Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12. [11]

Wie jedes Jahr während Lisawetas Frühjahrsbesuch in der Villa Marina, wurde auch diesmal ein mehrtägiger Ausflug nach Ragusa und von dort in die Vocche di Cattaro unternommen, so sehr sie sich mit Rücksicht auf die Umstände, auf ihre bedenkliche Lage dagegen gewehrt hatte.

Wie groß der Fürstin Macht über den Feldzeugmeister Reichlingen war, es gab doch Dinge, in denen der etwas eigensinnige und befehlsgewohnte alte Herr auch ihr nicht nachgab. Zu diesen Dingen gehörte der große Ausflug in die Bocche.

Der alte General Reichlingen, Lisawetas Großvater, war lange in Cattaro und Ragusa stationiert gewesen, sein Sohn Felix hatte dort seine Kinder- und Jugendjahre verlebt, und er hatte der alten Heimat die treueste Liebe und Anhänglichkeit bewahrt. Das jährliche Wiedersehen mit den alten Freunden, die ihm dort noch lebten, den Besuch all der lieben Punkte, die er so genau kannte, die er als Knabe und Jüngling so oft ausgesucht, ließ er sich nicht nehmen.

»Ein junger Mann kann ein Jahr überspringen, ist man aber in meinem Alter angelangt, so weiß man nicht, ob man im nächsten Jahre noch wird nachholen können, was man in diesem versäumt,« pflegte er zu sagen.

»Geh doch mit der Mama, Onkel Felix. Ich bliebe ganz gern allein hier, Ruhe ist ohnehin das, was mir vor allem nottut. Es ist nicht bloß gesagt, ich fürchte wirklich die Anstrengungen und Aufregungen der Reise,« hatte Lisaweta sich das Daheimbleiben zu erringen versucht.

Und es war die Wahrheit. Wenn auch nicht die Anstrengungen, wie sie vorgab, so fürchtete sie doch die Aufregung. Sie wußte, daß sie keine ruhige Stunde haben würde, so lange sie Fiume fern war, konnte doch Karamanoff sie jeden Augenblick zurückrufen wegen des Schriftenkaufes oder eine wichtige Nachricht von Scheragin einlaufen. Endlich aber wußte sie die Polizei hinter sich. Und daß die Agenten des Wiener Sicherheitsbüros ihr auch auf dieser Fahrt folgen würden, lag auf der Hand.

Aber wie gesagt, sie fand bei Reichlingen kein Gehör.

»Ach was,« sagte er, »von Anstrengungen ist keine Rede, denn man ist auf dem Dampfer famos untergebracht, und wir brauchen ja nicht wie sonst bis Cettinje hinaufzugehen, wenn es dir zu beschwerlich ist. Im übrigen können dir Abwechslung und die herrliche Luft in der Bocche und in Cattaro nur gut tun. Du gehst mit!«

Lisaweta hatte sich aber noch nicht besiegt gegeben, hatte noch manchen Versuch gemacht, dem Ausflug zu entrinnen, bis der Feldzeugmeister eines Tages sagte: »Hör' Lisaweta, was ist's eigentlich mit dir, so geheimnisvoll wie jetzt, so sonderbar warst du in deinem ganzen Leben noch nicht? Daß etwas vorgeht, daß du uns etwas verbirgst, deiner Mutter und mir, sehe ich schon seit langem, ich vermute jedoch, du hättest Widerwärtigkeiten mit deinem Mann, und in einen Konflikt zwischen verheirateten Leuten soll sich ein Dritter nicht mischen. Es macht nichts besser, wohl aber manches schlechter. –«

»Aber, Onkel Felix, du phantasierst!« hatte sie erschreckt dazwischen gerufen.

»Ganz und gar nicht, mein liebes Kind. Ich weiß sehr genau, was ich sage, weiß, was ich sehe und bin meiner Sache sicher. Was hat dein Vasil täglich ein paarmal beim Telegraphenamt zu tun – he?«

»Mein Himmel, er erwartet Nachrichten von daheim!« sagte die Fürstin hastig.

»So! – Warum läßt er sie sich nicht ins Haus bringen?«

»Was weiß ich, warum er es tut! Er wird seine Gründe haben.«

»Liebes Kind!« knurrte der alte Herr so grimmig, als er es Lisaweta gegenüber vermochte. »Kannst zu deinem alten Onkel getrost etwas mehr Vertrauen haben!«

In der Fürstin schöne Augen traten die Tränen.

»Ich bin sehr unglücklich, Onkel! Glaubst du es mir.«

»Das fühl' ich, Kind. Nur zu sehr! Ja zum Himmel, laß dir doch von uns helfen.«

Sie schüttelte den Kopf resigniert. »Niemand kann's, das Schicksal ist gegen mich. Von selbst muß sich's lösen oder –«

Jäh brach sie ab und schaute sich um. Sie schrak zusammen.

Sie wurden beobachtet. Zwei Männer in etwa hundert Meter Entfernung ließen das Paar – es sollten unauffällig wirken – nicht aus den Augen.

»Was hast du, Kind?«

»Es ist nichts, Onkel!« sagte sie gepreßt und beschleunigte etwas den Schritt.

Der Feldzeugmeister ging schweigend neben seiner Nichte her. Er versuchte nochmals näheres von Lisaweta zu erfahren.

Plötzlich wandte er den Kopf und sah die beiden Männer, die sich in respektvoller Entfernung hielten.

»Verdammtes Gesindel!« knurrte er ingrimmig. »Was haben die nur mit uns vor.«

»Was sollten die Leute von uns wollen?« sagte sie.

Reichlingen, ärgerlich über das Wiederauftauchen der beiden Männer, entgegnete ungeduldig: »Das werden sie natürlich besser wissen als wir. Vielleicht passen sie auf eine Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft mit unseren Taschen!«

»Aber Onkel, du marschierst im Geschwindschritt! Auf mich machen die beiden einen sehr harmlosen Eindruck,« und die Fürstin rang sich ein kurzes Lachen ab.

»Dann gehen dir alle physiognomischen Kenntnisse ab, Lisaweta! Sie wollen harmlos erscheinen, das merke auch ich, siehst du sie dir aber genauer an, so wirst du finden, daß das gemacht ist. »Jedenfalls habe ich die Geschichte gründlich satt und werde die Burschen ersuchen, fernerhin linksum Kehrt zu machen, wenn wir rechtsum abschwenken,« erklärte der alte Herr.

Fürstin Lisaweta war tief erschreckt. Was sie diese ganze Zeit gefürchtet hatte, war eingetreten und drohte selbst eine schlimmere Wendung zu nehmen, als sie gedacht hatte. Die Agenten durften ihres Onkels Wünschen gar nicht entsprechen, mochten sie auch den Willen dazu haben! Was sie dagegen tun konnte, mußte sofort getan werden.

»Davon möchte ich abraten, Onkel Felix,« versetzte sie so ruhig, wie es ihr heftiger Erregungszustand erlaubte. »Ich hielt es für das Beste, so zu tun, als ob man sie nicht bemerkte. Wird man nicht belästigt, so kann man keinem Menschen verwehren, die Wege zu gehen, die man selbst geht, und vor irgendeiner Belästigung ist bis jetzt doch keine Rede.«

Der Feldzeugmeister war indessen anderer Meinung als seine schöne Nichte und sagte ärgerlich: »Ich fühle mich aber belästigt und damit basta!«

»Das ist etwas anderes, Onkel, das ist individuell. Ich bezweifle jedoch, daß polizeiliche Bestimmungen auf individuelle Empfindungen Rücksicht nehmen, und so bezweifle ich auch, daß du deiner Forderung den entsprechenden Nachdruck geben könntest. Wer aber in einem derartigen Streit den Kürzeren zieht, wird lächerlich, und das dürfte einem Herrn in so hoher Stellung doch nicht angenehm sein. Darum würde ich es vorziehen, die kleinere Unbequemlichkeit in Ruhe zu ertragen.«

»Lisaweta dürfte nicht so unrecht haben, mein lieber Felix,« setzte die Baronin hinzu.

Dieses Argument wirkte, bewog den alten Herrn, die »Kerle« bis auf weiteres »laufen zu lassen.« Sie lagen ihm aber im Sinn, und er wurde übler Laune, so oft er sie zu Gesicht bekam, was leider häufig geschah, zumal er fleißig Ausschau hielt nach ihnen. So lebte die Fürstin in beständiger Angst vor der Explosion, die sie für unvermeidlich hielt, sofern ihr nicht ein besonders glücklicher Zufall zu Hilfe kam.

Als sie heute morgen erwachte, hatte sie den neuen Tag mit dem Gedanken begrüßt: »Gott sei Dank, der letzte Tag in Cattaro, morgen geht's nach Hause!«

Ja morgen! – O, die diesjährige Bocchefahrt würde sie zeitlebens nicht vergessen.

Und ihre Gedanken spannen weiter.

Fiume – das war ganz schön, nur war es nicht mehr, wie es vor dieser kleinen Reise gewesen – Onkel Felix kannte jetzt die sie überwachenden Agenten, er war schlecht auf sie zu sprechen und so würde er sie in Fiume, würde er sie von der Villa aus ebenso bemerken wie hier und dann – dann kam es eben doch zum klappen!

Ein nervöses Zittern ging durch Lisawetas gequältes Herz. –

Es schlug Zehn, als der Feldzeugmeister bei seiner schon fertig angekleideten Nichte eintrat, um sie zu einem Morgenspaziergang abzuholen.

»Wir machen's kurz heute, schlendern durch das Städtchen und sehen uns das Treiben auf dem Landeplatz an, denn mit Mamas Genehmigung habe ich das Frühstück für halb zwölf und den Wagen für halb eins bestellt,« sagte er, als sie die »Stadt Triest«, ihren Gasthof verließen.

Also doch noch solch ein schrecklicher Ausflug mit den Polizisten als Trabanten.

»Es sollte doch wegen der morgigen Seefahrt einen Ruhetag geben?« fragte die Fürstin unbehaglich:

»Gibt es auch, Durchlaucht Faulpelz! Die ganze Geschichte wird per Wagen gemacht und wer nicht will, braucht auch nicht einen Schritt zu tun,« erwiderte er scherzend.

»Wohin, Onkel?«

»Nach dem Fort Gorazda. Wie ich vorhin auf dem Platzkommando hörte, hat momentan der Sohn eines alten Regimentskameraden des Obersten Joritza, das Kommando oben. Ich habe den Amades als Buben gekannt und möchte die Gelegenheit, ihn wiederzusehen, nicht versäumen. – Hast du was dagegen?«

»Aber ich bitte dich, was sollte ich dagegen haben?«

»Das dachte ich auch, und darum habe ich Gorazda ohne weiteres zu unserem heutigen Ziel gewählt. Warst du schon dort?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Es ist sehr lohnend, die Aussicht im allgemeinen fast ebenso schön wie oberhalb des Wegehauses, wenigstens die aufs Meer, denn von der Krivoschie sieht man leider nicht viel, höchstens einen oder den anderen ihrer höchsten Gipfel,« plauderte der sehr angeregte alte Herr.

»Das schadet nichts, wir haben die Gipfel der Krivoschie schon oft bewundert,« antwortete sie.

»Du bist verstimmt, Lisaweta, hast du eine ärgerliche Nachricht bekommen?« erkundigte sich der Feldzeugmeister, dessen Sorgen um die Fürstin nur in leisem Schlummer lagen und sich bei dem geringfügigsten Anlaß sofort wieder kräftig regten.

»Nur etwas angegriffen, Onkel Felix. Es war diese Nacht unerträglich dunstig in meinem Zimmer, und ich habe schlecht geschlafen. Das spürt man gleich, besonders nervöse Menschen,« sagte sie.

»Diese verwünschte Nervosität, es ist etwas Widerwärtiges! Wie du dazu kommst, kann ich mir übrigens nicht erklären.«

»Man wird älter, Onkel Felix.«

»Natürlich, mit sechs- oder siebenundzwanzig Jahren –«

»Ich werde im November achtundzwanzig.«

»Ein ehrwürdiges Alter!« spottete Reichlingen.

»Jedenfalls liegt es jenseits der Jugendjahre.«

»Zu meiner Zeit dachte man anders, Ihr Modernen seht ja quer die Welt, das Leben und Euch selber mit sehr verschiedenen Augen an, ob mit helleren, vernünftigeren, mag dahin gestellt sein.«

Lisaweta gab sich einen innerlichen Ruck und zwang sich ein gewisses Interesse zu zeigen für das farbenbunte Straßenbild, in dessen Mitte sie sich bewegten, und das auf dem Markte der Montenegriner seinen Höhepunkt erreichte. Es war heute der größte Markt der Woche, und die großen, sehnigen Söhne der Schwarzen Berge waren in großer Zahl heruntergestiegen von ihren Bergen, um allerlei Lebensmittel und Kleinkram feilzubieten.

»Sag, Kind, ich sehe ja heute die beiden Unvermeidlichen nicht?« fragte Reichlingen plötzlich, als sie sich von einem montenegrinischen Händler wendeten, dem er ein paar Pfeifenköpfe aus roter Tonerde und ein wundervolles langes Weichselrohr mit einem Bernstein-Mundstück abgekauft hatte.

»Ich auch nicht,« antwortete die Fürstin und sah zur Seite.

Sie hatte sich wieder einmal zu einer direkten Unwahrheit verstehen müssen, und das rief allemal das Gefühl brennender Scham in ihr wach. Die »Unvermeidlichen« folgten ihr, wie sie ihr stets folgten, nur befleißigten sie sich in Cattaro einer Zurückhaltung und Vorsicht, die Lisaweta um der Ihrigen willen als eine Wohltat empfand. Ob es Zufall war, ob die Geheimen des Feldzeugmeisters Aeußerungen im Speisesaal des Gasthofes am Ankunftsabend verstanden hatten und selbst ein Aufeinanderprallen zu verhüten wünschten, ließ sich nicht feststellen.

Hoffentlich übten die beiden nachmittags die gleiche Rücksicht!

Es war kaum halb eins, als der vom Besitzer der »Stadt Triest« gestellte, ziemlich schäbige Landauer mit seinen vier Insassen über das holperige Pflaster des Städtchens und durch die stark begangene Porta Gordecchione rollte, um durch die schöne Kampagne auf einer prächtigen Kunststraße zum Fort Trinitá und weiterhin zum Fort Gorazda emporzusteigen.

Lisawetas Laune hellte sich während der an Prachtblicken auf die Bai von Cattaro reichen Fahrt mehr und mehr auf. Hauptsächlich, weil sie trotz fleißigen heimlichen Spähens keine Spur von einem nachfolgenden Wagen zu entdecken vermochte. Wahrscheinlich war kein zweiter rechtzeitig aufzutreiben gewesen, und hatten die Geheimen wohl oder übel für diesmal auf ihr Trabantentum verzichten müssen.

»Wenn ich wollte, könnte es ihnen verhängnisvoll werden,« dachte sie. »Wer könnte mich hindern, über die Grenze zu gehen und drüben zu bleiben, so lange es mir gefällt.«

Und sie spielte mit diesem Gedanken, bis sie sich endlich sagte »Wie, wenn ich es wahr machte? Geld habe ich genug und könnte mir jeden Augenblick neues verschaffen, und in den Schwarzen Bergen würden sie mich, wenn schon suchen, so doch nicht finden!«

Die Versuchung war mächtig – aber es ging nicht! Es wäre eine Feigheit, eine Gemeinheit gewesen, sie mußte ihr dem Polizeirat Meidler gegebenes Versprechen einhalten. Und der Onkel, die Mutter! Himmel und Hölle würden sie in ihrer Angst in Bewegung setzen, um ihrer wieder habhaft zu werden – nein, es war unmöglich! Ihre Lasten in stiller Geduld weiterschleppen, das war das allein richtige. –

Lisaweta seufzte leise und begrub wortlos, was einen Augenblick wie ein lockender Traum vor ihrer Seele gestanden hatte. –

Der Feldzeugmeister stieg allein zum Fort Gorazda hinauf. Keine der Damen kannte den Oberleutnant Joritza, und so zogen sie es vor, beim Wagen zu bleiben und dort die Rückkehr ihres Begleiters zu erwarten.

»Ich bin bald wieder da, will nur hören, wir es dem alten Joritzas geht,« sagte er, ehe er ging.

Und die Baronin forderte ihn auf, sich Zeit zu lassen. Das Wetter wäre angenehm, die Gegend schön, da käme es nicht darauf an, eine halbe Stunde länger zu warten.

Dann gingen Mutter und Tochter ein Stück weit die Straße zurück, denn im Vorüberfahren hatten sie etwa vierzig Meter tiefer unten eine Stelle passiert, an der sich eine herrliche Fernsicht auf den höchsten Berg des ganzen gebirgigen Gebietes, auf den Orjen, und auf die Baien der Cattara, von Rusano und von Theodo eröffnete. Dorthin wollten sie, um in Ruhe das prächtige Naturgemälde auf sich wirken zu lassen.

»Schade, daß man Cattaro selbst von hier nicht sehen kann!« sagte Frau von Reichlingen, als sie eine Weile am Rande der Straße gestanden und in die bläulich umhauchte Ferne hineingeschaut hatten, aus der sich einige Erhebungen des Velabitgebirges wie Dunstwolken heraushoben.

»Ja,« antwortete die Fürstin zerstreut.

Sie war gar nicht bei der Sache, sie lauschte heimlich die Straße hinunter, die irgend etwas heraufkam. Ob ein Wagen, ob Fußgänger vermochte sie nicht zu unterscheiden, obgleich ihr zuweilen war, als hörte sie aufschlagende Pferdehufe.

Das Geräusch kam rasch näher – es war Pferdegetrappel und in Lisaweta wogte es auf – die »Unvermeidlichen«, wie der Feldzeugmeister die beiden Detektive heute genannt hatte. Denn wer anders sollte hier heraufkommen, Cattaro war, wie man ihnen im Gasthof gesagt, augenblicklich ungewöhnlich schwach besucht.

Das war kaum gedacht, als zwei Reiter um die nächstuntere Straßenecke bogen, und zwar in einer Gangart, die den Pferden das Aeußerste zumutete, das sie bergauf zu leisten vermochten.

Auch die Baronin war aufmerksam geworden, und ein Blick auf die Reiter genügte, um sie zu erkennen.

»Wieder die beiden sonderbaren Menschen! Onkel Felix hat wirklich recht, es sieht gerade nach einer absichtlichen Verfolgung aus. – Komm, wir wollen zum Wagen, man kann nicht wissen, was die Leute vorhaben, und hier ist weit und breit niemand in der Nähe,« sagte die Baronin in ärgerlicher Erregung.

»Zu fürchten sind sie keinesfalls,« erwiderte Fürstin Lisaweta, der schon die Straße wieder hinanschreitenden Mutter langsam folgend.

Es widerstrebte ihr, sich eilig zu zeigen, es sähe albern aus, fand sie.

Die Geheimen hatten ihre Hast von vorhin gemäßigt und verfolgten ihren Weg jetzt im Schritt. Dennoch kamen sie den voraufschreitenden Damen näher, und es war vorauszusehen, daß sie sie überholt haben würden, ehe diese den großen Straßenbogen hinter sich hatten und den Wagen wieder in Sicht bekamen.

So geschah es auch, und als die Reiter an der Kehre angelangt waren, stieg einer von ihnen ab und gab dem Geführten die Zügel seines Tieres in Verwahrung. Dieser ritt weiter, der andere blieb an der Stelle stehen, an der er abgestiegen war.

»Was das wohl heißen soll?« dachte Lisaweta einigermaßen verwundert.

Sie erfuhr es sogleich, denn wie sie, ohne nach ihm hinzusehen, an dem Detektiv vorüberging, trat er ihr in den Weg und sagte, den Hut in der Hand mit einer respektvollen Verbeugung »Mein Name ist Mitterbacher aus Wien. Ich bitte Eure Durchlaucht, zwecks einer dringlichen Mitteilung um die Ehre einer kurzen Unterredung unter vier Augen.«

Die unerwartete Anrede und das Begehren des Geheimagenten hatten die Fürstin heftig erschreckt. Eine gewisse Unsicherheit war in ihre Glieder gefahren, und in ihre Wangen krochen rote Schlänglein.

Sie beherrschte sich dennoch, wenigstens so gut es ging, als sie dem Manne durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen gab, dann wendete sie sich zu Frau von Reichlingen und sagte: »Zwei Minuten, Mama, ich komme dir sogleich nach.«

Die Baronin war über diesen überraschenden Vorgang so verletzt, daß sie kein Wort äußerte. In dem Augenblick aber, wo sie ihre Tochter in einer Entfernung von vielleicht dreißig Schritt mit dem Fremden hinter einen weit vorspringenden Felsen treten sah, wich die Verblüffung der Angst.

Gott allein wußte, was der Mensch mit ihrer Lisaweta vorhatte!

Dieser Gedanke jagte eine Siedehitze durch sie hindurch, und ohne sich über ihr Beginnen Rechenschaft zu geben, folgte sie den Voraufgegangenen.

Mitterbacher hatte aber die Zeit genützt und, sowie sie sich außer Hörweite befanden, zur Fürstin gesagt: »Wir hörten vom Wirte der »Stadt Triest«, daß Seine Exzellenz der Herr Feldzeugmeister Baron Reichlingen die heutige Fahrt bis zu einem Aussichtspunkt jenseits der montenegrinischen Grenze auszudehnen gedenkt –«

»Davon ist mir nichts bekannt,« unterbrach sie den Geheimen kalt. »Meines Wissens fahren wir nur bis zum Weghaus, und das ist noch österreichisch.«

»Eure Durchlaucht müssen es natürlich besser wissen,« versetzte er. »Jedenfalls hielt ich es für angezeigt, auf Grund der uns gewordenen Mitteilung Durchlaucht in Erinnerung zu bringen, daß Ihnen derzeit die Ueberschreitung der österreichisch-ungarischen Landesgrenzen nicht gestattet ist, und daß ein Versuch dazu die unangenehmsten Folgen nach sich ziehen würde. Wir wären nämlich gezwungen, in einem solchen Fall zur Verhaftung Eurer Durchlaucht zu schreiten und Sie sofort nach Wien zurückzubringen.«

»Aber doch wohl nicht, wenn es sich um eine Grenzüberschreitung für vielleicht ein bis zwei Stunden und in Begleitung meiner Familie handelt!?« rief Lisaweta erschreckt und empört.

»Auch dann. Unsere Order würde uns keine Wahl lassen.«

»Ich könnte meinem Onkel doch nicht sagen: Keinen Schritt weiter! Ich darf den Fuß nicht über die Grenze setzen.«

»Einen geeigneten Vorwand für die Weigerung zu finden, ist Eurer Durchlauchts Sache. Wir haben unser Möglichstes zur Verhütung peinlicher Weiterungen getan. Weitere Rücksichtnahme ist ausgeschlossen.«

Er zog ein aktenmäßig aussehendes Papier aus der Brusttasche und überreichte es Lisaweta mit den Worten: »Hier ist der vom Herrn Polizeidirektor eigenhändig ausgefertigte Haftbefehl. Eure Durchlaucht wollen sich selbst überzeugen.«

Ehe sie aber nur ein Wort mehr lesen konnte als den Aufdruck: »Haftbefehl,« wurde ihr das Papier aus der Hand genommen. Nicht von dem Agenten des Sicherheitsbureaus, sondern von ihrer Mutter, die soeben um die Felsnase gebogen war und Mitterbachers letzte Bemerkung noch gehört hatte.

Kreideweiß im Gesicht, mit flackernden Augen überflog sie den Text. – Es war ein regelrechter Haftbefehl, erlassen gegen die Fürstin Maria Elisabeth Orlowski aus Petersburg, geborene Freiin von Reichlingen-Stirrdorf, der aber nur Gültigkeit besaß für den Fall, daß sie versuchen sollte, die österreichisch-ungarische Grenze an irgendeinem Lande zu überschreiten,

Lisaweta gewissermaßen unter der Vormundschaft der Wiener Polizei? –

»Was bedeutet das? Erklären Sie mir« – stotterte sie fassungslos und gab Mitterbacher das Papier zurück.

Er zuckte in höflichem Bedauern die Schultern.

»Ich bin leider nicht in der Lage, irgendwelche Erklärungen zu geben, Frau Baronin,« antwortete er.

»Sie wissen nicht, weshalb meiner Tochter die Ueberschreitung der Grenze untersagt ist?« drängte Frau von Reichlingen.

Eine unbestimmte Handbewegung des Kriminalisten antwortete ihr.

»Laß, Mama. Du siehst, der Herr ist nicht ermächtigt, Mitteilungen über diese Sache zu machen,« fiel Lisaweta mit einer eigentümlich spröde klingenden Stimme dazwischen.

In diesem Augenblick erspähte die Baronin ihren Schwager, der schon vom Fort Gorazda zurückkam. Der junge Mann, dem sein Besuch gegolten, war für heute nach Cattaro beordert worden und noch nicht wieder in seine abgelegene Station zurückgekehrt.

Von weitem schon sah er die drei beisammenstehen, er sah auch das ungestüme Winken der Baronin, die ihn herbeisehnte wie einen Erretter aus höchster Not.

Reichlingen, etwas beunruhigt, beschleunigte den Schritt und war in wenigen Minuten zur Stelle. Als er einen der »Unvermeidlichen« erkannte, überflog ein Schatten sein Gesicht.

»Gut,« sagte er mit unbewegter Miene, nachdem seine Schwägerin ihn von dem Wenigen, was sie wußte, in Kenntnis gesetzt hatte, »wir kehren sofort nach Cattaro zurück.« Dann sich zu Mitterbacher wendend, fragte er mit militärischer Kürze: »Auf österreichisch -ungarischem Boden aber ist die Fürstin frei, sich zu bewegen, wie und wo es ihr beliebt?«

»Jawohl, Exzellenz, vollkommen frei.«

»Sie und Ihr Begleiter haben sie aber von Amtswegen zu überwachen?«

»Zu Befehl, Exzellenz.«

»Wir können uns also ohne weiteres zurückziehen?«

»Jawohl, Exzellenz.«

»Gut, ich danke Ihnen. – Kommt!«

Diese Einladung galt den Damen, die dem Feldzeugmeister schweigend zu dem ein Stück weiter oben wartenden Wagen folgten.

Sie waren aber kaum eingestiegen, er hatte kaum den Befehl zur Rückfahrt gegeben, als Frau von Reichlingen angstgepeitscht begann: »Um des Himmels willen, Lisaweta –«

Der Feldzeugmeister unterbrach sie durch eine verweisende Handbewegung.

»Hier ist nicht der Platz zu derartigen Auseinandersetzungen, liebe Tini, gedulde dich, bis wir wieder im Hotel sind,« sagte er.

Die Fürstin aber, die jetzt vollkommen ruhig und entschlossen zum äußersten Widerstand dem Losbruch des Sturmes entgegensah, versetzte: »Was ich zu sagen habe, ist so wenig, daß es auch hier gesagt werden kann,« und plötzlich ins Französische übergehend, sagte sie: »Es handelt sich um eine verwickelte Angelegenheit, über die ich mich gegen niemand, also auch nicht gegen Euch, äußern darf. Darum möge es genügen, wenn ich sage: Die kleinste Unvorsichtigkeit oder Uebereilung kann Alexanders Leben kosten!«

Der Entsetzensausdruck in Frau von Reichlingens Mienen verschärfte sich noch um einige Schattierungen, der Feldzeugmeister balancierte die von ihm fast unzertrennliche Virginia aus einem Mundwinkel in den andern. Dabei hielt sein durchdringender Blick den ihrigen fest.

»Das klingt fabelhaft, liebes Kind; heutigen Tages ist keines Menschen Leben bedroht, der sich keines todeswürdigen Verbrechens schuldig gemacht hat. – Hat sich Alexander in irgendeine revolutionäre Geschichte verstrickt?«

»Nein, er ist und war stets streng kaisertreu. Was ihn bei Hofe unliebsam gemacht hat, wißt ihr, und anderes liegt nicht vor.«

»Die ihm angeblich drohende Gefahr hängt aber mit dieser Sache zusammen?«

»Verzeih, Onkel Felix, ich habe gerade vorhin gesagt, daß ich auf keine Erklärungen eingehen kann. Dränge mich also nicht, bitte.«

»Und die bestehenden Schwierigkeiten mit der Polizei haben ihren Ursprung in deines Mannes Angelegenheit?« setzte der Feldzeugmeister das Verhör fort, ohne den Blick nur sekundenlang von seiner Nichte zu wenden.

»Ja und nein.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Das heißt, daß sie nur indirekt die Schuld trägt,« erwiderte die Fürstin.

»Und was bot den unmittelbaren Anlaß?«

»Lieber Onkel –«

»Die dem Agenor Hartens gestohlenen Papiere, nicht wahr?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Sag es nur rund heraus. Ich weiß ja schon längst, daß diese tatsächlich schmutzige Geschichte in der Wiener Gesellschaft einen ungeheuren Staub aufgewirbelt – auf deine Kosten. Die alte Sturmach hat es mir geschrieben mit dem Zusatz, daß es höchst wünschenswert wäre, und zwar in deinem eigenen Interesse, wenn du dich ohne Verzug zu umfassenden Aufschlüssen bequemtest, damit den geflüsterten Zweifeln und Verdächtigungen ein Ende gemacht würde. Sie versichert, deine gesellschaftliche Stellung wäre andernfalls unhaltbar.«

»Das weiß ich längst. Onkel Felix, es ist mir momentan aber gleichgültig. Mögen meine Freunde denken, flüstern, meinethalben auch laut herausschreien, was sie wollen. – Es –«

»Lisaweta, du weißt nicht, was du redest!« rief die Mutter, die über alles, was sie in der letzten halben Stunde erlebt und gehört hatte, außer sich war.

»Sehr genau weiß ich es, liebe Mama. Es steht jedoch so viel auf dem Spiel, daß das Geschwätz der Leute, daß gesellschaftliche Stellung für mich nicht in Betracht kommen. Und darum werde ich auch niemand den geringsten Aufschluß geben, bis die Dinge so weit sind, daß ich es ohne Sorge tun darf,« erklärte die Fürstin mit einer Bestimmtheit, die jeden weiteren Versuch, sie zum Reden zu bringen, als zwecklos erscheinen ließ.

Der Feldzeugmeister, der während dieser Erklärung unaufhörlich am Stroh seiner Zigarre gekaut hatte, kannte die Fürstin zu gut, um an der Unerschütterlichkeit ihres Entschlusses zu zweifeln.

»Und du glaubst, daß es so weit kommen wird?« fragte er.

»Ich hoffe es und ich hoffe auch, die Hartens gestohlenen Papiere zurückzuerhalten –«

»Du weißt also, wer sie gestohlen hat, in wessen Besitz sie gegenwärtig sind?« rief die Baronin dazwischen.

Wieder zuckte Lisaweta die Achseln, eine Antwort gab sie aber nicht.

»Ich habe es auch dem Polizeirat Meidler gesagt, den ich vor meiner Abreise zu Euch aufsuchte –«

»Und dennoch läßt man dich überwachen?« fuhr der alte Herr heftig auf.

Seine lange unterdrückte Erregung brach jetzt hervor.

Lisaweta jedoch antwortete gelassen. »Es wird wohl die Pflicht der Herren sein, mich im Auge zu behalten.«

»Eine Unverschämtheit ist es – sie müssen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie müssen sich danach richten, und das werde ich dem Meidler unverzüglich klar machen!« rief Reichlingen entrüstet.

»Das wirst du nicht tun, Onkel Felix, wenn ich nicht bereuen soll, so viel gesagt zu haben! Es darf nichts geschehen, ehe sich Nikolaus Scheragin seiner Aufgabe entledigt hat.«

»Was hat der Graf damit zu tun?« fragte der Feldzeugmeister gereizt.

»Er ist seit mehreren Wochen in Wien für uns tätig.«

»So kennt er die geheimnisvolle Angelegenheit, durch die deines Mannes Leben gefährdet sein soll?«

»Ich war genötigt, ihn einzuweihen, seinen Rat und Beistand zu erbitten –«

Reichlingen, der die ganze Zeit grimmig an dem Zigarrenstroh herumgebissen hatte, brummte in steigender Gereiztheit: »Und von alledem sagst du uns kein Wort? – Ist Scheragin oder sind wir deine natürlichen Berater und Beistände?«

»Gewiß seid Ihr es, doch in dieser Sache kann uns Nikolaus Nikolajewitsch aus verschiedenen Gründen eher helfen als jeder andere. Auch ist er an den diplomatischen Leisegang gewöhnt, der in diesem Falle notwendig ist. Du, Onkel Felix, verzeihe meine Aufrichtigkeit, bist aber gewöhnt, den Knoten, der sich nicht ohne weiteres lösen läßt, kurzerhand zu zerhauen. Der gänzliche Mangel an diplomatischem Geiste bei dir zwang mich zur Heimlichkeit. Daß sie mich hart drückte, darfst du glauben!«

Es trat ein Schweigen ein und als die Baronin es unterbrechen wollte, winkte Reichlingen ungeduldig ab. In dieser Stunde erfuhr er zum erstenmal, was Nervosität ist. Sein Verstand tadelte Lisaweta unerbittlich, sein Herz aber war voll Mitleid mit ihr, denn er kannte nun die Quelle der einschneidenden Veränderungen, die ihr Aussehen und ihr Wesen erfahren hatten, er wußte jetzt – sie trug eine Last, unter deren Gewicht sie fast zusammenbrach.

Und unter dem Einfluß dieses Mitleids fragte er mit ungewollt milder Teilnahme. »Und wenn Graf Scheragin deine in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen, dir nicht zu helfen vermag – was dann?«

»Er hat an einer glücklichen Lösung seiner Aufgabe noch nie gezweifelt und die Nachrichten, die er bisher gegeben, lauten durchaus zufriedenstellend,« erwiderte die Fürstin ausweichend.

»Das ist sehr erfreulich, bietet aber leider keine Garantie gegen sein wenigstens teilweises Scheitern. Darum wiederhole ich meine Frage: Was dann?« beharrte der Feldzeugmeister.

»Dann,« antwortete Lisaweta schleppend – müde, »dann werde ich natürlich auf jede Gefahr hin reden. Ich werde es, weil auf Alexanders Namen kein dauernder Schatten ruhen, weil er nicht in den Schmutz gezogen werden darf.«

»Dann tu's doch lieber gleich, Kind. Euer Name ist schon mehr als genug im Schmutze herumgezogen worden, er wird es noch immer – ich habe dir's gleich gesagt, wie du zu uns kamst« – »und durch ein langes Zögern wird's nicht besser!« sagte die Baronin dazwischen.

Die Tochter schüttelte den Kopf.

»Nicht eher als bis eine eiserne Notwendigkeit mich dazu zwingt, Mama, denn es wäre nicht gut, es würde uns danach nichts übrig bleiben, als Europa schleunigst und für immer zu verlassen, um uns an einem fernen, abgelegenen Ort zurückzuziehen, wo kein Mensch uns kennt und keiner uns sogleich vermutet.«

»Das wirst du uns doch nicht antun – jetzt, wo wir alt werden!« rief die Baronin tödlich erschreckt.

»Wir würden kaum anders können, meine gute Mama, es gibt zwingende Umstände, denen man sich nicht entziehen kann. – Es hat aber keinen Sinn, sich jetzt schon das Herz wegen etwas schwer zu machen, was hoffentlich nie eintreten wird. Ich habe Euch alles gesagt, was ich durfte, vielleicht mehr als ich sollte.« –

Die beiden alten Leute stellten trotzdem noch manche Frage, freilich vergeblich, denn es war nichts mehr aus der Fürstin herauszubringen. Sie antwortete nur durch die erneuerte Bitte, die Sache vorerst ruhen zu lassen.

»Felix,« begann Frau von Reichlingen in hörbarer Angst, als sie wieder nach Cattaro zurückgekehrt waren und in der Baronin Zimmer einander gegenüber saßen, »die Lisaweta wird die verschwundenen Akten doch nicht selbst –«

»Nicht aussprechen, Tini. nicht aussprechen!« wehrte der alte Herr heftig ab. »Eine Reichlingen kann sich nicht so vergessen!«

»Sie spricht aber doch von einer Wiedererlangung der Schriften –«

»Weil sie weiß, wer das schändliche Bubenstück verübt hat. Wie das alles möglich ist, welche Zusammenhänge hier wirksam sind, weiß ich allerdings nicht, muß es aber sein, werde ich auch das erfahren.«


 << zurück weiter >>