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10. [9]

»Ich habe Ihnen nichts zu verkaufen, wie ich schon mehr als einmal gesagt habe.«

Karamanoff sagte es mürrisch, wie in Abwehr eines überlästigen Drängens.

»Es ist gut, Iwan Feodorowitsch, ich werde fragen. Sollten Sie sich anders besinnen, so wissen Sie mich ja zu finden – Fiume, Villa Marina,« sagte die Fürstin Orlowski, ihn steif anschauend.

Ihre grauen Augen hatten einen durchdringenden, fast zwingenden Blick in diesem Augenblick. Er mochte dem kranken Mann, der trotz des warmen Wetters von Decken umhüllt in seinem Liegestuhl ruhte, unangenehm sein, denn sein Blick mied den ihrigen, ging an ihr vorbei.

Er nickte.

»Wie lange wollen Sie in Fiume bleiben?« fragte er.

»Ich weiß es noch nicht; vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen, je nachdem es mir gefällt.«

»Sie haben dafür gesorgt, daß der Fürst nicht hinkommt?«

»Ja. Wir treffen uns wahrscheinlich in Venedig.«

»Gut. Dagegen habe ich nichts, vorausgesetzt, daß niemand der Ihrigen Sie begleitet. Ich werde mich durch meine Leute vergewissern, ob Sie sich streng an die empfangenen Weisungen halten. Und vergessen Sie auch nicht, daß am 1. Mai die zweite Jahresrate fällig wird.«

Lisaweta reckte den feinen Kopf, als sie hochmütig, einen Zug der Verachtung um den Mund fragte: »Habe ich jemals einen Termin versäumt?«

»Sie haben sich wohlweislich gehütet. – Ich wünsche Ihnen glückliche Reise, Maria Lisaweta.«

Sie verstand die Andeutung und ging nach einem kurzen Gruß aus dem Zimmer.

Heute war sie Karamanoff unbequem, er wollte sie los sein. Wahrscheinlich, weil sie wieder nach den gestohlenen Papieren gefragt hatte und er bei allem im Grunde seiner Seele doch ein Feigling war.

Sie war nicht so – so harmlos wie er meinte, sie durchschaute ihn! Nicht aus Laune, nicht um ihr seine Macht über sie zum Bewußtsein zu bringen, wie sie bisher gewähnt, verbot er Alexander das Betreten österreichisch-ungarischen Bodens, feige Furcht leitete ihn dabei. Der Fürst sollte womöglich kein klares Bild von der Lage erhalten, in der sie sich befand, er sollte nicht erfahren, in welch ein häßliches Licht der Schriftendiebstahl sie gerückt hatte – er fürchtete ihn! Seine Forderung, allein nach Venedig zu gehen, hatte es ihr geoffenbart.

In dem engen Vorzimmerchen traf sie die Aschkin, die sich vor einer Weile auf einen heimlichen Wink von ihn dahin zurückgezogen hatte.

Jetzt trat sie ihr entgegen und fragte mit stark gedämpfter Stimme, um von ihrem Bruder nicht gehört zu werden: »Wünschen Sie mich zu sprechen, Fürstin Orlowski?«

»Ja, es wäre mir lieb, wenn Sie etliche Minuten übrig hätten,« antwortete Lisaweta.

Die Aschkin ging voraus zur hintersten Tür, die sie leise aufdrückte, und bat die Fürstin durch eine Handbewegung einzutreten.

Es war ihr eigenes, sehr bescheidenes Zimmer, das sie ihr geöffnet hatte.

Sie schob ihr einen der einfachen Rohrstühle zu, hier die einzigen Sitzgelegenheiten, und sagte dringend, in scheuem Flüsterton: »Es dürfen aber wirklich nur Minuten sein, Maria Lisaweta. Mein Bruder ist sehr krank, das sehen Sie selbst, er darf sich nicht aufregen, und bleibe ich länger fort, so faßt er Verdacht und regt sich auf.«

»Er ist, wie ein Mensch sein muß, der es treibt wie er. Man handelt nicht ungestraft an seinen Mitmenschen, wie er an mir handelt. Bezahlt man es nicht mit einer Zuchthausstrafe, so doch mit der eigenen Gesundheit.«

Das Gesicht der Russin war plötzlich so weiß geworden als die Wand. Es sah jetzt alt und verfallen aus wie das einer Greisin.

Mit rauher, schwankender Stimme erwiderte sie ruckweise: »Iwan Feodorowitsch ist nicht schlecht – ein Idealist – ein Schwärmer ist er! – Wer will es ihm zur Sünde anrechnen, wenn die Menschheit ihm höher steht als das Behagen des einzelnen?«

»Niemand, das ist seine Sache.« –

»Sie sagen es selbst, Maria Lisaweta!« klammerte sich die Frau an die letzten Worte der Fürstin.

»Gewiß ist das seine Sache. Daß er die Menschen über den einzelnen stellt, gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, diesen jener zu opfern, ihn zu ruinieren.«

»Er hat auch sich selbst geopfert und ruiniert!« –

»Das durfte er. Mit dem, was mein ist, kann ich anfangen, was ich will, nicht aber mit dem, was anderen ist. Es hat keinen Zweck, mit Ihnen darüber zu streiten. Sie können als seine Schwester so wenig mir recht geben wie ich Ihnen. Jedenfalls sind Sie einsichtsvoller und gegenwärtig auch weit kräftiger als Karamanoff, und darum wollte ich Ihnen sagen, was ich drinnen nicht aussprechen mochte. Also: sorgen Sie dafür, daß er die Papiere, die Lenowostowoi dem Grafen Hartens unter meinen Augen gestohlen hat, an mich verkauft. –«

»In die geschäftlichen Angelegenheiten meines Bruders mische ich mich grundsätzlich nicht,« lehnte die Aschkin kurz ab.

Die Fürstin ballte krampfhaft die Finger. Es ging wie ein innerliches Schütteln durch sie – der Ekel, den das überspannte Weib ihr einflößte, aus deren Augen ebenso wie aus denen Karamanoffs ein düsterer Fanatismus flammte. Dieser Ekel hatte jedoch auch seinen Vorteil, er brachte eine eisige Ruhe über sie.

»Wie Sie wollen, Helene Markowna. In Ihres Bruders Interesse handeln Sie aber nicht, bleiben Sie auch für unseren Fall Ihrem Grundsatze treu. Im Gegenteil, Sie schneiden in Ihr und in sein Fleisch.«

Lisaweta zog den Schleier vors Gesicht und machte eine Bewegung des Aufstehens. Wie zögernd, wie widerwillig und doch auch wie einem übermächtigen Triebe gehorchend, legte sich die Hand der Aschkin auf ihren Arm.

Jähe Sorge und Mißtrauen kämpften in dem Weibe.

»Noch eine Minute, Fürstin Orlowski! – Was wollten Ihre letzten Worte sagen?« bat sie mit heiserem Flüstern.

»Das, was sie ausdrückten, nicht mehr, nicht weniger. Die Polizei wendet mir wie Ihrem Bruder die lebhafteste Teilnahme zu, hat uns beide scharfer Aufsicht unterstellt, ihre Agenten beobachten uns, folgen unseren Schritten –«

Mit einem unterdrückten Wehlaut schlug Helene Markowna die Hände vors Gesicht.

Eine warme, eine weiche Regung zitterte durch Lisawetas Seele bei diesem Laut, in dem so viel tiefes Herzenselend, so bitterer Jammer seinen Ausdruck fand. Die Aschkin litt wie sie – still für sich, ängstlich bedacht, nichts nach außen dringen zu lassen von dem drängenden, gärenden Weh in der Brust. Sie mußte an all das erdrückende Unheil denken, das Karamanoff über sie und ihren Mann gebracht hatte, um nicht das Mitleid Herr über sich werden zu lassen. Als die Frau, die Hände vorm Gesicht, unbeweglich stehen blieb, weder eine Aeußerung noch eine Frage hören ließ, fuhr die Fürstin fort: »Daß unter diesen Umständen Iwan Feodorowitsch nichts besseres tun kann, als die dem Grafen Hartens abgenommenen Papiere an mich zu verkaufen, liegt auf der Hand. Ich schicke dem Bestohlenen das Paket anonym zu, und die Sache dürfte damit aus der Welt geschafft sein, denn ich habe Grund zu glauben, daß der Behörde daran liegt, mir Unannehmlichkeiten zu sparen, sofern es möglich ist. Das wird es aber nur sein, wenn die Schriften beikommen. Mit der Wiedererlangung fällt das Interesse der Polizei für Ihren Bruder in sich zusammen, kann ich die Einstellung des Verfahrens in der Schmuckangelegenheit beantragen.« –

Eine Blutwelle überflutete Helene Markownas Gesicht.

»Was wollen Sie damit – was kümmert uns der Schmuck, der Ihnen gestohlen wurde?« fragte sie finster, haßerfüllt. »Antworten Sie, Fürstin Orlowski!«

Die Russin stand jetzt dicht vor ihr und schaute sie aus glühenden Augen starr an.

Auf Lisaweta machte das geringen Eindruck.

»Ich habe Ihnen bereits geantwortet, Helene Markowna,« entgegnete sie kühl.

»Ein Achselzucken ist keine Antwort!«

»O doch. Es heißt: Weiß ich, ob auch diese Sache Iwan Feodorowitsch bekümmert?«

»Sie – Sie beschuldigen ihn, der Dieb Ihres Schmuckes zu sein –?«

Die Aschkin vermochte kaum zu sprechen, ihre Stimme schwankte bis zur Unverständlichkeit auf und nieder.

»Die Polizei hält ihn dafür und würde sich zweifellos schon eingehend mit ihm beschäftigt haben, hätte ich nicht bestimmt erklärt, daß ich den Schmuck erst nach seiner Entfernung in den Sekretär geschlossen habe –«

»So wissen Sie ja, daß er ihn nicht genommen hat!« rief die Frau.

Lisaweta schaute sie spöttisch an.

»Sie sind naiv, Helene Markowna!«

Diese verstand, und unter dem Verstehen zog sich das brennende Rot aus ihrem Gesicht zurück, um fahler Blässe zu weichen. Ihr Kopf senkte sich auf die Brust, die sich schwer hob und senkte.

Die Fürstin aber fuhr, den über sie errungenen Vorteil verfolgend fort: »Sie ersehen auch hieraus, Helene Markowna, wie nötig es um Ihrer beider willen ist, daß Karamanoff die Papiere herausgibt. Andernfalls könnte es doch zu Haussuchungen, Vernehmungen und selbst zu Verhaftungen kommen –«

»Sie fürchten für sich!« warf die Russin dazwischen.

»Können Sie vielleicht erwarten, daß ich für Ihren Bruder fürchte?« war der Fürstin Gegenbemerkung.

Wieder senkte sich Helene Markownas Kopf. Sie fand keine Antwort.

»Für wen ich fürchte, kann Ihnen übrigens gleichgültig sein, die Vorteile meines schon so oft wiederholten Kaufgebotes kommen Ihnen ja mindestens im gleichen Maße wie mir zugute, und das muß für Sie doch das Ausschlaggebende sein. Sorgen Sie also dafür, daß Karamanoff darauf eingeht. Mehr als ich ihm biete, wird er von keiner anderen Seite erhalten, höchst wahrscheinlich sogar bedeutend weniger, denn der Inhalt der Schriften ist kein besonders wichtiger, weil er für jene, denen die nebenher geführten mündlichen Abmachungen fremd sind, unverständlich ist. Ich erwarte sofort Nachricht, sobald er eingewilligt hat,« schloß Lisaweta.

Die Frau sah sie aus erloschenen Augen an.

»So schnell wird es nicht gehen, Fürstin Orlowski, Sie werden sich in Geduld fassen müssen. Iwan ist nicht gewohnt, daß ich mich in seine Geschäfte mische, und liebt es auch nicht. Ich werde einen sehr schweren Stand haben. Es soweit zu bringen, ist nicht einfach, sofern es überhaupt gelingt,« sagte sie matt.

»Wie Sie es anfangen, ist Ihre Sache. Bringen Sie ihm doch die Wahrheit bei –«

»Gott bewahre! – Diese Aufregung – es könnte sein Tod sein!« rief die Aschkin, erschreckt schon durch den Vorschlag.

»Deshalb habe auch ich, meiner Absicht entgegen, nichts zu ihm gesagt. Man sieht ihm an, daß er elend ist. – Tun Sie, was Sie können, und kommen Sie ans Ziel, so geben Sie mir Drahtnachricht – Fiume, Villa Marina. Ich werde dann sogleich zurückkommen.«

Lisaweta war aufgestanden und neigte jetzt leicht den Kopf gegen die verstört aussehende Russin.

Diese gab ihr das Geleit bis an die Flurtür, an der sie, die Hand auf der Klinke, stehen blieb.

»Iwan Feodorowitsch ist kein schlechter Mensch, Fürstin Orlowski, und vermöchte er sein Ziel auf anderen Wegen zu erreichen, so würde er keine Seele kränken, glauben Sie mir,« sagte sie leise, ein Schluchzen in der Stimme.

Und wieder von Mitleid ergriffen, antwortete die Fürstin: »Das mag ja sein, an den Tatsachen ändert es leider wenig.« –

Als sie aus dem Hause trat, schaute sie, unter dem Tor stehen bleibend, erst die Gasse hinauf und hinunter, ehe sie wieder den Wagen bestieg, dessen Schlag der Kutscher geöffnet hatte. Es war nichts Auffallendes zu sehen. Die Passanten verfolgten gleichgültig ihren Weg – am unteren Ende der Straße aber stand ein zweiter Fiaker. Das war nichts besonderes, auffallend aber war, daß der Kutscher sich gerade richtete und die Zügel faßte, sowie er ihrer ansichtig wurde.

So belanglos dieser Vorgang war, für Lisaweta hatte er seine Bedeutung. Ihr erster Gedanke war: »Dieser Fiaker verfolgt mich!« Und um sich darüber Gewißheit zu verschaffen ließ sie ihren Wagen wenden und gab dem Kutscher die Weisung, sie nach der Mariahilferstraße zu fahren.

»Nummer 46 oder 48, ich weiß es nicht genau. Wenn wir an Ort und Stelle sind, läute ich. – Kommen wir an dem Wagen dort hinten vorbei?«

»A bißl eng is scho, wann ma aber aufpaßt, geht's do, gnä Frau. – Bitt schön!« und er zog den Wagenschlag des bequemen Einsteigens wegen noch weiter auf.

»Fahren Sie recht langsam, bis wir vorüber sind, damit nichts passiert,« empfahl die Fürstin.

»Jawohl, Eure Gnaden.«

Im Schritt fuhr der Fiaker an dem wartenden Wagen vorüber, und Lisaweta, die anscheinend gleichgültig aus dem Fenster sah, erblickte einen jungen Mann im Innern, der sich soeben eine Zigarette drehte und in diese Beschäftigung vertieft schien.

Lisaweta hatte nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können und seine Züge hatten sich ihr dabei nicht eingeprägt. Wohl aber war ihr aufgefallen, daß sein Gesicht glattrasiert war.

Als sie am Fürst Auerspergschen Palais vorüberfuhr, schaute sie durch das Fensterchen in der Rückwand des Fiakers – zwei bis dreihundert Schritt hinter dem ihrigen folgte ein zweiter.

Ueber ihr Gesicht ging ein müdes Lächeln.

»Zufall oder Verfolgung?«

Es ließ sich noch nicht entscheiden, man mußte abwarten.

Als sie in der breiten Mariahilferstraße das erste große Modewarengeschäft auftauchen sah, ließ sie halten, stieg aus und kaufte eine Kleinigkeit. Das Geschäft wickelte sich in einer kleinen Viertelstunde ab, und als Lisaweta, von dem Verkäufer begleitet, der ihr Päckchen zum Wagen trug, den Laden wieder verließ, schweifte ihr Auge suchend die Straße hinauf und hinunter.

Etwa vor dem fünften Hause oberhalb des Modewarengeschäftes stand wieder ein Fiaker, und sie hätte darauf schwören mögen, daß es der aus der Piaristengasse wäre.

»Der Prossl hat recht, sie beobachten, sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt! . – Diese Narren, was sie sich wohl einbilden, dadurch herauszubringen?« ging es durch ihren Kopf.

Des Kutschers Stimme rief sie aus diesen Gedanken, unter denen sie eingestiegen war. »Wohin fahrn ma jetzt Euer Gnaden?« fragte er.

Und Lisaweta: »Nach dem Sicherheitsbüro. Sie wissen es doch?«

Diese Weisung mochte dem Kutscher etwas überraschend sein, denn er schaute sie einen Augenblick verblüfft an, ehe er mit dem unvermeidlichen Fiakerkutscher-Lächeln erwiderte. »Jawohl, Euer Gnaden, natürlich, dös waß do a jed's Kind in da Weanerstadt.« –

Der Fiaker mit Lisaweta fuhr mit schlankem Trab dem ihm gegebenen Ziel entgegen, sie aber lehnte müde in einer seiner Ecken. Sie war jetzt immer müde – todmüde. Vor der Reise nach Berlin war sie es nur ab und zu gewesen.

Bei Karamanoffs hatte heute zum erstenmal sie schließlich die Oberhand gewonnen. Ihre Eröffnungen hatten die Helene Markowna bis ins Innerste getroffen. Armes Weib, trotz allem war auch sie zu bedauern – – war wohl auch sie ein Opfer ihres vergötterten Bruders! – Vielleicht war er selbst jedenfalls ein Opfer, das seines eigenen Fanatismus! Die Grenze zwischen Verbrechen und Wahnsinn ist ja so schwer zu ziehen – schwerer wie jede andere. Die Linien schneiden sich immer wieder, laufen immer wieder dicht nebeneinander, verfließen immer wieder ineinander. Wer stellt fest, wo das eine endet und das andere anfängt?

Aber was ging das sie an? – Nichts, gar nichts! Sie hatte Wichtigeres zu tun, als über solche Fragen zu grübeln.

Ob der Besuch bei Meidler wohl verhältnismäßig ebensogut verlaufen würde? – Jedenfalls hieß es vorsichtig sein und sich kein Wort mehr entlocken lassen, als sie sagen wollte – sagen durfte. Der Polizeirat war ein Mann von großer Liebenswürdigkeit, und das machte ihn gefährlich.

Ueberlegte sie es richtig, so war es ein gewagter Schritt, ihn aufzusuchen – sie lief dem Löwen geradezu in den Rachen, und beliebte es ihm, sie zu verschlingen, so brauchte er nur zuzuschnappen. – Freilich, wenn er wollte, konnte er es ja auch, ohne daß sie zu ihm ging. Die Macht hatte er und erreichbar war sie ihm auch jeden Augenblick. Die Häscher saßen ihr ja schon auf den Fersen!

Ein trübes Lächeln ging leise durch ihre wieder recht abgespannten Züge.

Ihre Lage war doch eine selten gräßliche! – Und dabei so trostlos! – Es gab kaum viele, die ohne ein wirkliches Verschulden bis an den Hals in derartigen Wirrnissen saßen! – Ein Segen, daß Gott ihr heißes Sehnen nach Kindern nie gestillt hatte! –

Ein kurzer Ruck – die Pferde standen.

Lisaweta fuhr wie aus einem Traum in die Höhe.

»Da san ma, Euer Gnaden!« und der lächelnde Kutscher schickte sich an, seinen vornehmen Fahrgast beim Aussteigen zu stützen.

Die Fürstin brauchte nicht lange zu suchen. Sie hatte nur wenige Schritte ins Gebäude hineingetan, als ihr ein Amtsdiener entgegenkam, der sie auf ihre Frage nach dem Polizeirat Meidler bis an seine Tür führte.

»Kann man ohne weiteres eintreten?« fragte sie.

»Ich glaub' schon. 's ist alles still drinnen, und so ist der Herr Polizeirat allein. Ich kann ja aber fragen,« antwortete der ältliche Diener und klopfte auch schon an die Tür.

Auf ein ungeduldiges »Herein!« drückte er sie auf, schob den Kopf in den Spalt und meldete: »Herr Polizeirat, eine Dam' möcht' den Herrn Polizeirat sprechen.«

Es kam der kurze Bescheid zurück: »Soll hereinkommen!«

Meidler konnte auch, wie die Fürstin jetzt erfuhr, weniger liebenswürdig sein, als er sich bei seinem Besuch wegen des Aktendiebstahls gezeigt hatte.

Es waren unangenehme Empfindungen, die sie beim Ueberschreiten seiner Schwelle beschlichen.

Was sollte sie sagen, wie sich einführen? – Sie hätte es sich vorher überlegen sollen. – Sie war auch noch leichtsinnig!

»Herr Polizeirat –«

Meidler, der den Kopf gewendet hatte, um seine Besucherin ins Auge zu fassen, sprang auf und eilte ihr nach einer respektvollen Verbeugung entgegen.

»Eure Durchlaucht!« –

Wunderliche Menschen! Dieser da hält mich für eine oder doch für die Mitschuldige eines Diebes, und trotzdem empfängt er mich, als wäre ich eine Königin! Wunderliche Menschen! zuckte es durch ihren Kopf.

»Sie kennen mich noch, Herr Polizeirat?« fragte sie laut.

»Ich habe längst die Ehre, Eure Durchlaucht vom Sehen zu kennen,« erwiderte er und bat sie, auf dem dunkelroten Samtsopha alten Stils, das sein Amtszimmer schmückte, Platz zu nehmen.

Den davorstehenden Tisch rückte er diensteifrig zur Seite

Wunderliche Welt! – Wunderliche Menschen! – Ihr Besuch mußte ihm sehr angenehm sein, man sah es ihm an.

Erst als sie sich auf das Sopha gesetzt hatte, ließ er sich ihr gegenüber nieder und fragte zuvorkommend: »Und womit kann ich dienen, meine gnädigste Frau?«

Lisaweta lächelte.

»Eigentlich müßte ich Sie das fragen, Herr Polizeirat, denn Sie haben mich ja durch Herrn Prossl zu diesem Besuch einladen lassen,« antwortete sie.

Meidler lächelte ebenfalls. Ein bißchen Triumph, ein bißchen Verlegenheit und sehr große Liebenswürdigkeit lagen in seinem Lächeln.

»Ich glaubte, es in Durchlauchts Interesse tun zu sollen. Der Prossl wollte aber nicht recht anbeißen, machte allerlei Ausflüchte, gab vor, von der Sache nichts zu wissen –«

»Das dürfen Herr Polizeirat ihm nicht übel nehmen. Er konnte nicht gut –«

»– anders,« fiel ihr der Beamte verständnisvoll in die Rede. »Gewiß durfte er nicht sprechen, nichts zugeben, ein Detektiv ist so gut Vertrauensmann wie ein Arzt oder Rechtsanwalt und muß zu schweigen verstehen wie diese. –

Um aber zur Sache, zu kommen,« fuhr er nach einem kurzen, abwartenden Schweigen fort »der Herr Polizeidirektor und ich würden uns herzlich freuen, wenn Durchlaucht uns Gelegenheit geben, Sie aus der jedenfalls sehr unsauberen Gewalt des Iwan Feodorowitsch Karamanoff zu befreien. Er beutet Sie – soviel ist uns schon jetzt bekannt – in einer wahrscheinlich ganz schamlosen Weise aus, und jedenfalls nützte er diese Macht auch aus, um Durchlaucht in einer für Sie höchst fatalen, für Ihren Ruf und Ihr Ansehen höchst nachteiligen Weise in den Schriftendiebstahl zu verwickeln, der in der Nacht vom 9. auf den 10. März in dem von Ihnen und dem Legationssekretär Graf Hartens benützten Abteil des Berlin–Wiener Schnellzuges statthatte. Gnädigste Frau dürfen nichts wissen, dürfen nichts gehört und gesehen haben von dem, was sich während Graf Hartens Abwesenheit aus dem Abteil abspielte, obgleich es nach Lage der Dinge strikte ausgeschlossen ist, daß Ihnen die diebischen Manipulationen Ihres Mitreisenden entgangen sind.«

Lisaweta war jetzt sehr kühl und hatte sich mit einem Hauch vornehmer Unnahbarkeit umgeben, den sie unter Umständen so gut anzunehmen verstand.

Die Hand leicht erhebend, sagte sie: »Bitte, Herr Polizeirat, wie wollen Sie das beweisen?«

Er hatte seine Behauptung mit der ganzen überlegenen Sicherheit des gewiegten und allwissenden Kriminalisten aufgestellt, vielleicht auch mit Lisawetas Unerfahrenheit in derartigen Unterhaltungen gerechnet und deshalb diesen, so kühl vorgebrachten Einwand nicht erwartet. Wenigstens ging ein flüchtiger Zug von Verlegenheit durch seine freundlichen Züge, ehe er entgegnete: »Hm, beweisen, meine gnädigste Fürstin, einen überführenden Beweis kann ich allerdings vorerst noch nicht erbringen, Sie werden jedoch zugeben, daß logischerweise jedermann, auch der Nichtkriminalist –«

»Dann wollen wir vorerst auch nicht darüber diskutieren, Herr Polizeirat, wenn es Ihnen recht ist,« versetzte sie wieder sehr liebenswürdig.

»Durchaus recht, Durchlaucht, durchaus! Nur möchte ich mir erlauben, noch etliche kleine Notizen vorzulesen, die wenigstens zeigen, daß meine Behauptung nicht so im Leeren steht, wie gnädigste Frau anzunehmen scheinen.«

Nach diesen Worten Zog Meidler ein Schubfach seines Arbeitstisches auf, holte eine schwarze Aktenmappe heraus und begann zwischen den darin liegenden Papieren zu kramen.

Lisaweta schaute ihm dabei zu, als handelte es sich um etwas für sie Gleichgültiges, gelassen, uninteressiert, während doch eine heftige Unruhe über sie gekommen war.

Was wollte ihr der Polizeirat vorlesen, was konnte ihm als solide Grundlage für seine Behauptung dienen? Sie hatte in der Angelegenheit mit Karamanoff doch niemals auch nur eine Zeile geschrieben, und er wie seine Schwester hatten es sicherlich ebensowenig getan.

Inzwischen hatte er ein kurzschriftlich beschriebenes Notizblatt aus der Mappe herausgeholt, und nun sagte er: »Durchlaucht, ich muß um die vollste Aufmerksamkeit bitten,« sagte er, die Fürstin scharf fixierend.

»Ich höre,« erwiderte Lisaweta, die genügende Selbstbeherrschung besaß, um durch kein äußerliches Zeichen ihre Angstbeklemmung zu verraten.

Meidler nahm das Notizblatt in die Hand und sagte, ehe er zu lesen begann: »Erinnern Durchlaucht sich, daß Sie am 29. März abends zwischen sieben und acht Uhr, Karamanoff besuchten und nahe an eine Stunde bei ihm verweilten?«

»Daß ich gerade am 29. März bei ihm war, ist mir zwar nicht mehr erinnerlich, Herr Polizeirat werden es ja aber wohl besser wissen, denn heute habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß die Polizei mich durch ihre Agenten verfolgen läßt,« antwortete sie.

»O, von einer Verfolgung ist doch noch lange keine Rede, meine gnädigste Frau! – Darf ich lesen?«

»Bitte!«

Und der Polizeirat lächelnd: »Im Laufe der längeren Unterredung mit Karamanoff äußerten sich gnädigste Fürstin unter anderem wie folgt: »Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag. Ein vorteilhafteres Angebot. – Und merken Sie sich, Iwan Feodorowitsch, daß ich in derlei Dingen nicht so willfährig bin wie« – Karamanoff entgegnete hierauf: »Wie oft muß ich noch sagen, daß wir uns durch den sogenannten Vertrag nicht gebunden fühlen.« – Durchlaucht: »Ich gehe keinen Schritt mehr über die festgelegten Verbindlichkeiten – meine Geduld ist zu Ende. – Vergehungen – Ehrlosigkeiten – kein zweitesmal mehr!« – Karamanoff: – bitter bereuen – Sie wissen, was Ihrer wartet.« – Durchlaucht: »Gemeine Verbrechen zu unterstützen.« – Karamanoff: »Schlagworte, bestimmt, zu blenden – wir haben Sie in der Hand, Maria Lisaweta, nicht Sie uns.«

Schlimm, daß man so viel erlauscht hatte, es konnte ihren Plan zum Scheitern bringen!

Meidler, der eine Pause hatte eintreten lassen, hob jetzt seine Blicke von dem Notizblatt und fixierte wieder die Fürstin.

Sie lächelte, sah aber noch so uninteressant aus wie vorhin.

»Bitte weiter!« sagte sie.

Durch den Kriminalisten schoß eine Wallung des Zorns. Die schönsten Trümpfe spielte er aus, sie glitten aber wirkungslos an dem verwünschten Weibe ab!

»Das ist alles, Durchlaucht,« antwortete er trocken.

»Ach!«

»Ich dächte, meine gnädigste Frau, es wäre genug. Es beweist, daß Karamanoff Sie über die für Ihre Leistungen vertraglich gezogenen Grenzen hinausgedrängt hat, es gibt Aufschluß über das Wesen dessen, was er Durchlaucht aufgebürdet hat, es beweist, daß Karamanoff Durchlaucht in seiner Gewalt hat oder zu haben vorgibt –«

»Herr Polizeirat, ich bitte nicht außer Acht zu lassen, daß das, was Sie mir soeben vorzulesen die Güte hatten, Brocken sind, nichts als Brocken, aus denen nicht einmal andeutungsweise hervorgeht, wovon die Rede war. Solange man aber das nicht weiß, solange weiß man – ich bitte sehr um Entschuldigung – überhaupt nichts.«

»Schlagfertig wie eine Hexe und schlau wie' eine solche!« dachte der Polizeirat ärgerlich.

Dann sagte er: »Sehr richtig, Eure Durchlaucht; es ist aber durchaus nicht nötig, alles mit mathematischer Bestimmtheit zu wissen, und für uns auch nicht immer möglich, wenn wir der Wahrheit nachgehen. Ich höre, ich sehe, ich kombiniere und schließlich wird es mir zur Gewißheit. Sie hat mich nur in ganz seltenen Fällen betrogen.«

»Ach, das ist etwas anderes.«

»Durchlaucht wollen mir dann erlauben, auf der so gewonnenen Gewißheit fußend, Sie in Ihrem eigensten Interesse um volles Vertrauen zu bitten. Wir sind in der Lage, Sie vor Karamanoff zu schützen, und wir werden es tun. Wir müssen aber die dem Grafen Hartens gestohlenen Akten wiederhaben und können uns zu diesem Behufe begreiflicherweise nur an jene halten, die den Dieb kennen, die wissen, in welchen Händen sie sich befinden. Wir wünschen jedoch, diese Angelegenheit gewissermaßen unter der Hand zu erledigen, soweit Eure Durchlaucht beteiligt sind, würden aber im äußersten Falle auch vor der Anwendung behördlichen Zwanges nicht zurückschrecken dürfen, so außerordentlich leid es uns täte.«

Zum erstenmal während dieser Unterredung hatte Meidler sehr ernst, selbst mit starkem Nachdruck gesprochen, und Lisaweta fühlte sich ernstlich erschreckt. Sie stand in einer Sackgasse, deren einziger Ausgang verschlossen war. Und dieser würde sich ihr erst erschließen, wenn sie sich der Forderung des Polizeirats fügte. Das aber konnte sie nicht, wenigstens jetzt noch nicht, ohne preiszugeben, was ihr das Wichtigste war.

Hätte sie Nadaschas Drängen doch nur nachgegeben, sich schon eher an Scheragin gewandt – nur um einige Wochen eher!

Meidler störte ihr Nachdenken nicht.

»Herr Polizeirat,« begann sie nach etlichen Augenblicken, einer blitzartigen Eingebung gehorchend, »zu sagen habe ich heute nichts, auch im strengsten Vertrauen nicht. Nur einen Vorschlag möchte ich Ihnen machen. Nehmen Sie den Bock – der bin ich ja doch in Ihren Augen – für eine Weile zum Gärtner – machen Sie mich in der Schriftendiebstahlsaffäre zu Ihrer Agentin. Ich werde Ihnen zwar keine Berichte erstatten über meine Tätigkeit, aber ich werde alles aufbieten zu ihrer Wiedererlangung und hoffe binnen ein paar Wochen – sagen wir vier bis fünf – ans Zielen zu kommen.«

Lisaweta war in diesem Augenblick eine durchaus große Dame, die das Gewicht ihres Namens kennt, die sich seiner Bedeutung als Bürgschaft voll bewußt ist.

Sie lehnte sich in die Sophapolster zurück und heftete ihre klaren, dunkelgrauen Augen auf den Polizeirat. Er aber war durch diesen Vorschlag so überrascht – nein, verblüfft – daß er zunächst überhaupt nichts sagte.

Endlich raffte er sich auf zu der seine Empfindungen veranschaulichenden Aeußerung: »Frau Fürstin, das ist der wunderlichste Vorschlag, der mir jemals gemacht wurde!«

»Das glaube ich. Vielleicht ist es aber nicht der schlechteste,« antwortete sie kaltblütig.

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« –

»So überlegen Sie es sich – überlegen Sie es mit dem Herrn Polizeidirektor. Sagen Sie ihm auch, daß mir in meinen Bemühungen um die diplomatischen Noten keine gering zu schätzende Kraft zur Seite stehen wird –«

»Die wäre, Durchlaucht?« fragte Meidler rasch.

»Wollen Sie nähere Mitteilungen als strenge Vertrauenssache betrachten, Herr Polizeirat?« fragte die Fürstin.

Er zögerte mit der Antwort. Die Orlowski stellte ihm Zumutungen – Zumutungen. –

»Wenn ich den betreffenden Namen wenigstens dem Herrn Polizeidirektor nennen darf –«

»Dagegen habe ich nichts, vorausgesetzt, daß er nur zwischen Ihnen beiden genannt wird,« erwiderte Lisaweta.

»Das glaube ich zusagen zu dürfen.«

Sie nickte.

»Mein Beistand wird ein Vetter meines Mannes sein, der russische Staatsrat Graf Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin. Ich treffe in den nächsten Tagen mit ihm zusammen.«

Graf Scheragin spielte am russischen Hofe eine sehr hervorragende Rolle, war eine so einflußreiche Persönlichkeit, daß sein Name auch in Wien als der eines Mannes von Bedeutung wie auch als der eines Ehrenmannes bekannt war. Der Polizeirat zeigt sich auch sofort lebhaft interessiert, als Lisaweta ihn nannte, gleichzeitig stiegen ihm jedoch allerlei Zweifel und Bedenken auf.

Der Staatsrat Scheragin war ein aufrechter, selbst in Ehrensachen zu peinlicher Herr, um sich persönlich in irgendeiner Form mit Spionageaffären abzugeben, mochte er die Spionage auch als ein notwendiges Uebel betrachten – bei ihm waren die gestohlenen Schriftstücke also nicht zu holen und ebensowenig wohl durch ihn. – Führte die Fürstin das Gewicht seines Namens etwa nur ins Treffen, um die Behörde ihren sonderbaren Wünschen günstig zu stimmen? .

So wurde der Name, der ihm im ersten Augenblick stark imponierte, im zweiten zum Erreger eines lebhaften Mißtrauens, das seinen Ausdruck fand in der Bemerkung: »Ich bitte Durchlaucht vielmals um Verzeihung, aber ich bezweifle, daß der Herr Staatsrat Graf Scheragin geneigt sein dürfte, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen –«

Lisaweta unterbrach ihn mit einem Anflug von Hochmut: »Erlauben Sie mir die Versicherung, Herr Polizeirat, daß er dazu geneigt ist. Allerdings nicht um der Sache selbst, sondern um meinetwillen.«

»Durchlaucht geben also zu, hineinverwickelt zu sein?« fragte Meidler, seinen Vorteil wahrnehmend, rasch.

»Das habe ich noch nie bestritten, Herr Polizeirat. Dadurch, daß der Diebstahl in meiner Gegenwart ausgeführt wurde, bin ich in gewissem Sinne hineinverwickelt,« parierte sie ebenso schnell.

Meidler, der nichts dagegen einzuwenden wußte, lächelte schweigend Und vieldeutig. Die Fürstin aber führt fort: Ich wiederhole, daß ich heute, daß ich voraussichtlich vor Ablauf etlicher Wochen keine näheren Erklärungen geben kann und geben werde.«

Diese Worte selbst und auch der Ton, in dem sie gesprochen wurden, reizten den Kriminalisten. Die Fürstin trat auf, als ob sie zu bestimmen hätte und schien völlig zu vergessen, daß sie im Schatten eines schweren und häßlichen Verdachtes stand.

In einem scharfen, sehr amtlichen Tone sagte er darauf: »Ich möchte aufmerksam machen, daß Durchlaucht in die Lage kommen könnten, diese Erklärung rückgängig zu machen und uns mitzuteilen, was Sie wissen.«

Langsam hob sie die leicht gesenkten Blicke und heftete sie kalt und fest auf den gereizten Beamten. Einen Augenblick maßen sie sich gegenseitig. Seine Augen sagten ihr: »Ich habe die Gewalt, dich zu beugen!« Die ihrigen antworteten ihm: »Du hast sie nicht, deine Macht ist eine reine äußerliche!« Und beide verstanden sich.

Dann sagte sie ebenso kalt und entschieden: »Ich habe die versteckte Drohung verstanden, Herr Polizeirat. Sie wollen mir damit sagen, daß die Polizei zu meiner Verhaftung schreiten kann. Das weiß ich ohnehin, und es mag sein, daß die Umstände eine solche Maßregel rechtfertigten. Nützen würde sie Sie aber nichts, denn ich würde jede Erklärung genau ebenso verweigern, wie ich es jetzt tue. – So stelle ich Ihnen denn nochmals anheim, dem Herrn Polizeidirektor von meinem Vorschlag Kenntnis zu geben.«

Meidler war so erbost und so mißtrauisch, daß er am liebsten die Hand auf ihre Schulter gelegt und gesagt hätte: »Sie sind verhaftet!« Ohne Wissen und Genehmigung seines Chefs, des Polizeidirektors, wagte er diesen Schritt indessen nicht. Die Verantwortung war ihm zu groß.

»Es wird geschehen. Ich muß Durchlaucht jedoch bitten, Ihre Wohnung vorläufig nicht wieder zu verlassen,« entgegnete er mit einer höflichen Verneigung.

Lisaweta ging es wie ein Stich durch die Brust.

Also doch!

Sie hatte es nicht erwartet.

Ihr hart getroffener Stolz vermittelte ihr die Kraft, äußerlich unbewegt zu bleiben und eisig zu sagen: »Es ist gut, Herr Polizeirat, ich werde bis nach Empfang des definitiven Entscheids daheim bleiben. Sehr dankbar wäre ich aber, wenn er mir bis morgen abend zukäme, denn ich möchte Donnerstag morgens zu einer Unterredung mit dem Staatsrat Scheragin nach Abazzia abreisen. Seine Zeit ist kostbar, ich darf ihn nicht länger aufhalten. Von dort begebe ich mich zu meiner Mutter, wo ich im Laufe des Freitag eintreffen werde. Fiume, Villa Marina. Ihre Agenten können mich dort bequemer überwachen als hier.«

»Durchlaucht zwingen uns dazu,« sagte er.

»Ich habe auch durchaus nichts dagegen, Herr Polizeirat. Es geniert mich ja nicht,« antwortete sie hell und stand auf.

Er stand ebenfalls auf und begleitete die Fürstin bis an die Tür seines Amtszimmers, wo er sich mit höflicher Förmlichkeit verabschiedete.

Der Aerger über den zähen Widerpart, den Lisaweta ihm hielt, über ihr aalgleiches Entschlüpfen, so oft er sie zu halten meinte, hatte ihm die Maske der Liebenswürdigkeit und der warmen Teilnahme abgerissen. –

Als sie etliche Minuten später ins Freie trat, bemerkte sie sofort den Fiaker aus der Piaristengasse und der Mariahilfstraße. Wie die beiden vorherigen Male, so hielt er jetzt wieder in einem bescheidenen Abstand von ihrem Wagen.

Auf des Kutschers: »Wohin fahren ma jetzt Eure Gnaden, i bitt' recht schön?« gab sie ihre eigene Adresse an. Sie war bis zur Erschöpfung müde und hatte keine Lust, die Strecke vom Fiaker-Standplatz bis zu ihrer Wohnung zu Fuß zurückzulegen, und ein ängstliches Verschleiern ihres Besuchs bei Karamanoff war nach der Unterredung mit dem Polizeirat nicht mehr nötig.

Nach der scharfen Anspannung der Kräfte während der ganzen Unterredung mit Meidler, die keine geringen Anforderungen an ihre Geistesgegenwart, Selbstbeherrschung und Schlagfertigkeit gestellt hatte, empfand sie das sanfte Hinrollen auf elastischen Gummirädern als eine Wohltat.

Sie war jetzt völlig teilnahmslos für die äußere Welt, bis ihr plötzlich einfiel: Mein Kutscher muß doch bemerkt haben, daß wir verfolgt werden, und zweifellos weiß er auch, wer der Verfolger ist. – Was er sich wohl denken mag und ob er mich kennt? – Sie blieb aber durchaus ruhig bei dieser Frage. Die Grenze war überschritten, sie regte sich nicht mehr auf, es mochte kommen, was wollte. Auch wegen des über sie verhängten vorläufigen Hausarrestes regte sie sich nicht auf. Er kam ihr sogar wie eine drollige Farce vor. Sie fand es beinahe lächerlich, daß die Polizei mit so kleinlichen Mitteln arbeitete. Hoffte sie wirklich damit etwas zu erreichen?

Bah! Es war Meidlers Rache, weil sie nicht nach seiner Pfeife getanzt hatte – nichts weiter.

»Nadascha,« sagte sie zu der alten Kammerfrau, als diese ihr im Ankleidezimmer die Kleider abstreifte, richte unsere Koffer, ich hoffe, wir können Donnerstag fahren. Gegen Abend kannst du noch allerlei Einkäufe machen, auch die Sachen, die ich als Geschenke mitnehme.«

»Will Mütterchen Maria Lisaweta die Geschenke nicht lieber selbst kaufen?«

»Ich kann nicht, der Meidler hat vorläufigen Hausarrest über mich verhängt.«

Mit einem unterdrückten Wehlaut sank die Frau auf einen Stuhl.

»Die Leute sind alle verrückt – alle!« stöhnte sie nach einer kleinen Weile. –


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