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11. [10]

Die verwitwete Baronin Tini Reichlingen-Stirrdorf, geborene Gräfin Stirrdorf, saß mit einer kostbaren Stickerei im sogenannten Glassalon der Villa Marina im Gebiete des Tersato bei Fiume.

Der Glassalon war eigentlich eine mit Glas eingebaute Veranda an der dem Meere zugekehrten Seite des Hauses, ein Mittelding zwischen einem Gartensaal und einem Wintergarten. Außer den buntgemalten Möbeln von japanischem Rohrgeflecht, den Lacktischchen und Schränkchen standen zu Gruppen geordnet ausländische Pflanzen, Sträucher und Bäume, meist Kinder der Tropen, die selbst in dem milden Klima von Fiume erst gegen Ende Mai der freien Luft ausgesetzt werden durften.

Eine breite Treppe von weißem Sandstein führte von der einstigen Veranda in die weitläufigen Gartenanlagen, die den Wohnbau an allen Seiten umschlossen.

Die Baronin, eine vornehm und noch sehr frisch aussehende Dame von einigen fünfzig Jahren, sah aufgeregt und mißgestimmt aus. Auch der gewohnte Arbeitseifer mangelte ihr, die Stickerei in ihren Händen machte keine rechten Fortschritte. Hatte sie ein paar Stiche gemacht, so ruhte die Nadel wieder und ihre Blicke, wandelten zu der altbronzenen Stutzuhr auf einem Lackschränkchen, dessen übergoldete Vögel und Blütenranken, die es niemals irgendwo gegeben, aus dem dunklen Grün breitblättriger Palmen hervorleuchteten. Wenn ihre Augen wieder zurückkehrten vom Zifferblatt, schüttelte sie jedesmal mit einer ärgerlichen Bewegung den Kopf.

Es schlug vier.

Das Ertönen des Schlagwerkes löste ein noch ungeduldigeres, noch verdrosseneres Kopfschütteln aus.

Die Nachmittagspost war vorbei, Lisaweta hatte wieder nichts von sich hören lassen. Seit Wochen wollte sie kommen, verschob aber ihren Besuch sozusagen von einem Tag zum anderen; für diesen Mittag hatte sie ihre Ankunft als unwiderruflich angemeldet, und nun war weder sie selbst noch, war ein Brief oder eine Depesche gekommen.

Zu rücksichtslos!. –

Dem Aerger folgte die Sorge.

Sollte sie krank geworden sein? Die nervösen Zustände von neulich waren vielleicht noch nicht gänzlich behoben, oder sie hatten sich wiederholt. – So gut wie man ihr damals die Erkrankung ihrer Tochter verschwiegen hatte, ebensogut konnte es jetzt wieder geschehen.

In der Ferne, vom Meere her, erhoben sich schrille Töne – das Dampfboot legte an. – Vielleicht hatte es eine Nachricht von Lisaweta an Bord. Die käme mit der Abendpost.

Trotz dieser freilich nur sehr unbestimmten Hoffnung legte sich die Sorge der Baronin nicht.

Nach einer Weile zog sie ein Notizbuch aus der Tasche, schrieb einige Zeilen auf ein leeres Blatt, löste es ab und drückte auf die vor ihr stehende Tischglocke.

Unglaublich – ein einziges Kind und der Aufregungen, der Sorgen und des Kummers kein Ende! Dabei war Lisaweta ein so seelengutes Ding! – Wie mochte es wohl Leuten gehen, die fünf und sechs Kinder hatten? – Diese hatten sicher keine ruhige Stunde.

Eine ältliche Person glitt zwischen den Blumen und Sträuchern hervor in den Gartensalon – die Jungfer der Baronin.

»Gnäd' Frau Baronin befehlen!« fragte sie näherkommend.

Die Dame schaute um.

»Sie sind's, Kathrin!«

»'s ist niemand sonst in der Nähe.«

Die Reichlingen reichte ihr das abgelöste Notizblatt.

»Lassen Sie diese Depesche sofort aufs Telegraphenamt besorgen, Kathrin. Die Antwort wird bezahlt. Ich bin in Angst um meine Tochter, die Post hat wieder nichts gebracht.«

»Und Durchlaucht sind sonst so pünktlich im Schreiben. – Herr van der Nuisen bat heute schon zweimal fragen lassen, ob die Frau Fürstin angekommen wären und einen prachtvollen Rosenstrauß in echter Spitzenmanschette geschickt.«

Diese Meldung schien Frau von Reichlingen nicht besonders zu interessieren; sie nickte nur, sagte aber nichts weiter als: »Wer mit der Depesche geht, soll auf der Post nachfragen, ob nicht inzwischen etwas für uns gekommen ist.«

Als Katharine den Gartensalon durch die ins Haus führende, nur durch einen Faltenvorhang verschlossene Tür verließ, traf sie an der Schwelle mit einem großen alten Herrn in Zivil zusammen, dem der Offizier deutlich ausgeprägt war.

»Meine Schwägerin im Glashaus!« fragte er.

»Jawohl, Exzellenz.«

»Allein?«

»Die Fürstin ist also auch mit dem Boot nicht gekommen!«

»Jawohl, Exzellenz.«

»Ich glaube nicht, Exzellenz, sonst wären Durchlaucht wohl schon hier,« antwortete die Jungfer.

Der Feldzeugmeister, Baron Felix Reichlingen, ging an Katharine vorbei in den Gartensalon, von ihm kurzweg »Glashaus« genannt, und begrüßte die Witwe seines einzigen Bruders durch ein freundschaftliches Kopfnicken.

»Der Teufel weiß, was es mit der Lisaweta hat! Beim Zug 2.11 und bei dem 3.36 war ich am Bahnhof – keine Spur von ihr! Nachricht hat sie auch nicht zu geben geruht, und das ist doch ein starkes Stück, denn sie weiß, daß wir sie erwarten und uns danach einrichten,« sagte er.

Ich kann mir dieses Benehmen auch nicht erklären, kann mir nicht vorstellen, was daran schuld sein mag, wenn sie nicht etwa wieder krank ist,« antwortete die Reichlingen nervös.

»Du denkst immer gleich ans Kranksein! – Verrückt ist sie – total verrückt, und nicht erst jetzt! Sie waren kaum ein halbes Jahr in Wien, da fing die Komödie schon an und ging so sukzessive weiter!« knurrte der Feldzeugmeister, hinter einem mürrischen Ton und einer mürrischen Miene seine innere Unruhe verbergend.

Lisaweta, seine einzige Nichte und zugleich sein Patenkind, die er von ihren Lebenslagen zum blühenden Mädchen und zur glücklichen Frau sich hatte entwickeln sehen, war das Liebste, was er besaß. Der Aerger, den er zur Schau trug, war bloß der Schild, hinter dem sich die Angst um sie und ihr Wohl verbarg.

Seine Schwägerin nickte seufzend.

Ihr erging es nicht anders als dem Feldzeugmeister, auch sie wurde von einer immer wieder hervorbrechenden Sorge gequält. Sie verstand ihre Tochter nicht mehr, deren heutiges Ausbleiben und Schweigen nur eine weitere Unbegreiflichkeit in einer langen Reihe ähnlicher sonderbarer und unverständlicher Erscheinungen war.

Der alte Herr, der als einziger die Erlaubnis hatte, in sämtlichen gemeinschaftlichen Wohnräumen zu rauchen, da er sich unbehaglich fühlte ohne seine gewohnte Virginia, entzündete eines der langen, schwarzen Dinger, nachdem er das Stroh zuvor sorgfältig ausgezogen hatte, und verharrte dann in einem längeren Schweigen.

»Tini«, fing er an, ein feines Kräuseln der Rauchwölkchen ausblasend, »weißt du, was hinter all dem Unverständlichen in Lisawetas Handeln und Leben steckt? Ich frage dich auf Ehre und Gewissen!« Und des Feldzeugmeisters dunkle Auge bohrten sich in die ihrigen.

Dieses Fixieren setzte die Baronin nicht in Verlegenheit. Ruhig gab sie den Blick zurück und ruhig entgegnete sie: »Auf Ehre und Gewissen, lieber Felix, ich habe keine Ahnung. Daß sich aber etwas Besonderes dahinter birgt, ist auch meine Ueberzeugung. Was es sein mag, ich wollte, ich wüßte es. Diese Ungewißheit, dieses allen möglichen Vermutungen Ueberlassensein ist das quälendste von allem.«

»So ist's.«

Der alte Herr umgab sich mit so dichten Rauchwolken, als der bleistiftdünne, schwärzliche Tabakstengel zu entwickeln vermochte, während er sich seinen offensichtlich nicht sehr behaglichen Betrachtungen überließ.

Das Schweigen hatte schon eine gute Weile angedauert, als er die Zigarre wieder aus den Zähnen nahm und mit einer nicht ganz echten Entschiedenheit sagte: »Es kann nicht so weiter geben, Tini, es ist unmöglich!«

»Was kann nicht so weiter gehen?«

»Mit der Lisaweta und dem Orlowski! Hier heißt's biegen oder brechen! Entweder sie leben wieder, wie es sich für verheiratete Leute gehört, oder sie trennen sich in aller Form, wenn sie, wie ich überzeugt bin, innerlich doch schon ganz auseinander sind,« erklärte Reichlingen und stieß zur Bekräftigung dieses Ausspruchs den mit hereingebrachten Spazierstock hart gegen den Mosaikboden.

Frau von Reichlingens Miene nahm einen zögernden, einen zweifelsvollen Ausdruck an.

»Daß zwischen ihr und Alexander irgend etwas Hemmendes und Trennendes steht, glaube auch ich, daß sie sich aber ganz gleichgültig geworden sind, glaube ich nicht. Dem widerspricht die tägliche Korrespondenz. Und dann, sieh sie dir an, wenn sie einmal beisammen sind!« versetzte die Baronin.

Der alte Herr schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Darauf gebe ich gar nichts. Die Turteltaubenspielerei hat jedenfalls den Zweck, den Leuten Sand in die Augen zu streuen! Jedenfalls ist die ganze Sache sehr lächerlich und obendrein ist sie skandalös! – Das werde ich der Lisaweta auch sagen, sobald sie bei uns ist, und wenn es nichts hilft, dann werde ich tun, was schon längst hätte geschehen müssen – ich werde ihrem Mann den Standpunkt klar machen und mir von ihr die Gründe ausbitten, die dieses geteilte Leben veranlassen.«

»Daran habe ich schon oft gedacht, Felix, ich habe es vor noch nicht so langer Zeit einmal auch zu ihr gesagt, aber keine gute Aufnahme gefunden. Sie wurde so heftig, wie ich sie bis dahin nie gesehen habe,« erzählte die Baronin.

»Von mir aus kann sie mir ins Gesicht springen vor Bosheit, das geniert mich nicht,« erwiderte der Schwager lakonisch. »Mann und Frau müssen wenigstens einen gemeinschaftlichen Wohnsitz haben und ist es soweit, daß sie das nicht mehr wollen oder können, dann nur glatt auseinander, jeder seinen eigenen Weg, aber offen und frei, vor den Augen der Welt! Hätten sie das gleich getan, so wären die endlosen Tratschereien, Zischeleien und Vermutungen, deren Kosten in der Hauptsache doch Lisaweta zu tragen hat, wenigstens teilweise vermieden worden. Kommt es jetzt zu einer offiziellen Trennung oder leben sie wieder miteinander, so fängt der Spektakel und das ekelhafte Gemurre, dem niemand zu steuern die Macht hat, von vorne an.«

Frau von Reichlingen nickte sorgenvoll.

»Recht hast du ja, doch was hilft's, wenn Lisaweta es nicht einsieht?« sagte sie seufzend.

»Dann müssen wir ihr eben Vernunft beibringen! Sie hat auch auf uns Rücksicht zu nehmen; wir zählen doch auch mit! – Und es ist die höchste Zeit, daß alle Geheimniskrämerei ein Ende nimmt! – Du weißt das Schlimmste nämlich noch nicht, meine arme Tini –«

»Um des Himmels willen –«

»Der Schriftendiebstahl, dessen Opfer der Agenor Hartens wurde, hat einen häßlichen Staub aufgewirbelt. Man findet es nicht nur sehr sonderbar, daß Lisaweta und er zufällig zu gleicher Zeit in Berlin waren, ohne daß eins vom andern wußte, daß sie sich dort zufällig trafen und den nämlichen Zug zur Rückreise benutzten, man findet es noch viel sonderbarer, daß sie, mit ihrem einzigen Mitpassagier allein im Abteil zurückgeblieben war, nicht gesehen haben soll, wie er die Papiere aus dem Pelze zog, der ihr gegenüber auf dem Sitze lag. Und es hat nicht einmal sein Bewenden bei dieser achselzuckenden Verwunderung über das, wir müssen selbst zugeben, wirklich sehr Verwunderliche. Die einen und die anderen raunen sich sogar zu, Lisaweta hätte die Hand im Spiele –«

Frau von Reichlingen, ohnehin schon hochgradig nervös durch das lange Warten auf ihre Tochter, durch die Ungewißheit über die Veranlassung zu ihrem Ausbleiben und ihrem Schweigen, hatte einen dunkelroten Kopf bekommen.

»Wer sagt das – wer?« stieß sie atemlos, mit zitternder Stimme heraus.

»Weiß man das jemals? Solche Redereien stehen gewissermaßen in der Luft als ein Angreifbares. Kein Mensch kennt ihre Quelle, und doch dringen sie zu aller Ohren, finden vielfach Glauben, erhalten hier, erhalten dort eine Ergänzung und werden weitergetragen.«

»Ja, ja, es ist immer so,« sagte die Baronin, die sich Gewalt angetan hatte, um ihren Schwager ohne Unterbrechung zu Ende zu hören. »Woher kennst du dieses infame Gerede?«

»Die alte Sturmach hat mir geschrieben –«

Die Baronin fuhr auf: »Was geht es die an?!«

»Nichts. Das sagt sie auch ehrlich und fügt bei, sie hätte die Redereien hinter Lisawetas Rücken einfach nicht mehr hören können, es hätte sie angewidert. An dich hätte sie sich nicht wenden mögen, weil alle Mütter gleich aus der Haut führen, wenn es sich um ihre Kinder handelte, und Lisaweta wäre nicht zu erwischen gewesen. Dreimal, so schreibt sie wörtlich, hat sie sich vor dem alten Grenadier verleugnen lassen, der es mit ihr ehrlicher meint, als alle die süßelnden Damen zusammengenommen. Daraufhin hielt sie es für das Beste, mir zu schreiben. Wir wären Jugendfreunde, hätten es sogar bis zu einem Techtelmechtel gebracht –«

»Ist das wahr, Felix?« unterbrach Frau von Reichlingen überrascht und neugierig.

Der alte Herr schmunzelte ein klein wenig verlegen.

»Na ja, meine gute Tini – unsereiner hat halt auch seine flotte Leutnantszeit gehabt, und die Lori Velden war als Siebzehnjährige ein netter, fescher Kerl, ein richtiger schöner Teufel! – Also: unter so alten Kameraden hätte das dumme Genieren keinen Kurs, schreibt sie und tischt im Anschluß daran die ganze Geschichte auf, wie ich sie dir soeben dargestellt habe. – Die Sturmach ist der Meinung, es müßte etwas geschehen, um den Redereien und Verdächtigungen einen Damm zu setzen.«

»Was können wir dagegen tun?« fragte Frau von Reichlingen nervös.

»Wir können gar nichts tun, die Lisaweta alles. Mit der Farbe muß sie herausgehen, wie die Dinge auch liegen!«

»Wie meinst du das?« fuhr seine Schwägerin auf.

Aus dem Nachsatz glaubte sie einen Zweifel an ihrer Tochter herauszuhören.

Ihre Aufregung war so heftig, daß sie mit der brennenden Röte im Gesicht und den eigentümlich glänzenden Augen den Eindruck einer Fiebernden machte.

Der Feldzeugmeister sah es und zögerte, sich auszusprechen.

»Wie du das meinst, will ich wissen?« wiederholte sie drängender, heftiger.

Gesagt mußte es ja früher oder später doch werden, und auf Aus- und Umreden verstand er sich herzlich schlecht. So antwortete er, wie er dachte.

»Daß Lisaweta die fraglichen Papiere nicht selbst genommen hat, steht für mich außer aller Frage,« entgegnete er bedächtig. »Dahingegen halte auch ich es für sehr – sehr unwahrscheinlich, daß sie von den Manipulationen des Mannes mit dem schwarzen Vollbart gar nichts gesehen haben soll –«

»Du traust der Lisaweta zu, daß sie durch Schweigen einen Diebstahl unterstützt, daß sie der Polizei falsche Angaben macht?« rief die Baronin empört und in einem so lauten Tone, daß der Feldzeugmeister sie zur Vorsicht mahnen mußte.

So groß aber sein Einfluß auf sie im allgemeinen war, heute versagte er völlig und sie rief jetzt nicht minder laut: »Schäme dich. Felix. Durch diese Verdächtigung Lisawetas setzest du dich selbst, setzest du deinen seligen Bruder herunter!«

»Ruhe, Tini, Ruhe! Du mußt nicht glauben, daß mir's leicht wird, von dem Mädel so etwas zu glauben, wenn mich aber alle Umstände dazu drängen, wenn ich als vernünftiger Mensch mir sagen muß: es ist anders kaum möglich, dann – dann –«

»Dann hebst du den gegen sie geschleuderten Stein auf, um ihn weiter zu schleudern! – So etwas hätte ich für ganz unmöglich gehalten! Jedenfalls beweist es wieder, wie wahr das Wort ist: Gott bewahre mich vor meinen Freunden! Vor meinen Feinden will ich mich schon selber schützen.«

Der Erregungszustand der alten Dame hatte jetzt einen Grad erreicht, der ihren Schwager erschreckte. Unbehaglich rückte er hin und her in seinem Korbstuhle und gab sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen.

»Nur nicht gleich so hitzig, liebe Tini! Daß du das Mädchen nicht lieber haben kannst als ich, weißt du doch. Du weißt auch, wie ich über sie denke, und so hast du wahrhaftig keinen Grund, dich über meine Aeußerungen so zu ereifern. Verhält es sich tatsächlich so, wie ich annehmen muß, dann hat Lisaweta besondere Gründe zu ihrer allerdings sehr sonderbar erscheinenden Handlungsweise. Ueber diese muß sie uns aber Aufschluß geben, sie mag wollen oder nicht.«

Aber auch diese Erklärung stellte die Baronin nicht zufrieden.

Mit einer abweisenden Handbewegung erwiderte sie scharf: »Nein, mein Lieber – wie ich sie kenne, kann es keine Gründe geben, die sie zu einer solchen Handlung zu bestimmen vermöchten! – Lisaweta ist ein so vornehmer Charakter sie ist –«

»Gnä' Baron! – Exzellenz! Unsere Durchlaucht kommt! Sie müssen gleich da sein – ich habe die Wagen oben vom Turmzimmer gesehen!« rief sie von der Schwelle des Gartensalons.

Es war die Jungfer Katharine. Sie kam atemlos hinter einer Pflanzengruppe hervor.

Die Baronin und der Feldzeugmeister fuhren gleichzeitig von den Stühlen.

»Sind sie's auch ganz sicher, Kathrin?« fragte er.

»Ganz sicher Exzellenz! – Im ersten Wagen sind zwei Sonnenschirme – die Durchlaucht und ihre Nadascha –, im hinteren Wagen sind nur Koffer und ein Mann neben dem Kutscher – wahrscheinlich der alte Basil.«

Dir beiden Reichlingen hörten aber schon nicht mehr auf diese Auseinandersetzung. Sie waren bereits unterwegs nach dem Haupteingang der Villa, der allein für Wagen zugänglich war.

»Laß dir nichts anmerken, Tini, nimm dich zusammen. Nichts ist so widerwärtig, als wenn man schon mit solchen Geschichten empfangen wird, ehe man noch den Fuß richtig ins Haus gesetzt hat,« mahnte der Feldzeugmeister seine Schwägerin, als sie zusammen die Treppe hinuntereilten.

Sie sah ihn mit dem Schimmer eines Lächelns an, als sie darauf antwortete: »So seid ihr Männer, im entscheidenden Augenblick geht euch die Courage verloren, wenn eine schöne junge Frau im Spiele steht!«

»Aber ich bitte dich, Tini, willst du denn gleich mit der Tür ins Haus fallen? Ich hasse das überhaupt, und in einem solchen Falle wirkt es besonders unangenehm. – Laß sie erst richtig warm werden, warte ab, was sie selbst sagt, wie sie die Sache erklärt bei vorsichtigem Sondieren. Sobald es an der Zeit ist, werde ich die Frage schon anschneiden,« sagte Reichlingen sehr stramm.

Als sie vor das Portal in die breite, kiesbestreute Zufahrt hinaustraten, fuhren eben zwei offene Fiaker durch das hohe, eiserne Gittertor in die Gartenanlagen.

»Sie ist's wirklich!« flüsterte Reichlingen, der plötzlich verjüngt aussah.

Und die Baronin entgegnete: »Gott sei Dank, sie ist wenigstens gesund! Das ist mir hundertmal wichtiger, als das dummboshafte Getratsch Böswilliger.«

Der vordere Wagen hielt, Lisaweta sprang leicht heraus und die zum Portale hinaufführenden Sandsteinstufen hinauf.

»Mama! – Onkel Felix! – Eine halbe Ewigkeit ist's, seit ich euch zum letztenmal gesehen habe!«

Sie umarmte die Baronin, dann hob sie sich auf die Zehenspitzen, um den Feldzeugmeister zu begrüßen.

»Schrecklich, einen solchen Riesenonkel zu haben!« lachte sie und zog seinen grauen Kopf zu sich nieder.

»Grüß Gott, Lisaweta, ich bin seelenfroh, daß wir dich endlich hier haben! Deine Mutter hat schon Todesängste ausgestanden!« sagte Reichlingen und reichte ihr den Arm, um sie die Treppe hinaufzuführen.

»Geängstigt hast du dich, Mama – ja weswegen?« Eine leise Unruhe schwang in ihrer Stimme.

»Ich fürchtete, du möchtest wieder krank geworden sein, als wir vergebens auf dich warteten und auch keine Nachricht erhielten. Nervöse Zustände regieren leicht,« antwortete die Baronin, der es nicht leicht wurde, sich unbefangen zu geben.

Sie stand noch stark unter dem Eindrucke von ihres Schwagers Mitteilungen und vermochte nicht über sie hinwegzukommen.

Die Fürstin sah verwundert von einem zum andern,

»Ja,« fragte sie endlich, »habt Ihr meinen schon vorgestern mittag aufgegebenen Brief noch nicht?«

»Nein, weder gestern noch heute kam eine Zeile von dir.«

»Heute, das ist in der Ordnung, denn der vermißte Brief ist mein letzter, ihn aber mußtet Ihr unter allen Umständen schon gestern haben, denn es schlug gerade dreiviertel zwölf, als ich ihn am Lugeck in den Briefkasten schob – ich selbst. Ich schrieb, daß ich den Umweg über Abbazia machen und mich dort ein paar Stunden aufhalten würde, um die Nini Schönberg zu besuchen. Mir wurde nämlich gesagt, sie wäre gegenwärtig dort, was sich aber leider als unrichtig erwies. – Daß ihr auf mich gewartet habt und nicht wußtet, woran ihr wäret mit mir, tut mir furchtbar leid, eine Schuld trifft mich jedoch nicht. Uebrigens werde ich mich bei der Post beklagen.«

Lisaweta plauderte im Weitergehen so eifrig, daß Mutter und Onkel kaum dazu kamen, ab und zu ein Wort einzuwerfen und an dem Gehörten irre wurden.

»Wie gut sie aussieht, wie geschminkt!« dachte der Feldzeugmeister vergnügt, »und wie munter sie ist! So ist keins, das ein schlechtes Gewissen oder das eine drückende Last auf sich hat!«

Erfindung – niederträchtige Verleumdung, ersonnen von irgendeinem »giftspeienden« Tratschweib, das Lisaweta beneidete.

»Der Geifer der Bosheit ist doch etwas Schändliches!«

Und Reichlingen versenkte sich wieder in den Anblick seines Lieblings, dem er manches stille Anrecht abzubitten hatte.

Die einzigen Merkmale, die bei Fürstin Lisaweta von einer nicht weit zurückliegenden Krankheit und von noch angegriffenen Nerven sprachen, war ein leichter, gelblicher Hauch und ein schwärzlicher Schatten unter den Augen, die aber so hell strahlten wie in ihren glücklichen Jungmädchenjahren.

»Du siehst famos aus, Kleine!« sagte Reichlingen, sie im frohen Stolze musternd.

»Mir geht's auch famos, Onkel Felix! Und das Vergnügen, wieder bei Euch zu sein, tut das seinige,« versicherte sie heiter.

»Dieses Vergnügen hättest du dir schon längst verschaffen können,« antwortete der alte Herr.

Lisawetas auf die feinsten Abtönungen gestimmtes Ohr hörte einen leisen, einen nur angedeuteten Vorwurf heraus und sagte rasch: Ihr wißt doch, daß Bankgeschäfte mich in Wien festgehalten haben, ich schrieb es immer wieder.«

»Derlei Angelegenheiten lassen sich aber ebensogut brieflich erledigen,« bemerkte ihre Mutter.

»Nicht immer, liebe Mama, und in diesem Fall wäre es sehr unzweckmäßig gewesen. Bei so umfangreichen Verkäufen und Neuankäufen, wie Alexander angeordnet hat, heißt es scharf auspassen und stets zur Hand sein, sonst kann man in empfindliche Verluste geraten,« antwortete die Fürstin.

»Ihr laßt Euch doch in keine Spekulationen ein?« fragte der Feldzeugmeister.

»O nein, es handelt sich um neue Kapitalanlagen, die größere Vorteile versprechen.«

»Das wäre aber Alexanders Sache. Ich finde es sehr rücksichtslos von ihm, dir derartige Geschäfte aufzuladen, während er, in besten Ressort sie gehören, seinem Vergnügen nachläuft!« versetzte die Baronin mit einer ihr sonst ganz ungewohnten Schärfe.

In Lisawetas Wangen schoß ein jähes Rot.

»Sei nicht ungerecht, Mama! Du weißt so gut wie ich, daß der arme Alexander Wien nur verließ, weil sich in Petersburg von dort ausgehende Einflüsse ungünstig bemerkbar machten und die Gefahr einer Konfiskation seiner Güter auftauchte. Du weißt auch, daß er lediglich deshalb so selten hinkommt,« sagte sie, hastig erregt.

»Ich glaube, liebes Kind, daß ihr in diesem Punkte zu ängstlich seid und es immer waret. Ohne einen besonderen Anlaß kann so etwas nicht geschehen, auch in Rußland nicht,« sagte der Feldzeugmeister zweifelnd.

»Um Gründe ist man dort nie verlegen. Wenn man keine hat, schafft man welche, und der Prozeß ist fertig.« Dann sich wieder zur Baronin wendend: »Du weißt auch, daß Alexander in Paris immer wieder mit den beiden Großfürsten zusammentrifft, die versprochen haben, ihren ganzen Einfluß zu seinen Gunsten geltend zu machen.«

»Bis jetzt ist aber noch kein Erfolg zu sehen.« versetzte Reichlingen.

»Einmal verscherzt, ist die kaiserliche Huld nicht von heute auf morgen zurückzugewinnen. Jedenfalls wurde erreicht, daß es zu keinerlei Maßregeln gegen Alexander kam. Es trifft ihn keine Schuld – an nichts! Er ging und er lebt auf meinen Wunsch in Paris – nur auf meinen Wunsch! Ich will, daß alles so gehalten wird, und ich will es, um neues, schlimmeres Unheil zu verhüten«

Der letzte Teil dieser Auseinandersetzungen hatte in Lisawetas Salon stattgefunden, in dem größten der drei Zimmer, die für sie bereit gehalten wurden.

Reichlingen, den die warmen Herzenstöne immer wieder irre machten, die seine Nichte stets anschlug, wenn sie von ihrem Mann sprach, stand auf und ging, um sie nicht länger von der Toilette zurückzuhalten, zumal die Stunde der Abendtafel acht Uhr war.

Die Baronin erhob sich ebenfalls, ging aber trotz des heimlichen Augenwinkes, mit dem ihr Schwager sie bedachte, nicht mit ihm.

»Wie steht es mit dem Schmuck, du schriebst schon lange nichts mehr?« erkundigte sie sich.

»Es gibt leider nichts zu schreiben, liebe Mama, und das beste wird sein, nicht mehr daran zu denken,« antwortete die Tochter.

»Das wäre! – Zwei solche Stücke können doch nicht spurlos verschwinden!«

»Das nicht der sie genommen hat, kann sie aber liegen lassen, kann mit der Veräußerung noch warten, bis die Sache in Vergessenheit geraten ist, die Aufmerksamkeit der Polizei und der Käufer von derlei Dingen sich anderem zugewendet hat.«

Frau von Reichlingen schüttelte den Kopf.

»Das ist sehr fatal. Erstens hat der gute Papa ihn dir gegeben, dann ist er auch sehr wertvoll,« sagte sie.

»Gewiß ist es riesig ärgerlich – was aber machen? Die Polizei läßt es an nichts fehlen, der Dieb ist aber jedenfalls ein äußerst schlauer und vorsichtiger Mensch, der sich keine Blöße gibt.«

Nach einer kurzen Pause fing die Baronin, Lisaweta scharf ansehend, wieder an: »Und der Schriftendiebstahl ist wohl auch noch nicht aufgeklärt?«

»Meines Wissens nicht.«

»Das ist noch schlimmer als die Schmuckgeschichte«

»Allerdings.«

»Du solltest wirklich vorsichtiger sein, liebes Kind –«

Wieder überflutete eine Blutwelle der Fürstin Gesicht und gedehnt wiederholte sie: »Vorsichtiger – Mama –?«

Frau von Reichlingen zögerte eine Gedankenlänge, ehe sie erwiderte: »Ja, du würdest besser nicht in Herrenbegleitung reisen. Einer getrennt lebenden Frau kann es sehr übel ausgelegt werden und passieren dann noch solche Geschichten –«

»Alexander weiß, was er von mir zu denken hat und was andere denken, ist mir gleichgültig,« antwortete die Fürstin mit einem Anflug von Heftigkeit.

Ein ernster, tadelnder Blick traf sie und in der Mutter Stimme war ein schmerzlicher Beiklang, als sie sagte: »Das tut mir für dich leid, Lisaweta. Einer anständigen Frau ist es niemals gleichgültig, was von ihr gedacht wird.«

Heute fehlte der jungen Frau aber jene Schmiegsamkeit, die ihr sonst im Verkehr mit den Ihrigen eigen war. In ihrer Antwort auf den mütterlichen Tadel, der nicht wie sonst in einer über die Frage selbst hinhuschenden Scherz- oder Schmeichelrede bestand, lag eine gewisse Schroffheit.

»Wer innerlich, also wirklich anständig ist, fragt nicht nach Splitterrichterinnen –, liebe Mama. Er steht vor sich selbst so rein da, daß äußerlich an ihn hinstäubender Schmutz von ihm abfällt ohne ihn zu beschmutzen.«

»Das ist die Auffassung eines wahnsinnigen Hochmuts! – Uebrigens flüstert man in der Gesellschaft nicht allein über deine Intimität mit Hartens. Auch der Aktendiebstahl gibt leider zu für uns alle äußerst peinlichen Vermutungen Anlaß.«

Da ging es wie ein Ruck durch Lisaweta und die verebbenden Gluten in ihrem Gesichte lohten von neuem auf, noch heller, noch heftiger.

»Laß das, Mama, ich bitte dringend darum! Von dieser unglücklichen Geschichte habe ich schon so viel gehört, daß mich ihre bloße Erwähnung schon nervös macht!« rief sie heftig.

»Die Schuld liegt auch an dir –«

»Wieso –?«

»Du kannst dich doch nicht wundern, wenn man deinen Angaben keinen rechten Glauben beimißt –«

»Ich wundere mich auch nicht, ich würde es wahrscheinlich auch nicht glauben, wäre ich an der Stelle der anderen. Das ist aber egal, ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, kann keine anderen Angaben machen. Wenn ich es könnte, wäre ich die erste, es zu tun!«

Ein kurzes, grelles Auflachen beschloß diese Erklärung. Lisawetas eben noch brennendes Gesicht hatte sich verfärbt, zeigte eine fahle, ins Graue spielende Blässe.

Frau von Reichlingen bereute jetzt, daß sie den Ermahnungen ihres Schwagers zuwider gehandelt, daß sie sich über diese heikeln Punkte geäußert hatte. Lisaweta war so leidenschaftlich erregt, sie konnte gesundheitliche Nachteile davontragen. Es war entsetzlich mit ihr!

»Rede gelegentlich mit Onkel Felix. Er ist über all das genauer unterrichtet und wird besser raten können, als ich. – Auf Wiedersehen, liebes Kind, du findest mich nachher im grünen Salon.« –

Nadascha, die im zweiten Zimmer davon, im Schlafzimmer der Fürstin, die Koffer auspackte, hatte, da sämtliche Verbindungstüren offen standen, so ziemlich alles gehört, was zwischen ihrer Dame und der Baronin Reichlingen zur Sprache gekommen war und in ihrem guten Gesicht prägte sich ein tiefer Kummer aus.

Ihr armes, gutes Mütterchen Maria Lisaweta wurde zu Tode gehetzt wie ein wundes Reh!

Es schienen der Lasten noch immer nicht genug zu sein, die das Schicksal ihr aufbürdete. Beinahe jeder Tag fügte Neues zum Alten! – Ob das wohl niemals mehr ein Ende nehmen würde! – Und mit Graf Nikolaus Nikolajewitsch machte es sich wohl auch nicht ganz so wie sie gehofft hatte. Mütterchen hatte noch kein Wort gesagt über ihre lange Unterredung mit ihm, so gute Gelegenheit sich auf der Ueberfahrt von Abbazia geboten hatte, und froh hatte sie auch nicht ausgesehen, als sie von der Unterredung mit ihm gekommen war!

Die alte Frau wagte weder eine Frage noch eine Bemerkung, als Lisaweta das Schlafzimmer betrat, um sich umzukleiden. In ihrer Miene lag etwas, was rätlich erscheinen ließ, abzuwarten, bis sich bei ihr das Mitteilungsbedürfnis einstellen würde. –

Als die Toilette so weit vorgeschritten war, fragte Nadascha: »Welches Kleid befiehlt Mütterchen Maria Lisaweta?«

»Das erste beste, ich will bald fertig sein.«

Mit einem wehmütigen Aufschlag hob die Kammerfrau die Augen. Fing es hier gleich so an, wie es ist Wien geendet hatte?

Daß die lieben Heiligen so gar keine Einsicht hatten? Zum Verzweifeln war's!

Wer sollte helfen, wenn nicht sie, denen Gott die Macht verliehen hatte?

Unter solchen Gedanken kramte sie im großen Kleiderkoffer und hob ein hellgraues Taffetkleid heraus, das mit einem breiten Gitter aus dünnen Silberbörtchen reich verziert war. Es war das Neueste, was die Mode ersonnen, erst vor wenigen Tagen war die Toilette, ein Geschenk des Fürsten, aus Paris gekommen.

In dem Augenblick, wo die Alte dieses reizende Werk der Schneiderkunst sorglich zur Seite legen wollte, wendete Lisaweta den Kopf nach ihr.

»So gib doch endlich her!« sagte sie ungeduldig.

»Ich möchte ein anderes Kleid herausholen. Mütterchen Maria Lisaweta, um dieses ist es eigentlich schade fürs Land –«

»Das ist doch egal! Schnell, ich möchte hinüber,« unterbrach die Fürstin, deren Laune sich stetig zu verschlimmern schien.

Nadascha schüttelte abermals den Kopf, noch bedenklicher, noch sorgenvoller.

Ein paar Minuten später stand Lisaweta vor dem Stehspiegel. Sie starrte hinein und sah nichts darin als gespenstisch-grinsende Zerrbilder – die Sorgen und Aengste, die sie immer unbarmherziger durchs Leben hetzten. Dann kehrte sie sich mit einer kurzen Wendung ab und rief die Kammerfrau, die wieder an den Koffern hantierte.

»Wenn ich an Ahnungen und Vorgefühle glaubte, würde ich sagen: »Wir sind nur hierhergekommen, um neue Widerwärtigkeiten und neues Unheil zu erleben!« denn so ist mir zumute.«

Mit weiten, steifen Augen stand Nadascha vor ihrer Dame und fand kein Wort der Erwiderung auf das Unerhörte, das sie vernommen, kein Wort zur Bezeichnung dessen, was in ihr vorging.

»Die lieben Heiligen wollen gnädiglich verhüten, daß Mütterchen recht hat!« stotterte sie erschreckt. Nahe daran, die Fassung äußerlich ebenso zu verlieren wie sie sie innerlich bereits verloren hatte.

Und sie schlug dreimal hintereinander mit flinken Fingern das Kreuz.

»Mütterchen Maria Lisa –,

»Deine Heiligen verhüten aber nichts – gar nichts, das siehst du doch selbst! Immer weiter – weiter geht es den Berg hinunter – dem Abgrunde entgegen! Wie lange noch, und er wird mich verschlingen! Daß ich bisher noch nicht vor die Wahl zwischen einem Meineid und die Preisgebung der Früchte aller meiner zahllosen Opfer gestellt würde, ist nur ein glücklicher Zufall. Was aber noch nicht geschehen ist, kann jeden Tag an mich herantreten! – Ist dein Glaube an Ahnungen und Warnungen mehr als ein leerer Wahn – dann, Nadascha, gehen wir einer bösen Zeit entgegen! Es ist in derselben Minute über mich gekommen, wo ich in diese Zimmer trat.«

Aehnliche Aeußerungen hatte die alte Frau niemals aus dem Munde der Fürstin gehört und jetzt brachten sie lähmendes Entsetzen über sie. Einmal um's andere überlief sie Siedehitze. Dann stotterte sie kreuzschlagend: »Heilige Muttergottes von Kasan, erbarme dich unser!«

Lisaweta, die niederhängenden Hände ineinander geschlungen, lehnte sich gegen den Ankleidetisch und sagte leise, müde: »Es ist ja eine grenzenlose Torheit, ich weiß es, aber es liegt wie ein Alp auf mir, den ich auch mit Zuhilfenahme aller meiner Vernunft nicht verscheuchen kann. – Ich wollte, ich hätte Scheragin aus dem Spiel gelassen!«

»Kann der Herr Graf nichts tun oder steht es nach seiner Meinung schlecht? Mütterchen war so verstimmt, als sie von der Besprechung mit ihm zurückgekommen ist?« erkundigte sich Nadascha eilig.

»Weder das eine noch das andere. Er ist von der rührendsten Bereitwilligkeit, voll Eifer. Er ist auch überzeugt, helfen zu können und fährt noch heute – vielleicht ist et schon unterwegs – nach Wien, um sich mit Prossl persönlich in Verbindung zu setzen und die Nachforschungen selbst zu leiten –«

»Das ist für uns aber doch ein großes Glück, Mütterchen Maria Lisaweta! Der Prossl hat nur Unsummen gekostet, aber nichts herausgebracht, was die Mühe gelohnt hätte,« versetzte Nadascha.

»Das mußt du nicht sagen, meine gute Alte, er hat schon vieles Wissenswerte gebracht –«

»Was aus den gestohlenen Papieren geworden ist, weiß er aber nicht, und das wäre doch das Wichtigste.

Fürs andere wird schon unser Graf Nikolaus Nikolajewitsch sorgen!«

»Das wird er, gewiß, er wird sich auch der Schriftenaffäre annehmen, die er mir für die eigentlich brennende erklärte, nur fürchte ich, daß er einen zu lebhaften Eifer entwickelt,« antwortete dies Fürstin mit einem unterdrückten Seufzer.

»Das verstehe ich nicht, Mütterchen Durchlaucht, ich meine, einen zu großen Eifer könnte es in einem solchen Falle gar nicht geben« sagte die alte Frau.

»Wenn er zu einem hastigen Vorgehen, zu einem Außerachtlassen der Vorsicht führt, wird der Eifer zum Uebereifer, der oft schweren Schaden anrichtet. Was mich besorgt macht, ist der Eindruck, daß der Graf bereits allerlei Maßregeln ergriffen hat, die er vor mir geheim hält!«

»Wenn er das tut, wird er wissen warum. Mütterchen soll sehen – es kommt bald besser!«

»Oder schlimmer – noch schlimmer.«


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