung erfolgte. Iwan Feodorowitsch fiel die Aufgabe zu, uns aus dem Hause zu bringen, und ehe wir die Hausschwelle überschritten, mahnte er: »Wird der Scheck morgen nicht anstandslos eingelöst oder kommt nur ein andeutendes Wort über Eure Lippen so wartet Eurer der Tod. Denkt daran!«

Den armen verblendeten Paul Petrowitsch haben wir nicht wiedergesehen. –

Damals noch unbekannt mit Leid und Unglück, hatte mich die durchlebte Schreckensstunde so mitgenommen, daß ich mehrere Tage das Bett hüten mußte, und als es mit mir besser wurde, ich wieder vernünftig denken konnte, kam die Angst vor der Zukunft, die Furcht vor den »Menschenrettern«, und ich bestürmte meinen Mann, unseren Stadtaufenthalt schleunigst abzubrechen und mit mir auf unsere Güter zurückzukehren.

Bereitwillig wie immer, wenn ich einen Wunsch äußerte, gab er sogleich die erforderlichen Befehle und bat um die herkömmliche Abschiedsaudienz beim Zaren, der ihm von jeher besonders gewogen war. Er wurde abschlägig beschieden, zum erstenmal in seinem Leben. – Ich, wie elend ich mich auch noch fühlte, wollte zweien mir äußerst geneigten Großfürstinnen vor unserer Abreise nochmals meine Aufwartung machen und – wurde nicht empfangen. Ihre Damen, die ich aufsuchte, um den hohen Herrschaften durch sie meine Ergebenheit ausdrücken zu lassen, begegneten mir so kalt und steif, daß ich nicht mehr zweifeln konnte – wir waren in Ungnade gefallen!

Mein Mann nahm es nicht sonderlich schwer, es ärgerte ihn zu sehr, um ihn tiefer zu kränken. »Das ist des Polizeikommissars Prebinjeffs löbliches Werk, die Antwort auf die Hochachtung für sein Amtshandeln, die ich ihm ausdrückte Er hat die an sich so unbedeutende Sache zu etwas Ungeheuerlichem aufgebauscht,« sagte er.

Der gleichen Meinung war der Staatsrat Scheragin, Paul Petrowitschs älterer Bruder. Er versprach, die Sache wieder ins Geleise zu bringen.

»In Zukunft aber haltet Euch fern von so übelberufenen Orten. Diese Art von Philanthropie hat keinen Zweck, wohl aber üble Folgen,« riet er.

Einige Tage nachher reisten wir ab.

Die nächsten paar Monate verliefen in der gewohnten Weise. Obgleich ich einen gewissen Druck, eine leise Sorge nicht losbrachte, war ich doch glücklich. Mein Mann zankte oft mit mir: »Sei doch vernünftig, das Ganze ist ein durchsichtiger Schwindel. Die »Menschenretter« haben uns in ihre Höhle gelockt, um mir die Zweimalhunderttausend abzujagen, und der arme ideale Paul Petrowitsch diente ihnen als Schlepper, ohne zu wissen, worum es sich eigentlich handelte. Nun sie das Geld haben, sind sie zufrieden und wollen nichts weiter von uns, so lange wir unseren Schwur hatten. Strauchdiebe sind es, nichts weiter.« –

Es wurde Sommer, und er brachte uns neue Zeichen kaiserlicher Ungnade. Einladungen des Kaisers und des Großfürsten, die Jahr für Jahr gekommen waren, blieben aus. Nahe Freunde und Verwandte mahnten zur äußersten Vorsicht im Handeln und Reden. Es gingen, speziell in Hof- und Regierungskreisen, Gerüchte um, die Alexander als einen »Unzufriedenen« charakterisierten, ihn als »terroristisch angehaucht« bezeichneten. Eines Augusttages endlich kam unversehens unser Vetter, der Staatsrat Scheragin, auf unser Gut Anilonkowo.

»Kinder,« eröffnete er uns, »es steht nicht gut, und ich rate dringend: Wendet unserem lieben Rußland kurzerhand den Rücken. Ein paar Jahre im Ausland bringen die Geschichte in Vergessenheit. Inzwischen bin ich hier, um über Eure Interessen zu wachen und für die Zerteilung der angesammelten Wolken zu sorgen. Der Polizei von Petersburg ging eine anonyme Hetzschrift gegen Alexander zu. Das dann Gesagte genügte nicht, um ohne weiteres gegen ihn vorzugehen, ist aber mehr als genug, um ihn verdächtig erscheinen zu lassen. Was das bei uns bedeutet, wißt Ihr. Es wäre nicht so schlimm, wenn die alberne Affäre mit dem Kommissar Pretinjeff und Euer Besuch in einer Gaunerspelunke erster Güte die Denunziation nicht zu bestätigen schienen. Wer nach einer Handhabe sucht, findet sie im Dunkeln, sagt ein Sprichwort – darum macht, daß Ihr fortkommt!«

Am 1. September verließen wir Rußland, das seither weder mein Mann noch ich wiedergesehen haben.

Kaum ein paar Wochen in Wien, erhielten wir die Nachricht von Paul Petrowitsch Scheragins Tode. Am frühen Morgen hatten Arbeiter ihn tot in derselben Straße aufgefunden, in der sich das Versammlungslokal der »Menschenretter« befand. Bei der näheren Untersuchung fand man einen Dolch, der ihm das Herz durchbohrt und noch bis an den Griff in der Wunde steckte.

Das Geheimnisvolle, das die grauenvolle Tat umgab, brachte die gesamte Polizei auf die Beine. Sie machte die äußersten Anstrengungen. Vergebens, der oder die Mörder sind bis heute noch nicht entdeckt.

Mein Mann sagte sofort: »Es ist das Werk der »Menschenretter«! Paul wurde ihnen aus einem oder dem anderen Grunde unbequem und wurde eben beseitigt.« Ich glaube es auch, und ich vermute, daß Geldfragen in die Tat hineinspielten, denn sein immerhin beträchtliches Vermögen war bis auf wenige tausend Rubel aufgebracht, und er hatte auch in früherer Zeit keine übermäßigen Ausgaben für sich gemacht.

Mich persönlich traf unsere freiwillige Verbannung nicht schwer, war ich doch wieder daheim, und auch Alexander, ging es ihm wohl nahe, seine Heimat als eine Art Flüchtling zu verlassen, fand sich gut hinein. In Wien kam mir das Gefühl des Geborgenseins, der absoluten Sicherheit wieder, ich war glücklich wie zuvor und blieb es bis zu der Stunde nach etwa sechs Monaten, in der Iwan Feodorowitsch, der unheimlich magere Mensch, der »Menschenretter« der die zweihunderttausend Rubel Lösegeld von uns gefordert, auftauchte, um Alexander und mich zu seinen und seiner Genossen Sklaven zu machen.

Die schwülstigen Redensarten über die Sünde des Reichtums, mit denen er sich bei meinem Mann einführte, kann ich übergehen und gleich zum Kern des Ganzen kommen. Iwan Feodorowitsch forderte für die Dauer von fünf Jahren eine jährliche »Steuer« von hunderttausend Rubeln. Außerdem stellte er die Bedingung, daß ich während dieser Zeit in Wien leben sollte, wo er, ein Opfer der gewalttätigen russischen Willkürherrschaft, sich bis auf weiteres niederzulassen gedächte, daß aber Alexander ins Ausland gehen und höchstens dreimal im Jahre mit mir zusammenkommen sollte. Weigerte er sich, diese Bedingungen einzugehen, hielt er sie nicht pünktlich und in allen Stücken, so würden die »Menschenretter« mich dafür verantwortlich machen und mich zu treffen wissen, wo ich auch wäre, denn sie hätten überall Arme und Augen. – Daß unverbrüchliches Schweigen ebenfalls Bedingung war. kannst du dir denken, meine gute Uli.

Als Alexander nach dieser lange dauernden Unterredung zu mir kam, um mir davon Mitteilung zu machen, befand er sich in einem Zustand, der mich für seine Gesundheit fürchten ließ.

»Natürlich habe ich alles eingegangen,« sagte er zum Schluß. »Ich glaube allerdings nicht an die schrankenlose Macht und die ungeheure Verbreitung der ›Menschenretter‹, deren sich dieser Iwan Feodorowitsch rühmt, zumeist wohl, um mich einzuschüchtern und gefügig zu machen. Aber ich glaube an ihre ungeheure, schrankenlose Verderbtheit und Gewissenlosigkeit, die sie zu jeder Tat gemeinster Niedertracht befähigt, denn des armen Paul Petrowitschs trauriges Ende ist ein glänzender Beweis dafür. Dein Leben darf ich nicht aufs Spiel setzen.«

Ich erwiderte, daß ich mich nicht fürchtete, daß derartige Drohungen weit leichter auszusprechen, als zu verwirklichen wären, namentlich in Westeuropa, und daß ich es vorzöge, mich der Gefahr des Ermordetwerdens auszusetzen, als mich für eine so lange Zeit von ihm zu trennen.

Es half nichts. Mein Mann weinte wie ein Kind, aber er blieb fest und reiste Anfang der folgenden Woche allein nach Paris ab, wo er seither seinen ständigen Aufenthalt hat.

Iwan Feodorowitsch war jedoch mit diesem einen Erfolge nicht zufrieden. Meines Mannes Abreise war für ihn das Signal mich zu brandschatzen, mir eine jährliche Steuer von zweimalhunderundfünfzigtausend Kronen abzupressen. Daß ich sie bezahlen, ja noch darüber hinaus alle Ansprüche befriedigen konnte, die dieser nimmersatte Schurke stellte, danke ich der Großmut Alexanders, der mich finanziell brillant versorgte und mir nicht nur unser halbes Einkommen überwies, sondern auch die Kapitalien zur Verfügung stellte, die wir seit unserer Verheiratung erspart hatten. Sie sind bis auf den letzten Heller in Iwan Karamanoffs Hände übergegangen.« –

Die Frau Mutter, geborene Ulrike Hansrucker, die Lisaweta bisher ohne jede Unterbrechung angehört, fiel setzt heftig ein: »Das ist unerhört, und ich verstehe Euch nicht! – Nicht dich, Elisabeth, nicht deinen Mann! Wie kann man sich so ausplündern lassen, gerade als lebtet ihr in einer Wildnis oder mitten unter Räuberbanden!«

»Wie die Sorge, um mein Leben Alexander diesem Blutsauger unterworfen hat, so mich die Sorge um das seinige. »Jeder Ungehorsam Ihrerseits wird an dem Fürsten gerächt werden, er wird ihn uns bezahlen!« – Darf ich meines Mannes Leben wagen?«

»Warum habt Ihr nicht die Polizei zu Eurem Schutze aufgerufen?« sagte die empörte Nonne.

»Was kann sie ausrichten gegen den Dolch des Meuchelmörders, Uli? – Wer hat den unglücklichen Paul Petrowitsch geschützt?«

»Das war etwas anderes, er hat sich in die Löwenhöhle hineinbegeben!«

»Um so schlimmer! Ist der nicht noch verwerflicher, der Hand anlegt an einem Genossen? – Doch weiter. Es ist spät, und morgen treten wohl schon bei Zeiten neue Anforderungen an dich heran. Iwan Feodorowitschs Geldhunger ist unstillbar. Was man auch gibt, es ist nicht genug, und dabei hat er sich an den Rand des Grabes gehungert. Jetzt, wo das fünfte und letzte Jahr unserer Sklaverei angebrochen ist, erklärt er, unser Vertrag hätte in seinen und seiner Genossen Augen keine Gültigkeit, ich bliebe ihnen nach wie vor tributpflichtig, greift er zum Verbrechen, zwingt er mich zur Beihilfe

»Elisabeth! – Deine Flucht vor der Polizei?«

»Ja, ich will mich ihr für die nächsten Tage entziehen, um keine Erklärungen geben, keine Enthüllungen machen zu müssen, ehe ich den äußersten Versuch gemacht, den angerichteten Schaden auszugleichen, uns ein für allemal loszukaufen von Karamanoff und seinen Genossen.«

Und Lisaweta erzählte der Ehrwürdigen von ihren Berliner Erlebnissen, vom Schriftendiebstahl, vom Verschwinden ihres Schmuckes, von Karamanoffs Forderungen, von Meidler und von ihrem Zusammentreffen mit Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin, von den Sorgen und dem erwachenden Mißtrauen der Ihrigen, endlich von Polizeikommissar Jelbermayers Besuch in Fiume.

»Scheragin,« fuhr sie hierauf fort, »hält es für wahrscheinlich, daß die »Menschenretter« identisch sind mit dem »Erlöserbund«, den die Polizei gelegentlich der Suche nach dem Mörder seines Bruders aufgespürt und aufgehoben hat. Er setzte, sich aus achtundzwanzig »Bundesbrüdern« zusammen, von denen nur fünf der Verhaftung und Bestrafung entgingen.«

»Wo sind denn Eures Peinigers Genossen?«

»Die Entronnenen werden neue Mitglieder geworben haben. Ideen, wie sie sie vertreten, finden in Rußland immer wieder neue Anhänger. Die näheren Umstände will der Staatsrat ermitteln. Die Petersburger Polizei arbeitet in aller Stille für ihn, in Wien ist er selbst tätig, und seinen spärlichen Nachrichten zufolge mit bestem Erfolg. Welche Maßregeln er ergriffen hat, ist mir unbekannt, und ich bin darüber nicht ganz beruhigt. Wie diese Dinge lagen, blieb mir indessen keine Wahl, als ihn beizuziehen. Meine Mittel erschöpfen sich allmählich. Karamanoffs Ansprüche wachsen stetig. Ich sah den Tag kommen, wo ich außerstande sein würde, sie zu befriedigen, und ich mußte mich fragen: »Was dann?« – Ich fand nur die Antwort: »Dann werden sie es mit uns wahrscheinlich ebenso machen, wie sie es mit dem armen Paul Scheragin gemacht haben. Leute, die keinen entsprechenden Nutzen mehr bringen, wohl aber weit mehr wissen, als wünschenswert ist, werden von solchen Menschen nur als lästiger Ballast empfunden, dessen man sich schnellstens entledigen muß.

Trotz dieser Erkenntnis würde ich mit einem entscheidenden Schritt aber doch wohl bis zum äußersten gewartet haben ohne den Zwischenfall mit Graf Hartens Papieren. Er gab den Ausschlag. Geld durfte ich geben, soviel ich wollte, solange mein eigenes Vermögen und die Beträge ausreichten, die mein Mann mir zur Verfügung stellte. Zur Unterstützung verbrecherischer Handlungen, wenn auch nur zur passiven, durfte ich mich dagegen nicht hergeben, denn die beschmutzte nicht nur mich selbst, auch meines Mannes Namen würde dadurch in den Schmutz gezogen.

So rüttelte mich der Aktendiebstahl unter meinen Augen aus der Tatlosigkeit der bangen Sorge um Alexanders Leben. Mein erster Schritt war Basils Entsendung zu Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin. Der zweite, daß ich eines der ersten Privatdetektivinstitute von Wien mit Karamanoffs Ueberwachung betraute, um die Personen zu erfahren, mit denen er in persönlichem und in Briefverkehr stand, um zu erfahren, wohin die Gelder abfließen, die ich ihm gebe. Es konnten für Scheragin nützliche Anhaltspunkte werden. Endlich übertrug ich dem gleichen Bureau die intensive Bewachung des Fürsten zum Schutz gegen etwaige meuchelmörderische Angriffe. Ihm selbst aber schrieb ich einiges über Karamanoffs erpresserisches Treiben und bat ihn, um seiner persönlichen Sicherheit und meiner Beruhigung willen, Paris auf der Stelle zu verlassen und bis zur gänzlichen Klärung der Angelegenheit durch seinen Vater sich an irgendeinen entfernten Punkt zurückzuziehen, wo niemand ihn vermuten würde.

Alexander erfüllte mir auch diese Bitte und vielleicht hätte alles einen glatten Verlauf genommen, würde ich jetzt nicht von der Wiener Polizei so gedrängt und bedrängt. Durch ihre Agenten sind ihr meine Beziehungen zu Karamanoff, sind ihr Bruchstücke meiner Unterredungen mit ihm bekannt geworden. Sie weiß zu viel und zu wenig, es reicht gerade, um ein verzerrtes Bild entstehen zu lassen, und ich bin nicht sicher, ob sie mich nicht selbst für die Diebin der diplomatischen Note hält.«

»Das ist ja schrecklich, Elisabeth! Es kann für dich wie für deinen Mann die unangenehmsten Folgen haben, zu einem Skandal führen!« jammerte die Ehrwürdige. tief erschüttert durch der Fürstin Erzählung.

»Das kann es, doch hoffe ich noch immer, mit Karamanoff zu einem Abkommen zu gelangen, das mich der Notwendigkeit enthebt, der Polizei unsere ganze Leidensgeschichte aufzutischen und einen Sterbenden ans Messer zu liefern.«

»Und du hältst es für möglich?«

»Jedenfalls nicht für unmöglich. Nur muß ich von den Agenten unbemerkt fort und nach Wien kommen, muß dort wenigstens einen Tag mich bewegen können, ohne daß mir einer nachläuft. Die Hoffnung auf deinen Beistand hat mich hierher geführt. Erschrick nicht – was ich brauche und erbitte, ist wenig. Du sollst mich nur in Eure Lebensgewohnheiten, das heißt, in den Gang Eures Tagewerkes einweihen. Du sollst mir erlauben, mich in den Gebäuden, den Höfen und Gärten der Anstalt frei zu bewegen« sagte Lisaweta.

Die Ehrwürdige schaute ihr mit einem langen, fragenden Blick in die Augen. Viel verlangte die Fürstin wirklich nicht und dennoch war ein ängstliches Zögern in ihr.

»Was hast du vor?« fragte sie endlich bündig,

»Es ist besser, du weißt es nicht.«

»Dann kann ich dir auch die Gewährung deiner Wünsche nicht zusagen.«

»Gut. – Als Bäuerin verkleidet, als gebücktes Mütterchen will ich aus diesem Hause gehen.«

Die Oberin nickte.

»Morgen gegen zehn Uhr schicke ich die Schwester Severina. Sie wird deine Führerin durch unsere Gebäulichkeiten sein, sie wird dich mit unserer Tagesordnung bekannt machen, sie wird dir sagen, was du zu wissen wünschest. – Eins aber versprich mir – sollte es dir auch gelingen, diesen Karamanoff zur Herausgabe der gestohlenen Papiere zu bestimmen, sollte die Polizei sich mit ihrer Wiedererlangung zufrieden geben. Du wirst freiwillig sagen, daß du Zeugin des Diebstahls warst –«

»O, das möchte ich ja gerade vermeiden, Uli –«

»Du möchtest, darfst es aber nicht. Jedes Anrecht fordert eine Sühne, und ein Anrecht war dein Schweigen und Hehlen immerhin, wenn die Umstände es auch erklären und abschwächen,« erwiderte die Frau Mutter ernst.

Lisaweta verweilte eine Weile im Nachdenken, dann sagte sie stöhnend: »Ich kann nicht, recht hast du, das weiß ich, und doch darf ich nicht, wie du willst, denn es würde sofortige Maßregeln gegen Lenowostowoi zur Folge haben, ich müßte als Zeugin auftreten, und die Rache dafür würde Alexander treffen. Nein, ich verzichte auf deinen Beistand, ich fahre morgen früh frank und frei nach Wien.«

Begütigend legte die Barmherzige die Hand auf ihren Arm, wobei sie sagte: »Du bist viel zu aufgeregt, Elisabeth!«

»Wenn du Unmögliches verlangst, kann ich es dir nicht versprechen. Ich sagte dir schon einmal, daß die Polizei beim besten Willen, an dem ich nicht zweifle, unfähig ist, meinen Mann vor dem Dolche des Meuchelmörders zu schützen, du aber kommst wieder darauf zurück! – Meinst du, es kostet mir keine Ueberwindung, beständig zu lügen und zu heucheln? – Aber ich muß es, denn es handelt sich um Alexander!«

Mit bebenden Lippen hatte die Fürstin gesprochen und in ihren so bewegten Mienen prägte sich überwältigender Jammer aus.

Ein kleines Schweigen trat ein, dann sagte die Oberin: »Gut ich will von dieser Forderung abstehen. wenn du mir versprichst, deinen Beichtvater zu befragen.«

Abermals überlegte die andere, ehe sie nickend sagte: »Das verspreche ich dir.«

»Und deiner Mutter mußt du morgen in aller Frühe telegraphieren, damit sie und der Herr Feldzeugmeister wissen, wo du bist, und daß keine Gefahren dir drohen. Es war sehr unrecht, daß du heimlich fortgingst, sehr unrecht, denn du kannst dir denken, in welcher Angst und Aufregung sie sind.«

»Ich habe der Nadascha meine Aufträge für sie gegeben. Nachricht sollen sie morgen aber erhalten. Uebrigens ist es leicht zu sagen: das und jenes hättest du nicht tun dürfen, ob man anders handeln konnte, danach fragst du nicht. Ich aber sage dir, ich konnte nicht anders!«

Die Oberin senkte den Kopf.

»Du hast recht, Elisabeth – verdammen ist leicht, die Lage eines anderen richtig beurteilen, sehr schwer – vielleicht unmöglich. – Geh gleich zur Ruhe, du bist ihrer bedürftig, und schlaf morgen gründlich aus. Gottes Rat und Segen seien mit dir! Gute Nacht.«

Sie machte über Lisaweta das Zeichen des Kreuzes und glitt lautlos davon.

*

Es ging stark zum Abend des folgenden Tages. Die duftigen Dämmerschleier legten sich sachte in die alten, engen Straßen der Stadt, die sich krumm und schief, kreuz und quer ziehen, sie legten sich über die weiten freundlichen Plätze, und nur über den gebrochenen Befestigungswerken des rebenumzogenen Schloßberges leuchteten noch die letzten Sonnenstrahlen, ihren Widerschein in den dunkelgrünen Fluß werfend, der rauschend an seinem breiten Fuß vorüberzieht. Ein Frühlingsabend voll süßen Friedens.

Als es halb acht Uhr schlug, öffnete sich das eisenbeschlagene Eichenpförtchen der Kapelle der Barmherzigen Schwestern, und aus seinem wie ein Schmuckkästchen blinkenden Innern strömten, noch vom Weihrauchdufte umweht, die andächtigen Beter, etwa hundert an der Zahl. Sie hatten dem täglichen Abendsegen beigewohnt und zerstreuten sich jetzt durch die Straßen.

Mitten im ersten, im dicksten Schwarm humpelte an einem derben Eichenstocke ein Mütterchen vom Lande, dem kurze, graue Haarsträhnen unter dem schwarzseidenen Kopftuch hervorhingen. Die eine, durch die Franzen des buntgeblümten Brusttuches fast ganz verdeckte Hand mit Gebetbuch und Rosenkranz gegen die Brust gedrückt, schritt sie mühselig davon, als wollten die in blauen Baumwollstrümpfen und Bundschuhen steckenden Füße sie nicht mehr tragen, mit dem Stocke aber tastete sie trotz der großen Hornbrille, zuweilen den Weg suchend, an den Mauern der Häuser entlang. Ab und zu blieb sie auch, neue Kräfte sammelnd, stehen, sah sich um und ging dann wieder langsam und müde weiter.

So trieb sie es eine starke Viertelstunde, bis sie etliche Straßen von der Kapelle entfernt, zu einem Einspänner-Standplatz gelangte. Hier blieb sie wieder stehen, schaute wieder rund umher, dann trat sie an einen der Mietwagen heran, dessen Lenker träge neben seinem träumenden Pferds lehnte und fragte: »Was kost's bis zum Bahnhof?«

Der Kutscher sah sich die gebrechliche, am Stocke schwankende Gestalt von oben bis unten an, dann antwortete er gutmütig: »Für Enk bloß fufz'g Heller. Wohin geht die Reise?«

»Heim.«

»Und wo seid's doham?«

»Z' Höflach.«

»Na, dös is net arg weit. – Steigt's ein, Mütterl!«

Und gehalten und geschoben von dem mitleidigen Kutscher kletterte die Frau ächzend in den Wagen. Zwei Minuten später zog das alte Pferd an und das Gefährt rollte behaglich vom Platze, dem Bahnhof zu.

Die Bäuerin lehnte sich aufschluchzend in die Kissen zurück, faltete die Hände und sprach flüsternd, aus tiefstem, andachtsvoll gesinntem Herzen heraus: »Guter Gott, der du mich so sicher geführt hast, ich danke dir tausend- und tausendmal!«

Nicht einmal einen einzigen flüchtigen Blick hatte der vor dem Hause der Barmherzigen patrouillierende Geheimagent für das humpelnde Weiblein in der Landestracht gehabt.

»Es soll mir ein gutes Omen sein für meinen morgigen Gang zu Karamanoff,« dachte Lisaweta.


 << zurück weiter >>