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6. [5]

Helene Markowna Aschkin saß in ihres Bruders Arbeitszimmer einem älteren Herrn gegenüber, der ernst und gedämpft zu ihr sprach.

Um ihren zuweilen leise zuckenden Mund hatte sich ein tief schmerzlicher Zug gegraben.

»Es gibt keine Hilfe mehr, wenn ich recht verstanden habe, Herr Doktor?« fragte sie in einem Tone, dessen starre Ruhe etwas Unnatürliches, Unheimliches hatte.

»Die ärztliche Kunst kann sie leider nicht bringen, verehrte Dame. Herr Karamanoff ist einer ausgebrannten Lampe zu vergleichen, deren Docht sich noch, vom letzten Oeltröpfchen kümmerlich nährt.«

»Tuberkulose!«

»Nein. Der Husten ist das Produkt eines vernachlässigten und chronisch gewordenen Bronchialkatarrhs, besonders quälend durch den Kräfteverfall. Allgemeine Schwäche, Nervenerschlaffung, das ist das eigentliche Leiden. Der Patient zehrt sich allmählich auf.«

»Kann ihm nicht kräftigste Nahrung, verbunden mit Nährpräparaten, dienlich sein?«

Ihre Stimme klang noch trockner, ihr Gesichtsausdruck war noch starrer.

»Es können derartige Anwendungen, die ich Ihnen übrigens sowieso empfohlen hätte, die Auflösung hinauszögern. Ueberhaupt halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß Herr Karamanoff, treten keine Komplikationen ein, noch eine Weile mitmacht. Sein Wille zum Leben ist außerordentlich stark, und ich habe schon öfter beobachtet, daß er Wunder zu wirken vermag«, antwortete der Arzt.

Helene Markowna atmete innerlich auf. Die Befreiung, die über sie gekommen war, äußerte sich indessen weder durch einen hörbaren Laut noch durch eine noch so leise Bewegung. Wie ein flüchtiger Schein ging sie durch ihre harten Züge, das war alles.

Ehe der Arzt ging, empfahl er noch unbedingte Ruhe, körperliche wie geistige.

Helene Markowna begleitete ihn durch das enge Vorzimmerchen. den Stapelplatz für Koffer, Körbe, Kisten und Schachteln bis an die Flurtür, wo sie sich mit der Bitte um tägliche Wiederholung seines Besuches und mit einem kurzen Dank für seine Bemühungen verabschiedete.

Mit fester Hand drehte sie hinter ihm den Schlüssel wieder herum, legte die Sicherheitskette vor und kehrte nach diesen Sicherungsmaßnahmen ins Arbeitszimmer zurück, dessen Tür sie vorsichtig ins Schloß drückte.

Damit war ihre Kraft aber auch am Ende. Sie sank auf einen Stuhl am Tisch und schob ihr Taschentuch zwischen die Zähne. Sie konnte nicht mehr standhalten und mußte doch stille sein, ganz stille – um Iwan Feodorowitschs willen, der so sehr am Leben hing. Es könnte sein Tod sein, ahnte er bloß das ihm vom Arzte gesprochene Urteil, und er war das einzige Wesen, das sie liebte, das ihr teuer war, er war der Inhalt und der Zweck ihres Daseins!

Sie vergrub die festen, kräftigen Zähne in das Leinengewebe des Tuches und – blieb still. – Ihre hagere Gestalt aber erzitterte unter dem schneidenden Weh der Seele, unter dem niedergezwungenen Schluchzen, und in ihrem Gesicht zuckte es in wilder Verzweiflung.

Keine Rettung mehr – keine Rettung, höchstens noch ein Aufschub!

So vergingen Minuten und wieder Minuten, bis nur einige Beruhigung eintrat.

Von heute an hatte, soweit es sich um Iwan Feodorowitsch handelte, alles Sparen ein Ende. Mit vollen Händen wollte sie ausgeben, ohne sich beirren, ohne sich Grenzen ziehen zu lassen. Geld genug war ja vorhanden. Der Tschatschitsch, der nur schöne Reden hielt und großartige Pläne entwarf, die Sorge um die Mittel zu ihrer Ausführung jedoch dem Bruder überließ, brauchte nicht jeden Heller aus dem Hause zu schleppen.

Eine halbe Stunde mochte verflossen sein seit der Entfernung des Arztes, als die Aschkin mit ihrer gewohnten unbewegten Miene an das Bett ihres kranken Bruders trat.

»Doktor Hübner verordnet dir unbedingte Ruhe, viel Luft, Licht und erstklassige Nahrung«, eröffnete sie ihm.

Karamanoff lag auf dem Rücken, den Kopf auf dem untergeschobenen Arm, dessen beispiellose Magerkeit der weite, bauschende Aermel des Hemdes einigermaßen verdeckte.

»Ja«, sagte er achselzuckend, »zu einer Art Mastkur mit Leckerbissen möchtet ihr mich verleiten. Sie kostet unheimlich viel Geld und endet mit schweren Verdauungsstörungen. Das ist der Gewinn.«

Mastkur!

Helene Markowna empfand dieses Wort wie ein dicht vor ihr aufstrahlendes Licht, das im weiten Umkreis alles Dunkel in Tageshelle wandelte. – Eine Mastkur, das war's! Diese Kuren hatten schon manchem das Leben gerettet.

»Ganz recht, eine Mastkur. Sie wird streng durchgeführt«, antwortete sie entschieden.

»Verschwendung!«

»Wo es sich um die Gesundheit, vielleicht ums Leben handelt, gibt es keine Verschwendung, Iwan Feodorowitsch! Hättest du schon eher größere Sorgfalt und mehr Geld an dich gewendet, so wärst du nie so weit heruntergekommen. – Jedes Wort dagegen ist überflüssig. Fortab wird geschehen, was ich anordne, und nur das!« erklärte sie in einer jeden Widerspruch ausschließenden Weise.

Langsam hob sich sein mattes, eingesunkenes Auge zu ihr. Er hätte gern Einwendungen erhoben, doch die Worte blieben an seinen Lippen kleben.

Wozu reden, sich anstrengen? – Schlug die Schwester diese Töne an, dann setzte sie ihren Willen durch, kostete es, was es mochte. Auch fehlte ihm der Mut. Es gab niemand, vor dem er einen so ehrlichen Respekt, vor dem er eine so hohe Meinung hatte, wie vor diesem äußerlich rauhen Weibe, das so selbstlos, das des schwersten Opfers fähig war, das es brachte und kein Wort darüber redete. Und dann die hündische Treue, mit der sie an ihm hing! Sie bewunderte ihn wie den größten Helden aller Zeiten, sie teilte alle Gefahren seines Lebens, stets nur bedacht, ihn zu decken, sie würde ohne Besinnen auch die schlimmste Schmach mit ihm geteilt – ja, sie würde sie allein auf sich genommen haben, um ihn zu bewahren. Es gab nur eine Helene Markowna!

Eine Weile hatte er schweigend, sinnend zu ihr aufgesehen, jetzt sagte er leise: »Es ist gut, halt's nach deinem Ermessen. Mach mir aber keine entbehrlichen Ausgaben, für uns ist jeder Heller von Bedeutung. Zur Zeit gespart, wird er einem hohen, einem heiligen Zwecke dienstbar gemacht, den leichtfertig zu schädigen Sünde ist. Denke daran! Mit Billigem kann zuweilen die gleiche Wirkung, ja eine noch bessere erzielt werden als mit dem Teuersten.«

Die Aschkin antwortete freundlich: »Du machst dir recht unnütze Sorgen, Feodorowitsch. Bin ich ein unerfahrenes Kind oder eine leichtsinnige Verschwenderin, daß ich solcher Lehren und Verhaltungsregeln bedarf?«

Ein fast zärtliches Lächeln trat in des Kranken durchsichtige, blasse Züge.

»Wo es sich deiner Meinung nach um mein Wohl handelt, hast du höchst verschwenderische Neigungen Helene Markowna. – Uebrigens darfst du gewiß sein, es steht mit mir bei weitem nicht so schlimm, wie es den Anschein hat und wie dein Doktor Hübner meint. Wäre Beganin hier, er würde es bestätigen. Ich habe mich in den Tagen, die ich im Bette verbrachte, sogar sehr erholt. Der widerwärtige Husten stellt sich nur noch ganz selten ein, und das bißchen Schwäche, in dem du ein schreckhaftes Gespenst erblickst, ist lediglich die Folge des Liegens. Es nimmt jeden mit, auch den Jüngsten und Kräftigsten, das weiß ein Kind.«

»Und das weiß auch ich. Du mußt dich aber von dieser an sich natürlichen Schwächung erholen, du mußt wieder dein blühendes Aussehen von früher erlangen. Ich werde deine Lebensweise nach diesem Gesichtspunkte regeln«, erklärte die Aschkin.

Der Patient stand ab von jedem ferneren Umstimmungsversuch.

»Na, dann regle und bestimme, gutes Seelchen, ich werde gehorchen. – Einen Gefallen mußt du mir aber tun. Schick das Mädchen zu Tschatschitsch. Er soll so bald als möglich, läßt sich's nur einigermaßen einrichten, noch heute zu mir kommen«, bat Karamanoff, als seine Schwester das Zimmer verlassen wollte.

Sie kehrte um und trat nochmals an sein Bett.

»Ist's unbedingt nötig?« erkundigte sie sich.

»Ja. Ich habe ihm etwas Dringendes, etwas von großer Bedeutung zu sagen.«

»Dann mag er kommen. Ich mache dich aber aufmerksam, daß deine Geschäfte mit ihm in längstens einer Viertelstunde erledigt sein müssen«, lautete Helene Markownas Bescheid.

»Du gibst auch noch fünf Minuten zu,« versuchte er zu scherzen.

»Nicht eine einzige!« erklärte sie kurz. »Jedes längere Beisammensein mit ihm macht dich kränker. Seine Phantastereien regen dich auf, du mißt ihnen eine solche Bedeutung bei, daß du ihnen alles opferst, sogar dich selbst, deine Gesundheit, dein Leben!«

Ein böser Blick traf sie.

»Rede nicht von Phantastereien, Helene Markowna. es sind ernste, es sind hohe und heilige Pläne, und dich selbst haben sie einst zur Begeisterung gezwungen! Von höchster Bedeutung, von einer Tragweite sind sie, die ein Weiberhirn nicht ermessen kann – unsere Zukunft, das Heil des russischen Volkes beruht auf ihnen!«

Karamanoff hatte heftig gesprochen, in starker Erregung. Jetzt brannten scharf umgrenzte tiefrote Flecken auf seinen Wangen, und die Brust arbeitete wieder hart und geräuschvoll.

Diese Wirkung ihrer Worte – Worte der Angst, erschreckte die Frau über die Maßen.

»Fluch dem Tage, an dem er Tschatschitsch kennen gelernt hatte! Dieser Tag hat den Grund gelegt zu unserem heutigen Elend!« tönte es in ihrem Innern.

Sie hatte sich aber wieder vollständig in der Gewalt. Von ihren Empfindungen trat nichts nach außen.

»Ich werde mich gewiß mehr als alle anderen freuen, wenn deine Hoffnungen sich erfüllen, Iwan Feodorowitsch,« versetzte sie so sanft, als ihre Wesensart zuließ.

»Das werden sie – das werden sie bald, denn Tschadschitschs Pläne haben vor einer geraumen Zeit, vor mehr als vier Jahren schon angefangen, sich in Taten umzusetzen. Wären die Gelder schneller und reichlicher geflossen, so wären wir natürlich schon bedeutend weiter. Doch auch so kommen wir ans Ziel!«

»Wie viel fehlt euch an Geld?« fragte die Aschkin.

»Noch ungefähr zwei Millionen. Vorausgesetzt, daß alles glatt verläuft, daß wir keine Mißerfolge, keine unvorhergesehenen Hemmungen erleiden.«

»Zwei Millionen also im günstigsten Fall –?« stotterte Helene Markowna tief erschreckt, fast überwältigt durch die Größe des noch erforderlichen Kapitals.

»Ja. – Warum glotzt du mich so dumm an?«

Sie blieb die Antwort daraus schuldig, fragte nur: »Woher soll so viel Geld kommen?«

»Die Orlowski wird es als Liebesgabe auf dem Altare des Menschenheils niederlegen!« entgegnete er in höhnischem Tone.

»Die –? Ich glaub's nicht, Iwan Feodorowitsch. Das letztemal hat sie mir gar nicht gefallen – gar nicht.«

»Ist gar nicht nötig, daß sie dir gefällt, meine gute Schwester. Es kommt nur darauf an, daß sie zahlt was ich begehre, und das hat sie bisher getan, das wird sie fernerhin tun.«

»Ich glaub's nicht,« und die Aschkin schüttelte fast zweifelnd den Kopf.

Karamanoff war nicht zu beirren. In seiner überlegenen Ruhe lächelnd, sagte er: »Sie wird zahlen, fauchend, zähneknirschend, aber sie wird zahlen, weil sie sich in meiner Gewalt fühlt.«

»Hast du sonst keine Quellen?« fragte Helene Markowna.

»Mehr als eine und ich schöpfe aus ihnen allen, doch eine zweite gleich ergiebige habe ich nicht, sorg nicht, Goldherz, ich bringe auch den Rest des Geldes noch zusammen und sind noch einige Jahre herumgegangen. so ist das Werk vollendet, das uns zu Herren der Welt macht. Uns, die wir leben und sterben für die hohe, die heilige Sache!«

Wie eine verzehrende Flamme schlug ein wilder Fanatismus aus den unheimlich glühenden Augen. Auch das eingefallene, vorzeitig verwitterte Gesicht brannte wieder krampfhaft und die Luft ging pfeifend aus und ein zwischen den blutleeren Lippen, der sicherste Vorbote eines schlimmen Hustenanfalls.

Erblassend sprang die Frau herbei und hob den schwer Leidenden in den Kissen zu sitzender Stellung, denn die letzten Hustenanfälle hatten starke Atemnot begleitet.

Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, daß sie nicht zu schweigen verstanden hatte.

Indessen verlief der Anfall milder als sonst und nach wenigen Minuten schon lag Karamanoff, zwar noch hart atmend, sonst aber ruhig in den Kissen. Sein Aussehen war das einer Leiche, seit das heiße Rot sich wieder aus den Wangen zurückgezogen hatte.

»Ich bin gleich zurück, hole nur eine Tasse Tee aus der Küche,« sagte mit unsicherer Stimme seine Schwester zu ihm.

Er wehrte jedoch so heftig ab, als es ihm bei der jetzt noch gesteigerten Schwäche möglich war.

»Lieber – nach Tschatschitsch schicken, brauche keinen Tee. – Soll – gleich – kommen – gleich! – Sehr dringend,« flüsterte er so matt, daß es kaum zu verstehen war.

Danach lag er wieder still.

Helene Markownas Herz war zum Brechen. Der Arzt hatte nicht übertrieben, wie vorhin auch sie sich eingeredet. Sie mußte noch vorsichtiger sein, Iwan noch schonender behandeln.

Nach und nach erholte er sich wieder, das änderte aber nichts an der Tatsache, daß seine Widerstandskraft langsam, doch sicher hinschwand.

Das fühlte übrigens er selbst und zudem verstand er Andeutungen und die Sprache der Mienen. Hatte Dr. Hübner zu ihm auch gesagt: »Halten Sie sich nur ganz ruhig und pflegen Sie sich gut, dann wird es sich schon wieder machen,« so wußte er doch, daß dieser ihm das Leben absprach, und er selbst begann an einem dauernden Sieg des Willens über seine körperliche Hinfälligkeit zu zweifeln. So elend wie eben jetzt war ihm noch nie zumute gewesen, noch nie – es war ihm gewesen, als sollte er verlöschen wie ein niedergebranntes Licht!

Daran würde auch Helene Markownas Mastkur nichts ändern – es war zu spät!

Zu spät! – Zu spät!

Das trostloseste Wort!

Eine tiefe Wehmut bemächtigte sich des Patienten und seine Augen wurden feucht.

Er war noch nicht alt, unter normalen Verhältnissen hätte er auf ein noch langes Leben Anspruch gehabt, und er liebte das Leben um seiner selbst willen, er liebte es noch mehr um des Zieles willen, das er seit länger als zwanzig Jahren hartnäckig und unter allerlei, oft schweren Gefahren verfolgte.

Wie gern hätte er die Früchte dieser Gefahren, seiner unermüdlichen Tätigkeit Und seiner vielgestaltigen Opfer gesehen!

Dann, nach einer längeren Weile, schmeichelte eine andere Stimme: Vielleicht – vielleicht geht es doch noch einmal in die Höhe! Wenn kein wirkliches Leiden vorlag, mußten die geschwundenen Kräfte doch wieder zu ersetzen sein. – Vielleicht – vielleicht!

Immerhin war es nötig, daß Tschatschitsch genau und über alles Bescheid wußte, daß er in den Besitz eingehender Instruktionen gesetzt wurde. Mochte es gehen wie es wollte, die heilige Sache wenigstens war gesichert. –

Tschatschitsch ließ sich indessen Zeit mit dem Kommen. Das Dienstmädchen hatte ihm die Bestellung zwar persönlich ausgerichtet und er hatte sein baldigstes Erscheinen zugesagt, es verging aber Stunde um Stunde, ohne daß er kam.

Der Kranke wartete in fieberhafter Unruhe, in Helene Markownas Herz strömten Verwünschungen gegen den Säumigen.

Erst kurz nach sechs Uhr abends stellte er sich ein, von der Frau unwirsch empfangen.

»Einen Schwerkranken so lange warten zu lassen, Herr Sergej, ist eine grobe Rücksichtslosigkeit. Sie behaupten, meines Bruders Freund zu sein und finden es nicht der Mühe wert, Folge zu leisten, wenn er ruft!«

Es war sonst nicht ihre Art, an einen Fremden so viele Worte zu verschwenden. Die quälende Unruhe jedoch, in der sie Karamanoff während so vieler Stunden gesehen, hatte sie außer Rand und Band gebracht.

Wie ein Kind, so verwundert und bestürzt stand Tschatschitsch vor ihr. Seine klägliche Miene bildete einen wunderlichen Gegensatz zu seiner Hünengestalt und seinen wildflatternden, dunkelblonden Haarmähnen. Er begriff nicht, weshalb die Frau ihm Vorwürfe machte, er war sich keiner Schuld bewußt.

Endlich raffte er sich zu einer stotternden, einer gedrückten Verteidigung, die in der Erklärung bestand: »Ich bin Iwan Feodorowitschs Freund! Müßte ja ein ganz schlechter, undankbarer Mensch sein, wäre ich's nicht.«

Dieses Eingeständnis versöhnte Helene Markowna einigermaßen mit ihm.

»Das ist richtig,« nickte sie. »Er tut mehr, als Sie wissen!«

»O, ich weiß es, ich weiß alles, Helene Markowna!« antwortete der Riese, wobei sich sein blasses Gesicht gerührt in die Breite zog.

Sie jedoch widersprach kopfschüttelnd: »Nein, Sergej, Sie wissen es nicht. Sie kennen die fortwährenden Opfer nicht, durch die er Ihnen die Möglichkeit erkauft, Ihre Apparate und Experimente auszuführen!«

Tschatschitschs runde wasserhelle Augen, die stets eine leise Verwunderung ausdrückten, wurden noch runder, wurden noch weiter und ihr Blick war ein unsicherer, ängstlicher.

»Oh – Opfer! Das höre ich ungern, Helene Markowna.«

»Wenn Sie sie kennten, würden Sie sagen: Nein, Iwan Feodorowitsch, dein Martyrium muß ein Ende nehmen!«

Jetzt wurde der Hüne böse.

»Alle Teufel, Helene Markowna, reden Sie deutlich oder halten Sie den Mund! – Worin besteht sein Martyrium? Ich werde es nicht mehr dulden!« schrie er und schaute die Aschkin aus wildrollenden Augen an.

Sie hatte sich ausgesprochen, so weit sie es konnte und ihr zum Ueberströmen volles Herz etwas erleichtert. Tschatschischts Aufregung und Heftigkeit brachten sie vollends zur Ruhe.

»Schreien Sie doch nicht so, Sergej! Wozu das Gebrüll? Es ändert doch nichts. – Ich darf Ihnen keine Aufklärung geben, er hat es streng verboten, und ich hätte nicht so viel gesagt, wäre ich nicht so sterbensunglücklich – es gibt keine Rettung mehr für ihn!«

Tschatschitsch trat einen Schritt zurück und starrte die Frau voll Entsetzen an.

»Keine – Rettung –?!« stotterte er. als würde ihm der Hals gewaltsam zusammengedrückt.

»Doktor Hübner sagt es. Hinauszögern ließ sich das Ende wohl, treten keine Komplikationen ein, mehr aber kann man nicht tun. – Ja, Sergej, es ist schrecklich traurig!« schloß die Aschkin kummervoll.

Er schwieg, aber dicke Tränen liefen ihm über die Backen herunter und in den Bart.

»Man meint, es könnte nicht sein. – Erlöschen ein Geist, wie der seinige – untergehen, der Vernichtung anheimfallen! – Können Sie sich das Leben vorstellen ohne ihn?«

Das letzte Wort erstarb in einem kurzen, rauhen Aufschluchzen. Ein verwandter Laut antwortete.

Die Aschkin faßte sich zuerst wieder. Ihre knochige, von allerlei Hausarbeit mitgenommene Hand entfernte die Tränen aus den Augen, dann sagte sie wieder in ihrer gewöhnlichen, kurzen, trockenen Sprechweise: »Ich führe Sie zu ihm. Lassen Sie sich aber nichts anmerken von dem, was wir beide besprochen haben – es könnte ihm von einer Minute zur anderen den Tod bringen. Der Arzt hat mich gewarnt. – Kommen Sie!«

Tschatschitsch hing seinen abgegriffenen, verbogenen Schlapphut und seinen recht ältlichen Mantel über einen Stuhl, ehe er ihr folgte.

In Karamanoffs Arbeitszimmer ließ er sich auf einen Stuhl am Tische sinken, bedeckte sein großes, blasses Gesicht mit den Händen und blieb eine ganze Weile in dieser Stellung. Daß seines Freundes und Förderers Leben bedroht war, brachte ihn um die Fassung. Bei aller rauhen Derbheit seines Wesens und Aussehens war er ein echtes Kind seines Stammes, weich im Gemüt, selbst ein wenig rührselig und anhänglich bis zum äußersten.

Endlich sanken die gewaltigen Tatzen und er sagte, die Aschkin treuherzig demütig anschauend: »Ich wäre natürlich sofort gekommen, Helene Makowna, hätte ich diesen Jammer geahnt. Die Arbeit fleckte heute aber so gut, und ich dachte, ein paar Stunden würden nichts ausmachen. Es ist nun einmal so, bei denen, die man nie anders als zart und kränklich gekannt hat, denkt man an nichts Schlimmes. – Kann ich was tun für Iwan Feodorowitsch?«

»Ihn nicht aufregen, ihm nicht zu viel vorreden, weiter nichts.«

Dann schritt sie ihm voraus nach ihres Bruders Schlafzimmer. Unterwegs blieb sie stehen und sagte: »Machen Sie ihm auch keine Hoffnungen, deren Verwirklichung nicht gesichert ist.«

Tschatschitsch schaute sie an, als spräche sie in Rätseln.

»Wozu diese Ermahnung, Helene Markowna, wissen Sie nicht, daß unser Werk rüstig fortschreitet, daß es gesichert ist! Hat Iwan Feodorowitsch es Ihnen nicht gesagt? Ein Jahr noch oder höchstens zwei und die Welt wird staunen, wird sich beugen vor uns, den Unsterblichen!« sagte Sergej Tschatschitsch glückselig wie ein Kind, das goldene Märchenfäden spinnt.

»Manches große Werk scheitert an einer Kleinigkeit«, antwortete sie.

Tschatschitsch schüttelte den Kopf, daß die wirren, blonden Mähnen flogen.

»Nein, nein, Helene Markowna, unser Werk scheitert weder an Großem noch an Kleinem, wir führen es durch!« rief er in inniger Ueberzeugung.

Sie schaute ihn mitleidig an.

»Wissen Sie, was dazu noch fehlt? – Zwei Millionen, wenn alles glatt läuft!« sagte sie.

»Nicht mehr –?« fragte er erstaunt und erfreut.

Die Aschkin wollte zornig, auffahren. Sie besann sich aber. Es hatte keinen Zweck, sich zu erhitzen, mit dem Hünen über derlei zu sprechen. In Geldfragen war er nicht mehr als ein Kind.

Sie ließ diese naive Frage unbeantwortet und öffnete die Tür zum Krankenzimmer, in das sie hineinrief: »Tschatschitsch ist da, soll er sogleich hereinkommen?«

»Aber natürlich! – Warum ist er nicht schon hier?« kam es von drinnen zurück.

Karamanoff hatte in der Freude über die sehnlich erwartete Meldung überlaut gesprochen, was er mangels an Kräften schon tagelang nicht mehr getan, er richtete sich ohne fremde Unterstützung in die Höhe und streckte dem Eintretenden die Krallenhand entgegen.

»Willkommen, Sergej, ich freue mich deiner mehr, als der herrlichsten Sonne!« begrüßte er ihn.

Tschatschitsch schlich auf den Zehenspitzen ans Bett und faßte die durchsichtige Hand so vorsichtig, als wäre sie die eines kleinen Kindes.

»Es geht dir viel – viel besser, als vorgestern, Iwan Feodorowitsch, du wirst bald wieder ganz gesund sein!« stotterte er mit einem in freudiger Ueberraschung und Rührung erzitternden Stimmton.

Des Patienten lebhafte Bewegungen und der erregte, darum auch kräftigere Klang der Stimme täuschten ihn über seinen wahren Zustand.

Der Arzt war ein Narr, Helene Markowna eine Närrin!

»Ja, ja, bald«, antwortete Karamanoff hastig, zerstreut.

In diesem Augenblick war ihm alles gleichgültig, dachte er nur an das, was er Tschatschitsch zu sagen hatte.

Dann flog sein Blick zu Helene Markowna hinüber. Sie räumte im Zimmer, schuf Ordnung und schien nicht gesonnen, es zu verlassen.

»Laß uns allein«, bat er sie, »es sind hochwichtige und diskrete Fragen, die ich mit Sergej zu erledigen habe. Sobald wir fertig sind, holt er dich wieder herein. Er soll heute abend bleiben, mit uns essen.«

Dis Aschkin erhob keine Einwendungen, nur bestand sie darauf, daß der Kranke vor Beginn seiner Unterredung mit dem Freunde einige Nahrung zu sich nahm.

Iwan wollte ungeduldig werden.

»Sei vernünftig, Iwan Feodorowitsch. Nachher mögt ihr eure Angelegenheiten ungestört besprechen,« kam sie einem Ausbruch des Unwillens bei ihm zuvor.

Er fügte sich, weil lange Verhandlungen zeitraubender waren, als das Auslöffeln eines Tellers Suppe oder Haferbrei, und verspeiste alles, was seine Schwester brachte. Auch das Gläschen Tokaier trank er, den sie aus der Apotheke hatte holen lassen.

Dann blieben die beiden allein und sich in die Kissen zurücklehnend, begann Karamanoff: »Merk jetzt auf, Sergej. – Weil es mit meinen Kräften nicht recht vorwärts will und ich gestern abend eine kleine Schwächeanwandlung hatte, ruhte Helene Markowna nicht, bis ich ihr erlaubte, einen Arzt zu rufen –«

»Sie hat recht getan, es hätte längst geschehen müssen. – Was sagte er?«

Karamanoff hüstelte ein Weilchen, worauf er achselzuckend entgegnete: »Was man sagt, wenn man nichts Gutes zu sagen hat. Er gibt nicht viel für mein Leben. Es könnte schon noch gehen – es könnte aber auch nicht gehen –«

»Das hat er dir gesagt –?« fuhr Tschatschitsch auf.

»Ja und nein; es war der Sinn all der Redensarten vom Zusehen und Abwarten, Schonung und Geduld.«

»Leg kein Gewicht darauf, Iwan Feodorowitsch! Die Aerzte haben schon manchem sein Leben abgesprochen. der heute munter und wohlauf ist. So zum Beispiel mir, als ich 1889 –«

Der Leidende kannte seines Freundes wunderbare Krankheitsgeschichte längst und war nicht begierig, sie zum soundsovielten Male wieder zu vernehmen. Er unterbrach ihn mit der Versicherung: »Ich lege auch kein Gewicht darauf, immerhin ist's eine Mahnung zur Vorsorge, die nicht unbeachtet bleiben darf. Darum will ich alles Wichtige beizeiten in Ordnung bringen. Was sollte aus unserem großen Werke werden, stürbe ich, und du wüßtest dir die Mittel zur Weiterführung deiner Arbeiten nicht zu beschaffen?«

»Du stirbst aber nicht, du bist von der guten zähen Art, und so ist's überflüssig – ganz überflüssig, ein langes und breites über diese Dinge zu reden!« widersprach Tschatschitsch in zornigem Eigensinn.

Seiner Weichherzigkeit setzten Karamanoffs Todesreden so zu, daß er boshaft und starrsinnig wurde.

Dieser gab jedoch nicht nach.

Er nahm einen dicken Schlüsselbund aus dem Nachttische und schickte seinen Freund in sein Arbeitszimmer. Dort sollte er den ihm bezeichneten Schrank aufschließen und einen darin befindlichen Blechkasten mit messingenem Deckelgriffe herausholen und bringen.

Tschatschitsch, trotz seiner fast erschreckenden, körperlichen Massigkeit lenksam wie ein Kind, auch gewohnt, von seinem Freunde und Förderer in den Dingen des äußeren Lebens gelenkt zu werden, ihm zu gehorchen, tat jetzt widerspruchslos, wie dieser ihn angewiesen hatte und kehrte schon wenige Minuten später wieder ins Krankenzimmer zurück, die gewünschte Kassette unter dem Arm.

»Hier, Iwan Feodorowitsch,« sagte er und setzte den Kasten aufs Bett, sich selbst aber auf seinen alten Platz, den daneben stehenden Stuhl.

Der Patient nahm ein Schlüsselchen, das er an einer dünnen Seidenschnur um den Hals trug, öffnete damit die Kassette, bis obenauf mit Papieren gefüllt, und holte ein ziemlich umfangreiches Päckchen heraus, dessen Umschlag mit scheinbar regellos nebeneinander gesetzten Buchstaben, Zahlen und allerlei wunderlichen Zeichen bedeckt war.

Er hielt es dem mähnigen Riesen entgegen und fragte: »Meine kombinierte Chiffreschrift ist dir doch noch geläufig, Sergej?«

Tschatschitsch warf einen Blick auf die beiden Buchstaben- und Zeichenreihen, worauf er nickte.

»Sie liest sich wie Wasser, Iwan Feodorowitsch!« sagte er dann.

Karamanoff lächelte befriedigt.

»So darf ich beruhigt sein.«

Er übergab dem Hünen das Päckchen mit der Weisung, es mit in seine Wohnung zu nehmen und gut zu verwahren.

Einen Augenblick später begann er wieder: »Sobald ich tot bin, wird es dein Erstes sein, den Umschlag zu öffnen und die darin befindlichen Blätter aufmerksam durchzulesen. Sie geben eingehende Aufschlüsse über die Quellen, die uns speisen, wie über die Art und Weise, sie ergiebig zu machen und zu erhalten. – Du hast dich strikte daran zu halten, hast weder irgendwelchen Bedenken noch irgendwelchen Rücksichten Einfluß einzuräumen auf dein Handeln, am wenigsten aber deinem Herzen. Das ist mein ausdrücklicher Wunsch, mein Befehl aus dem Grab heraus. Mit dem Augenblick meines Todes hast du eine zwiefache Aufgabe zu lösen. Du hast zu Ende zu führen, was du dir als Lebensziel gesetzt, du hast aber auch die Mittel dazu beizubringen.«

Kurz brach der Kranke ab und schaute Tschatschitsch ernst-prüfend an.

»Es ist gut, Iwan Feodorowitsch, du weißt, daß du dich auf mich unbedingt und in allen Punkten verlassen kannst. Was du sagst, wird geschehen«, antwortete der Riese unterwürfig.

Karamanoff nahm das Gelöbnis eines über das Grab hinausreichenden Gehorsams als ein Selbstverständliches hin, worüber keine Worte zu verlieren waren.

»Ich rechne darauf,« sagte er, und empfahl die sorgsamste Verwahrung der Papiere und die strengste Verschwiegenheit.

»Der Verlust der Schriften wäre nicht so sehr eine Gefahr, als ein unermeßlicher Schaden für dein herrliches Werk. Das darin angewendete Zeichensystem ist meine eigene Erfindung, und es gibt keine zehn Personen, die den Schlüssel dazu haben. Und unter ihnen ist nicht einer, der sich nicht eher hängen ließe, als daß er irgendeiner Polizei einen Liebesdienst erwiese. Dir aber würde der Verlust des Päckchens die sprudelnden Geldquellen verstopfen. Hüte es also, wie du ein eigenes Kind hüten würdest.«

»Ich werde es hüten.«

»Und du wirst zu keiner Seele, auch nicht zu der vertrautesten, mehr sagen als unerläßlich ist, so auch zu Woritzky und Lenowostowoi nicht.«

»Mißtraust du ihnen?« fragte Tschatschitsch verwundert, die wasserhellen Augen weit und rund.

Der Kranke schüttelte den Kopf.

»Nein. Beide sind uns und dem Werke bedingungslos ergeben, und was ihnen aufgegeben wird, führen sie aus, ohne zu fragen, ohne zu besinnen, es mag sein, was es will. Einem anderen mehr wissen zu lassen, als er zur Lösung seiner Aufgaben wissen muß, ist jedoch überflüssig und kann auch sehr nachteilig werden. Ihn beschwert das Zuviel an Wissen, für uns ist es eine stete Gefahr mehr.«

»Ja, ja, es wird wohl so sein – aber es ist hart, sich gegen niemand aussprechen zu dürfen,« wendete der Hüne mit hochgezogenen Brauen ein

Ueber Karamanoffs aschfahles Gesicht flackerte ein Lächeln.

»Für dein Kindergemüt, mag sein. – Du mußt es härten, Sergej – stahlhart muß es werden! – Hast du dich informiert über die angebliche Krankheit der Orlowski?« setzte er in einem veränderten Tone hinzu.

»Ja, schon gestern abend – beim Portier« –

»Und?« fragte der Patient erwartungsvoll.

»Es hat seine Richtigkeit, Iwan Feodorowitsch, sie ist sehr krank, und man weiß noch nicht, wie es gehen wird.«

»Oho!« rief der Patient, aus den Kissen schnellend, geisterbleich.

»Barmherzige Schwestern sind Tag und Nacht zur Pflege da. –«

»Was fehlt ihr?« stieß Karamanoff hochgradig erregt heraus.

»Man weiß es nicht recht. Der Arzt soll von einer schweren Nervenerschütterung reden, die Dienerschaft spricht sich nicht aus, sagt der Portier, er hätte aber doch so etwas gehört, wie wenn es im Kopf nicht ganz richtig wäre, und daß der Arzt einen Narrendoktor zuziehen will –«

»Unsinn! – Einen Nervendoktor«, stotterte der Patient heiser.

Seine Züge zeigten einen entstellenden Ausdruck, seine langen dürren Finger zitterten auf der Bettdecke.

»Das denke ich auch, gesagt aber hat der Mann: Narrendoktor,« antwortete Sergej Tschatschitsch. Dabei schaute er den Freund an und erschrak.

»Was fällt dir ein, Iwan Feodorowitsch – wer wird sich so aufregen wegen einer Fremden? – Das hat doch keinen Sinn! Was geht dich die Orlowski an?« rief er und schüttelte Karamanoffs Arm.

Dieser sah ihn aus unheimlich starren Augen an und sagte leise: »Viel mehr geht sie mich an, als du ahnst, Sergej – sie ist meine wichtigste Geldquelle! – Stirbt sie oder wird sie wahnsinnig, so kommt es in unseren Arbeiten zu allerlei Hemmungen und Stockungen, können wir nicht mehr in dem bisherigen Tempo weiterschaffen.«

Karamanoffs Stimme erstarb in einem schmerzlichen Flüstern.

»Oh! – Das ist schlimm – sehr schlimm!«

Der Hüne knickte zusammen wie unter einem übermächtigen Beilhieb. – Aber nicht lange, und er schüttelte in wiederauflebender Energie seine blonde Mähne: »Reg dich nicht auf, Iwan Feodorowitsch, wir finden andere Geldgeber, muß es sein, und dann, sie wird ja schon nicht sterben und auch nicht verrückt werden. – Leute, wie der Portier, reden viel und machen gern aus einer Mücke einen Elefanten. – Ich werde morgen wieder nachfragen –«

»Tu das, ja tu's! Und versuche, die Kammerfrau zu sprechen. Von ihr hört man eher die Wahrheit,« sagte Karamanoff.

Sergejs Miene drückte Zweifel aus.

»Ich glaube es nicht. Daß sie mehr weiß, ist sicher, aber mehr wird sie nicht sagen, nicht einmal soviel. Sie redet nie ein Wort mehr, als sie muß, sie ist ein unfreundliches altes Weib!«

»Du kannst recht haben – und doch ist's besser, du siehst sie, frägst sie. – Kannst ja doch noch zum Portier gehen und hören, was er sagt. Ist der Fürst hier – ihre Mutter?«

»Ich weiß nicht, habe nicht danach gefragt, glaube es aber nicht. Der Portier ist ein redseliger Mann, er hätte es mir auch so erzählt. – Morgen aber will ich ihn fragen. Von dort komme ich gleich zu dir, bis spätestens elf kannst du mich erwarten.«

»Ja, komm' gleich!«

Der Riese nickte.

»Du aber sei vernünftig und denk nicht mehr daran. Wichtiger, als daß die Orlowski lebt, ist, daß du lebst!«

Helene Markowna trat herein. Auf einer Nickelplatte brachte sie einen halbvollen Sektkelch und zwei dünne Schnitten eines Rosinenkuchens.

»Warum hast dir nicht mein Zeichen abgewartet?« herrschte Karamanoff sie gereizt an.

Die Aschkin war keine Zaghafte, keine Unterwürfige.

Kühl entgegnete sie: »Weil es zu lange auf sich warten ließ, Bruder, weil du dich nicht übernehmen darfst.«

»Ist reden eine harte Arbeit? – Du bist toll, überspannt, du ärgerst und quälst mich vom Morgen bis zum Abend mit deinen ewigen Besorgnissen, und das schadet mir mehr als eine kleine Anstrengung!«

»Sag' dir: meine Schwester will mich bald wieder gesund und kräftig sehen wie ich sonst war,« so wirst du dich nicht ärgern über meine Sorgen. – Hier, trink und iß, du hast's nötig!« und sie setzte die Platte mit den guten Dingen auf das Nachttischchen neben dem Bette.

Tschatschitsch, der mit seinen treuen Augen von einem zum anderen blickte, nickte ernsthaft.

»Recht so, Helene Markowna! Hüten, füttern Sie ihn, ob er mag oder nicht, stopfen Sie in ihn hinein, was Sie können!« sagte er. »Wer viel ausgibt, muß viel einnehmen, sonst ist der Bankerott unvermeidlich.«

»Und Iwan Feodorowitsch hat sich ihm schon bedenklich nahe gebracht, wie Sie selbst sehen, Sergej!« antwortete sie leise, mit einem schmerzlichen Ausdruck in Ton und Miene.

Der Riese klopfte gutmütig ihre Schulter.

»Keinen Kummer, Helene Markowna, wir beide lassen's nicht so weit kommen. Sie werfen sich zum häuslichen Diktator auf, mich nehmen sie zu Ihrem Büttel. Dann wollen wir doch sehen, ob er nicht die feinen Bissen hinunterschluckt, die Sie ihm vorsetzten!«

Er sprach es lächelnd, sorglos, dabei aber standen ihm die Tränen näher als das Lächeln, das er um den Mund zwang. Daß der Arzt nicht viel mehr für des Freundes Leben gab, hatte ihn innerlich schwer getroffen, obgleich er tat, als legte er dem ärztlichen Ausspruch keine Bedeutung bei.

Während dieses Geplauders, bestimmt, den Patienten über seinen Zustand zu täuschen, hatte dieser den Sekt und ein Stückchen Kuchen zu sich genommen, denn er fühlte nur zu gut die Notwendigkeit, den Kräfteverbrauch und die Nahrungszufuhr ins Gleichgewicht zu bringen. Geschmeckt hatte es ihm aber nicht, die Nachricht, die Tschatschitsch vom Parkring gebracht, bedrückte ihn.

Er war doch wohl zu weit gegangen, hatte die Fürstin zu sehr in Anspruch genommen! – In Zukunft hieß es vorsichtiger zu sein, ein langsameres Tempo einschlagen – sonst –

Ein Schauder durchlief ihn.

»Wenn sie stürbe –!?«

»Es wäre auch mein Tod!« flüsterte er selbstvergessen.

»Wie sagst du, Iwan Feodorowitsch?« fragte die Aschkin.

»Ich rechne etwas aus – laßt euch nicht stören,« war seine Antwort.


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