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7. [6]

War der »Narrendoktor«, wie Karamanoff richtig vermutet, auch ein Nervenarzt, im allgemeinen hatte der Portier nicht stark übertrieben, Fürstin Lisawetas Zustand war schon seit länger als einer Woche ein sehr übler, eigentümlicher.

Das heftige Fieber der ersten Tage war zwar bald wieder erloschen, ihm aber war eine Apathie, eine Erschlaffung gefolgt, die dem Arzt ernstliche Besorgnisse einflößte. Sie nahm nur gezwungen ein bißchen Nahrung zu sich, sie verbrachte die Tage wie die Nächte in einem düsteren Sinnen, das nur in langen Zwischenpausen von einem kurzen unruhigen Schlummer unterbrochen wurde.

Das Einzige, wofür Lisaweta noch einiges Interesse zu erkennen gab, waren die Briefe ihres Mannes und die ihrer Mutter. Zu jeder Postzeit fragte sie danach, und sie wurden stets gelesen, wenn auch nur flüchtig. Dann aber ließ sie sich wieder in die Kissen zurückfallen und lag stundenlang regungslos auf dem gleichen Flecke. Wurde ihr eine Frage vorgelegt, so kam es vor, daß sie überhaupt nicht antwortete, oder so konfus, als hätte sie nicht verstanden.

Nadascha hätte dann allemal in Tränen ausbrechen mögen, denn die Fürstin war sonst immer voll und ganz bei der Sache. Und daß sie seit ihrer Erkrankung kein einzigesmal nach Karamanoff gefragt, ihr auch nicht gesagt hatte, wie Graf Scheragins Antwort auf ihre Frage wegen der Berliner Zusammenkunft lautete, obgleich schon die heutige Frühpost sie gebracht, war so ungewöhnlich, daß sich die Sorgen der Kammerfrau steigerten, allerlei Schreckbilder vor ihr aufstiegen.

Wenn die geistige Verfassung der Fürstin Not gelitten hätte unter dem Jammer der letzten Jahre, unter den schlimmeren Aufregungen der jüngsten Wochen? In Berlin mußte sie etwas ganz Entsetzliches erlebt haben, ihre Fieberreden hatten es verraten!

Die kinderlose Frau hing mit mütterlicher Zärtlichkeit an Lisaweta, und die Vorstellung, sie könnte in geistige Nacht versinken, goß Verzweiflung in ihre Seele. –

Seit Stunden saß sie still neben ihr, die mit geschlossenen Augen auf der Chaiselongue lag, und machte nur von Zeit zu Zeit das Zeichen des Kreuzes über sie, immer dreimal hintereinander. Dabei flehte sie aus angstgepreßter Brust: »Rette sie, Allerbarmer, – nimm mich für sie, ich bin doch zu nichts mehr nütze!«

Zwischen diese heißen Bitten hinein brachte sie aber auch wieder Verwünschungen gegen Karamanoff, der dieses Elend heraufbeschworen, der die Fürstin noch in den Tod oder in den Wahnsinn hetzen werde, – dieser Vampyr! – dieses Scheusal! –

Ueber Lisawetas halbgeöffnete Lippen drang ein leiser Laut. – War es ein Seufzer – ein Stöhnen? Sie vermochte es nicht festzustellen, aber es brachte sie noch ärger auf gegen den Russen.

»Fluch über ihn! – dreimal Fluch!« flüsterte sie, sich nachgebend, die Hand erhoben wie zur Beschwörung.

Lisaweta sah und hörte nichts davon trotz der jetzt weit offenen Augen.

Einen Augenblick später wieder gelobte Nadascha der Muttergottes von Kasan sechs zehnpfündige Wachskerzen, wenn die Fürstin ohne Schaden aus dieser Krankheit hervorgehe.

So trieb sie es fort, bis es neun Uhr schlug.

Gleich danach legte sich eine weiche Hand auf die ihrige, und sie vernahm Lisawetas Stimme: »Besinne dich doch, meine gute Alte – Bitten, Verwünschungen, Gelübde, das geht bei dir alles durcheinander wie Kraut und Rüben!«

Sie hatte es hell und klar gesagt, wie sonst, es war nicht mehr das verschleierte Geflüster der letzten Zeit.

Ein noch zagender Freudenschauer bebte durch Nadascha, ihr war, als erlebte sie ein Wunder!

»Mütterchen Maria Lisaweta! – Herzchen! – Täubchen!« stotterte sie schwankenden Tones.

Die Fürstin schaute sie aus hellen Augen an.

»Ruhe, Nadascha, Ruhe! – Mit mir bin ich jetzt im Reinen, meine Entschließungen sind gefaßt, und so Gott will, soll es in absehbarer Zeit besser werden. So wie bisher, mache ich nicht mehr weiter! – Wie spät ist's?«

Die Frau wußte nicht, was sie von dem plötzlichen Wiederaufleben ihrer Herrin denken sollte. Eben noch wie in einer Betäubung, und jetzt, ohne jeden Uebergang, von einer Sekunde zur anderen, diese Reden, diese Klarheit!

»In fünf Minuten ein Viertel nach neun,« stotterte sie, noch immer von den bangsten Zweifeln hin- und hergezogen.

»Dann habe ich noch viel Zeit vor mir, bis es heller Tag wird.«

Lisaweta schloß die Augen und lag wieder so still wie bis vorhin.

Die Angst in der alten Kammerfrau bewegte sich wieder in neuen Sprüngen aufwärts.

Hatte sich nur ein kurzer, vergänglicher Sonnenblick gezeigt, zogen schon wieder Wolken herauf, drohende Schattenträger?

In sanfter Berührung glitt ihre Hand über der Fürstin Stirn.

Da schlug diese die Augen auf und lächelte ihr altes freundliches Lächeln.

»Hat Mütterchen Maria Lisaweta für morgen etwas besonders vor?« fragte sie ängstlich forschend, denn die Fürstin kam ihr noch immer anders vor als sonst.

»Für morgen, ja. Aber heute gibt es auch noch zu tun, ich muß an den Fürsten schreiben. Du kannst mir hernach alles dazu richten. – Auch mit dir habe ich noch zu reden.«

Nadascha fühlte sich ihrer Sorgen durchaus nicht enthoben. Zwar sprach die Herrin nicht konfus, aber sonderbar war, was sie sagte und auch wie sie es sagte – so abwechselnd, so halb wie im Traume.

Großer Gott – wenn – wenn –

Das Herz der Kammerfrau tat wilde Schläge, sie spürte sie im Halse, sie äußerten sich in dem Gehämmer der Schläfen.

Die Orlowski hatte indessen überlegt, jetzt sagte sie: »Gib mir etwas zu essen.«

»Was befiehlt Mütterchen Maria Lisaweta?« stammelte die Alte in steigender Angst.

»Was sich in der Küche findet, mir ist's gleichgültig.«

»Ich will nachsehen, ob der Koch zu Hause ist. Er oder die Leni sollen –«

»Gar nichts sollen sie, meine Alte. Du läßt die Leute, wo sie sind und bringst mir, was da ist. Ein paar Bissen kaltes Fleisch und eine Tasse Tee.«

»Mütterchen Maria Lisaweta, Tee hat der Doktor streng verboten –«

»Bring ihn nur,« und der alten Frau zum erstenmal voll ins Gesicht schauend, fragte sie: »Sag, was ist's mit dir? Du bist so sonderbar und siehst so sonderbar aus!«

Diese Frage brach den Damm, hinter dem sich Nadaschas Tränen gestaut hatten und schluchzend fragte sie: »Mütterchen, ist dir's wieder wohl – bist du nicht mehr krank?«

Im ersten Augenblick sah Lisaweta völlig verständnislos aus, mit einemmal aber ging ein sanftes Leuchten durch ihr zartes, blasses Gesicht und die Hand der Frau fassend, sagte sie gütig: »Mach dir keine Sorgen, meine Alte, mir ist's soweit wieder ganz wohl und hier oben,« dabei tippte sie gegen ihre Stirn, »ist auch alles in Ordnung. – Daß ich dir während der letzten Tage sonderbar vorkam, kann ich mir denken. Es gibt eben Stimmungen, über die man keine Herrschaft hat, und es gibt Dinge, die sich erst in uns selbst klären müssen, ehe man sie besprechen kann, die uns derart in ihren Bann zwingen, daß scheinbar für nichts anderes mehr Raum in uns ist. – Jetzt weißt du, warum ich anders war, als du mich kennst. Ich habe einen furchtbaren Kampf gekämpft, bis ich mich zu dem Entschluß durchgearbeitet, der jetzt feststeht. Du wirst alles erfahren, wenn auch nicht heute. – Geh jetzt, mir etwas Essen besorgen.«

Im Innersten erschüttert, nickte Nadascha. Ehe sie hinausging, um den ihr gewordenen Auftrag auszuführen, warf sie aber doch noch einen Blick auf ihre Dame, auf ihr »Goldseelchen.«

»Nein, Mütterchens Geist hatte nicht gelitten. Sie sah so gut, so klar und gesammelt aus wie sonst, sie hatte wieder ihr »altes Gesicht.« Etwas blässer noch, etwas schmäler, noch ernster als sonst, aber doch das alte, liebe Gewohnte. Sie aber hatte entsetzlich gelitten, ihre Seele!

Was sie wohl erlebt haben mochte zwischen dem Tage ihrer Abreise nach Berlin und dem ihrer Rückkehr? – Etwas Entsetzliches jedenfalls, denn es hatte ihr das schwere Fieber zugezogen, das der Arzt zuerst für den Vorläufer einer Gehirnentzündung gehalten hatte! –

Lisaweta bedurfte keiner langen Zeit zu ihrer kleinen Mahlzeit, und es war noch nicht viel über zehn Uhr, als sie auf dem über die Chaiselongue geschobenen Krankentisch das erforderliche Schreibmaterial ordnete, um den Brief an ihren Mann zu beginnen.

»Wird das lange Ausbleiben Mütterchen Maria Lisaweta nicht zu arg angreifen? Sie ist jetzt alle Tage gleich nach neun Uhr zur Ruhe gegangen, und sie war doch auch krank«, gab die Kammerfrau ihren Besorgnissen Ausdruck.

»Nein,« erwiderte sie freundlich, »das Ausbleiben und Schreiben ist bei weitem nicht so anstrengend, als das fortwährende Denken, Erwägen und die nervenquälenden Zweifel. Ist der Brief fertig und habe ich das Notwendige mit dir besprochen, so lege ich mich hin und denke an nichts mehr. Das habe ich mir fest vorgenommen. – Du könntest jetzt nebenan zu der barmherzigen Schwester gehen und dafür sorgen, daß sie nicht hier hereinkommt. Wenn ich fertig bin, rufe ich dich.«

Es war eine schwere Geduldsprobe für Nadascha, denn Stunde nach Stunde verging, ohne daß sich im Schlafzimmer der Fürstin ein Laut erhob, und mehr als einmal schlich sie sich zur Verbindungstür, preßte das Ohr dagegen und lauschte mit angehaltenem Atem hinein. Doch auch dann blieb alles still.

Auch der Nonne fiel die tiefe Stille auf, die kein einziges Mal unterbrochen wurde, und nach Mitternacht schlug sie vor: »Eins von uns sollte doch nachsehen, es kann Ihrer Durchlaucht schlecht geworden sein.«

Die alte Frau hätte diesen Rat gern befolgt, Mütterchen wollte aber allein sein.

Darum antwortete sie: »Wir müssen so lange als möglich warten, sie will nicht gestört sein,«

Und als sie darauf wieder zur Tür schlich, um zu horchen, hörte sie durch das Holz hindurch deutlich das Knistern von Papier. – Mütterchen schrieb noch.

Kurz nach ein Uhr nachts wurde endlich der ersehnte Ruf hörbar.

»Gute Nacht, Schwester. Legen Sie sich hin und schlafen Sie ruhig, ich bleibe wieder bei meiner Durchlaucht,« sagte sie rasch und verschwand hinter der Türe.

Lisaweta hatte die Chaiselongue verlassen und stand mitten im Zimmer, einen großen Brief und einen Schlüsselring in der Hand.

»Hier,« sagte sie und streckte beides der Eintretenden entgegen. »Leg den Brief in die Kasse, schließ sie gut zu und komm dann gleich wieder.«

Nadascha bekam böse Ahnungen. Etwas Außerordentliches mußte sich vorbereiten, und das Außerordentliche war allemal etwas sehr Schlimmes. – Einen Brief an den Fürsten in die Feuerfeste schließen! Das war noch nicht dagewesen.

Die Fürstin hatte indessen die Kleider abgestreift und sich zur Ruhe begeben. Sie war doch sehr müde geworden und sah nun selbst, daß sie sich noch nicht wieder zumuten durfte, was sie in gesunden Tagen ohne jede Beschwerde ertrug.

»Ganz so wie ich möchte, will es noch nicht gehen, und meine Absicht, schon in den nächsten Tagen zur Mama nach Fiume zu fahren, wird wohl unausgeführt bleiben. Ende der Woche, spätestens Sonntag, gehen wir aber unter allen Umständen,« sagte sie zu der zurückkehrenden Kammerfrau.

»Wenn Mütterchen Maria Lisaweta bis dahin soweit ist, daß sie die lange Reise ohne Nachteil ertragen kann«, schränkte diese ein, die abgeworfenen Kleider vom Boden raffend.

»Bis dahin muß ich soweit sein, meine Alte, denn ich bestelle Nikolaus Nikolajewitsch nach Fiume,« erwiderte Lisaweta.

Ein Freudenschrei überstrahlte das feinzügige Runzelgesicht.

»Mütterchen schreibt dem Herrn Grafen?« rief Nadascha hastig.

»Nein, ich gebe keinen Brief mit, es ist etwas in mir, was dagegen spricht, was mich warnt. Aber Basil soll sich noch diesen Vormittag mit einer mündlichen Botschaft zu Scheragin auf den Weg machen. Wie er schreibt, ist er für die nächsten Wochen in Petersburg festgelegt, wodurch die Reise sehr vereinfacht wird.«

»Wird Mütterchen Maria Lisaweta ungehalten sein, wenn ich frage, was der Herr Graf sonst noch schreibt – ich meine, wegen der Depeschen?« fragte Nadascha, der es schwer auflag, daß sie über diesen Punkt sich noch im Unklaren befand.

»Er hat sie nicht abgeschickt und ist empört über diesen Bubenstreich, wie er sich ausdrückt. –«

»'s ist Schlimmeres, Mütterchen Maria Lisaweta, es ist ein Schurkenstreich, und Herr Karamanoff hat ihn begangen, den Gott in die unterste seiner Höllen werfen möge!« rief die Kammerfrau grimmig.

»Laß das, Alte, keine Verwünschungen gegen einen verlorenen Mann!«

»Wieso verloren –?« und sie horchte begierig auf.

»Karamanoff ist schwer krank, ich bezweifle, daß er noch ein Jahr zu leben hat. – Basils Reise wird auffallen und darf es doch nicht – wie wollen wir sie den anderen erklären, daß sie nichts Ungewöhnliches dahinter suchen – hast du eins Idee?«

»Nein,« antwortete die Frau, »aber ich werde eine haben, eine gute, glaubbare, und zwar ehe es heller Tag wird. Mütterchen Maria Lisaweta mag ruhig schlafen, ich suche, und ich finde.«

»Und du sorgst auch dafür, daß er sich reisefertig macht und mit einem Vormittagszug fortkommt? Er muß aber einen Umweg machen, darf nicht in der Richtung Petersburg abfahren. Es ist wegen Karamanoff, dessen Mißtrauen niemals schläft. Er kann Kenntnis erlangen von seiner Abwesenheit, und es ist nicht vorherzusehen, welche Spürwege er dann einschlägt, um Ziel und Zweck der Reise zu erkundigen.«

»Gut, gut, ich will auch daran denken. – Jetzt aber soll Mütterchen Maria Lisaweta schlafen. Ich drehe die Lampen aus,« sagte Nadascha drängend.

Damit wollte sie aufstehen.

»Bleib noch – ich habe noch etwas anderes für dich,« sagte jedoch die Fürstin. »Ist dir das Detektivinstitut Prosse bekannt?«

»Ich habe schon davon gehört.«

»Du sollst hingehen und einen Auftrag ausrichten. Es ist in der Renngasse, die Hausnummer weiß ich nicht, doch kommt darauf nichts an. Es wird wohl ein Schild am Hause angebracht sein. Wenn nicht, wird man dir in jedem anderen Auskunft geben können. – Du verlangst den Chef persönlich zu sprechen, nennst aber nur ihm selbst Namen.«

Da Lisaweta eine kleine Pause machte und ihr Blick ein fragender war, sagte die alte Frau: »Ja, Mütterchen, ich habs verstanden.«

»Zu Herrn Prosse sagst du, ich erbäte mir seinen baldigsten Besuch, doch in Verkleidung, denn es läge in der Sache begründet, daß er nicht bei mir gesehen werden dürfte. Ferner sagst du: ich bedürfte eines streng zuverlässigen, verschwiegenen Mannes, der womöglich noch heute nach Paris abreisen und längere Zeit dort verweilen kann. – Wirst du dir alles das merken, Nadascha, nichts verwechseln, nichts vergessen?«

»Nein, Mütterchen Maria Lisaweta – ich merke mir alles – und – und richte auch keine Konfusion an. – Wer – aber – ich bin ja nur deine Dienerin – aber, ein Detektiv nach Paris?«

Die Alte starrte Lisaweta in maßlosem Entsetzen an.

Diese nickte traurig.

»Er soll dem Fürsten meinen Brief bringen, den ich so wenig wie einen an Scheragin der Post übergeben will, und dann soll er zusammen mit französischen Kollegen, die er sich selbst wählen mag, Alexander Alexandrowitsch vor jeder Berührung mit Karamanoffs Genossen und Handlangern bewahren, damit es ihnen unmöglich wird, ihre versteckte Drohung zu verwirklichen –«

Die alte Frau zitterte jetzt am ganzen Körper so heftig, daß es war, als hätte sie ein Schüttelfrost befallen.

»Großer Gott, Herrin, was ist geschehen? – Laß mich nicht vergehen in Angst!« stotterte die alte Frau in einer Aufregung, die ihrer Stimme fast bis zur Unverständlichkeit jeden Klang raubte.

Lisaweta zog sie dicht zu sich nieder und flüsterte in ihr Ohr: »Bis an den Rand des Verbrechens hat er mich gedrängt – nein, noch mehr, zur Hehlerin hat er mich gemacht, zur Zeugin eines von ihm veranlaßten Verbrechens, die lügen, die sagen muß, daß sie nichts gesehen hat, nichts weiß! – Und werde ich in die Notwendigkeit versetzt, zu schwören – was dann? – Dann stehe ich vor der Wahl, einen Meineid zu leisten oder mich selbst als Lügnerin erkennen zu geben!«

Auch über sie war wieder eine wachsende Erregung gekommen. Ihre Stimme bebte, ihr Gesicht zeigte einen unnatürlich gespannten Ausdruck. Es war der Zwang, den sie sich auferlegte, um äußerlich ruhig zu bleiben.

»Täubchen! – Goldseelchen!«

Mehr als diese beiden Kosenamen brachte Nadascha vorläufig nicht über die Lippen. Sie war fassungslos, das Entsetzen, das die Lippen verschließt, das die Denktätigkeit aufhebt, war in ihre Seele eingezogen, starrte aus ihren Augen.

Um so heftiger war der nun folgende Ausbruch.

»Dieser Sohn einer Wölfin! – Dieser Teufel!« keuchte sie halblaut, erstickt.

Dann lehnte sie sich in den Stuhl zurück, überwältigt von Zorn und Empörung, die sich nicht laut Luft machen durften, denn im Nebenzimmer saß die barmherzige Schwester.

Lisaweta nahm ihre Hand und drückte sie herzlich.

»Laß gut sein, meine Alte –«

»Gut sein lassen, wenn dieser räudige Hund dich auch noch verderben will, dich, die du ein Engel bist –«

»Ruhe! – Ruhe! Jetzt ist sein Maß voll – jetzt wehre ich mich! Du siehst, ich bin dabei die ersten Schritte zu tun, die Maßregeln zu ergreifen, die Professor Czermak mir anempfohlen hat. – Seine Berufung hat dich erschreckt – nicht wahr? Weil in seiner Privatklinik auch Geistesgestörte Aufnahme finden, dachtest –«

»Nichts habe ich gedacht. Mütterchen. Maria Lisaweta, bloß eine furchtbare Angst habe ich ausgestanden!« schluchzte die Kammerfrau.

»Aber ohne Grund, liebe gute Alte. Unser alter Doktor hat den Czermak auf meine Bitte mitgebracht. Ich wollte seinen Rat. Nicht wegen meiner Krankheit, nur wegen der gräßlichen Lage, in die ich mich versetzt sah, und wenn der Hausarzt ihn beizog, war es weit weniger auffallend, als wenn ich selbst ihn gerufen hätte. Er aber ist der einzige Mensch in ganz Wien, dem ich mich in dieser schweren Not unbedenklich und rückhaltlos anvertrauen konnte; denn er war ein Studienfreund meines Vaters, er ist ein Mann von hohem Ruf und von sehr großer Erfahrung. Meine auf ihn gesetzten Hoffnungen haben mich auch nicht betrogen, er zeigte mir die Wege, die ich gehen muß, um den Kampf mit Karamanoff ohne zu große Gefahr aufzunehmen. Morgen sage ich dir das Weitere. Jetzt ist's zu spät dazu, auch habs ich seit allen diesen Tagen wieder zum erstenmal richtigen Schlaf. Gute Nacht. Vergiß mir nichts von dem, was ich dir aufgetragen habe.«

Ein paar Minuten später lag Lisaweta in tiefem Schlafe.

»Jetzt ist sie wieder sie selbst – jetzt hat's keine Gefahr mehr – Gott und seinen lieben Heiligen tausend Dank!« stieg es heiß empor in Nadaschas treuem Herzen.

Ganz sachte glitten die Stunden weiter. Die Fürstin schlief ohne Unterbrechung, ohne ein Zucken, sie schlief traumlosen Schlaf der Genesung.

»Wie ein glückliches Kind!« dachte die Kammerfrau gerührt. –

Es hatte noch nicht lange sieben geschlagen, als Nadascha im Bedientenzimmer erschien, in dem sich die fürstliche Dienerschaft zum Frühstück versammelt hatte. Auch der Kammerdiener Johann Bollinger saß bei den anderen. Als ein »geselliges Tierchen« machte er von dem Vorrecht, die Mahlzeiten allein auf seiner eigenen Stube einzunehmen, keinen Gebrauch.

Das Erscheinen der Kammerfrau zu dieser Stunde war etwas ganz Ungewohntes, und sofort schauten alle ihr in einer gewissen Spannung entgegen. Sie wendete sich aber sofort an den alten Basil, den Leibdiener der Fürstin, mit dem sie als Kind in ihrem Dorfe gespielt, mit dem sie zur Schule gegangen, mit dem sie im Orlowskischen Hause alt geworden war und mit dem sie sich auch vereinigte in der zähen, allumfassenden Anhänglichkeit an Mütterchen Maria Lisaweta und an Väterchen Alexander Alexandrowitsch.

»Basil,« fing sie an. »du mußt dich sogleich reisefertig machen. Unsere Durchlaucht hat einen Auftrag für dich, und es muß dir eine Ehre und eine Freude sein, daß ihre Wahl auf dich gefallen ist, wo es doch genug Jüngere und Klügere im Hause gibt,« sagte sie.

Der Alte nickte gleichmütig, ohne eine Frage zu stellen, ohne sich beim Essen stören zu lassen, wie es seine Art war.

Uebrigens wußte er schon Bescheid. Nach sechs Uhr hatte Nadascha ihn aus den Federn gepocht und ihn von der ihm zugedachten Mission unterrichtet. Sie hatte noch mehr getan, sie hatte ihm eingeprägt, was ihrer Meinung nach Scheragin über ihrer Dame Botschaft hinaus wissen mußte.

»Wohin soll's gehen?« erkundigte sich der Kammerdiener neugierig und witterte aufhorchend in die Luft, damit die anderen die kleine Komödie nicht merkten.

Auch die Tischgenossen hoben die über die Kaffeetassen gesenkten Nasen.

Nadascha kümmerte sich nicht darum und fuhr, zu Basil gewendet, fort: »Munter, Graubart, munter! 's ist eine schöne Erholung für dich. Du sollst mit einem mündlichen Auftrag an den Inspektor auf unserer Durchlaucht Gut Roszenau hinter Tihány, wo wir vor drei Jahren sechs Wochen gewesen sind. Durchlaucht ist noch zu angegriffen zum Schreiben.«

Basil nickte.

»Wohl, wohl. – Wie lange werde ich fort sein?«

»Acht bis zehn Tage; es dürften aber auch vierzehn draus werden.«

»Dann soll der Herr Basil wohl mit der Schneckenpost fahren!« mischte sich der Kammerdiener scherzend ein.

Und Nadascha scharf: »Wieso?«

»Weil's eins bequem in drei bis vier Tagen machen kann. Tihány liegt ja bloß ein paar Stunden von Arad.«

»Das meine ich doch auch,« brummte der Russe.

»Zur Fahrt brauchst du freilich nicht so lange,« erklärte Nadascha. »aber du mußt dich einige Tage auf dem Gute aushalten. Es ist was Geschäftliches, ein Verkauf, und der Herr Inspektor muß erst mit der anderen Partei verhandeln, ehe er dir für die Frau Fürstin Bescheid mitgeben kann.«

»Hm!«

»Murr nicht, alter Brummbär!«

»Tu ich doch gar nicht, alte Bißgurrn!«

»Wart, ich werde dir die alte Bißgurrn geben!« und die Kammerfrau stemmte die Arme herausfordernd in die Seiten.

Der Kammerdiener fiel auf die Komödie ebenso herein wie die übrigen Diener und Dienerinnen, für die das drohende Aneinandergeraten der beiden Russen, die fast immer ein Herz und ein Sinn waren, ein interessantes Schauspiel bot.

»Frau Nadascha – Herr Basil – Sie werden sich doch nicht in die Haare wollen – so alte Freunde – ich bitte Sie!« suchte Johann Bollinger zu vermitteln.

Dabei streckte er den Arm wie beschwörend gegen sie aus.

Ehe er die nahrhaftere Laufbahn eines Herrschaftsdieners eingeschlagen, hatte er zwei Jahre jugendlicher Liebhaber unter der Leitung eines Schmierendirektors gespielt und die Geste beherrschen gelernt.«

Seine Kunst schien sich auch diesmal zu bewähren, Basil war schon wieder die Gelassenheit selbst.

»Verlohnte sich nicht.« sagte er gemütlich. »Weiber und Gänse fühlen sich nicht wohl, wenn sie nicht ihren Schnabel klappern lassen. – In einer Stunde bin ich reisefertig, Nadascha, melde es unserer Durchlaucht. Soll ich zu ihr kommen oder bringst du mir meine Instruktionen?«

»Zu ihr sollst du kommen. Vorher aber schaust du noch den Eisenbahnfahrplan nach, wann ein Zug geht. Und,« dabei zog sie aus ihrem gesteiften, weißen Brusttuch ein Päckchen zusammengebundener Papiere heraus, »diesen Rechnungsauszug sollst du in deinen Koffer packen. Es ist der vom letzten Quartal, den Durchlaucht durchgesehen und genehmigt hat. Du bringst ihn dem Herrn Inspektor.«

Nadascha sprach noch immer in einem verdrossenen Tone und wendete sich zum Gehen, sowie der Alte ihr die Papiere abgenommen und sie in seine Faltenbluse geschoben hatte.

»Noch einen Augenblick, Frau Nadascha, wenn Sie so gut sein wollen. Wie ist heute das Befinden Ihrer Durchlaucht?« hielt der Kammerdiener sie zurück.

»Besser, Herr Johann, viel besser. Dank dem guten Vater im Himmel und seinen lieben Heiligen!« erwiderte sie und schlug dreimal das Kreuz in die Luft.

Nach ihrer Ueberzeugung wurden dadurch alle bösen Geister von der Fürstin ferngehalten.

»Wenn die Besserung nur anhält! Gestern soll's doch noch gar nicht gut gestanden haben, und ich habe mir sagen lassen, daß bei Kranken oft eine Scheinbesserung der Vorbote –«

»Wird der Teufel an die Wand gemalt, gleich kommt er selber gerannt! Drum kein Wort mehr davon!« knurrte der Russe mit einem grimmigen Blick auf den redseligen Bollinger.

Diesem schnurrte eine scharfe Antwort auf die Zunge. Das eigene Interesse hielt sie aber dort fest. War er dem Namen nach auch der erste Diener im Hause der erste Diener im Hause der Fürstin Orlowski, er wußte doch genau, daß in Wahrheit Basil es war, dem sie ihn ohne Ueberlegen opfern würde. Er mochte aber nicht geopfert werden, denn eine zweite so gute Stelle fand sich nicht so leicht wieder.

Er trank seinen Kaffee aus, dann sagte er wichtig: »Ich muß mich auch fertig machen, bin ja für neun Uhr auf's Sicherheitsbureau vorgeladen – zur Auskunftserteilung, wie's heißt. Natürlich ist's wegen dem gestohlenen Schmuck.«

»Natürlich,« sagte Anton. »An uns andere werden's auch noch kommen. Einmal ausfragen tut's nicht, man muß den Herren alles ein paarmal herunterhaspeln. Ja, ja, bald ma's mit der Polizei zu tun kriegt, hat ma seine leibliche Ruh' nimmer.«

Es war noch nicht halb neun, als Basil, ein Handköfferchen tragend, in einem dunkelbraunen pelzgefütterten Kaftan das Schlafzimmer der Fürstin Lisaweta verließ. Er hatte mehr als eine halbe Stunde drinnen zugebracht und war mit den genauesten Instruktionen versehen. Sie bezogen sich nicht allein auf das, was er dem Grafen Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin ausrichten sollte, auch für sein Verhalten während der Reise hatte er eingehende Weisungen erhalten. Er durfte nicht den direkten Weg einschlagen, mußte über Ungarn fahren und zunächst eine Fahrkarte bis Arad lösen.

Die Kammerfrau hatte ihn im Vorzimmer erwartet.

»Weißt du jetzt alles, hast du dir fest eingeprägt, was Mütterchen Maria Lisaweta sagte?« fragte sie mit examinatorischer Miene.

Basil nickte.

»Und weißt auch noch, was ich dir aufgetragen habe?« fuhr sie fort.

»Ja.«

»Ich täte mir aber doch Notizen machen, die kein anderer verstehen kann. Dein Weg ist weit und man vergißt leicht dies und das,« riet sie.

»Die Notizen sind in meinen Kopf hineingeschrieben und weiter werden keine gemacht. Mütterchen hat es strenge verboten und sie hat recht, wer weiß, was einem zustößt auf einer so weiten Reise –«

»Sei still, Basil, mach mir keine Angst!« wehrte die Kammerfrau unbehaglich ab.

Er bot ihr die Hand.

»Leb' wohl, Nadascha, und hoff auf gute Nachrichten. – Wachsen dem Grafen Nikolaus Nikolajewitsch keine Beine, nachdem ich mit ihm geredet habe, dann kann man ihn laufen lassen, ohne daß es ein Schaden wäre!«

Damit schüttelte er der alten Frau kräftig die Hand.

»So geh',« stotterte sie, einige Tränen hinunterschluckend, »geh' in Gottes Namen! Der Allmächtige und seine lieben Heiligen geleiten dich! – Rufe sie stündlich an, daß du ihren Segen gewinnst und dir kein Leid widerfährt,« und sie machte dreimal das Kreuzeszeichen über ihn, der mit tief gesenkter Stirn vor ihr stand.

Der Bediente Anton lachte, als er des Russen in dem langen schweren Pelze ansichtig wurde.

»Wollen's an den Nordpol, Herr Basil, daß Ihnen bei achtzehn Grad im Schatten so einmummeln?« fragte er scherzend.

»Tut nichts. Ein Pelz ist gut im Winter und nicht schlecht im Sommer,« war die lakonische Antwort.

Dann noch ein Handschlag, und der alte Mann zog die Flurtür hinter sich ins Schloß. –

Als Anton beim Mittagessen – Nadascha war die einzige, die nicht mit der Dienerschaft zusammen aß – die Pelzgeschichte zum Besten gab, schüttelte der Kammerdiener den Kopf.

»Wer weiß, wohin der Alte gereist ist! – Bei uns ist ein so komisches Haus – und 's wird noch alleweil komischer! Der Herr Kommissar Jelbermayer meint's auch.«

»Hat er's gesagt?« erkundigte sich das Stubenmädchen Rosa neugierig.

»Das braucht's nicht. Hat eins Menschenkenntnis, so sieht's, was ein anderer denkt, ohne daß es ein einziges Wörtel äußert,« erklärte Johann Bollinger selbstgefällig.


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