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13. [12]

»Wir machen erfreuliche Fortschritte und rechnen auf baldige, wenigstens teilweise Klärung. Wiedersehen wenn möglich schon Ende nächster Woche.«

Fürstin Lisaweta, die in den Anlagen der Villa Marina hin- und herging, las diese Drahtnachricht des Grafen Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin schon zum so und so vielten Male. Sie war postlagernd adressiert, nicht an sie selbst, sondern an Basil Popanof, der täglich dreimal zum Telegraphenamte nach Fiume hinunterwanderte, um nach einer etwa für ihn lagernden Depesche zu fragen. Diese war die vierte, die er heimgebracht, gewöhnlich kam er von diesen Gängen mit leeren Händen zurück.

Der Staatsrat Graf Scheragin war ein ernster, nüchterner Mann, und wenn er so depeschierte, so durfte man getrost annehmen, daß die Angelegenheit, die er zu entwirren unternommen, wirklich gute Fortschritte machte und günstig stand.

Lisaweta wußte es auch, zum Aufatmen brachte die günstige Nachricht sie trotzdem nicht. Heute war Dienstag, es lagen also fast noch vierzehn Tage zwischen dieser Stunde und dem frühesten Termine, zu dem sie ihres Mannes Vetter erwarten durfte, und in der dazwischen liegenden Zeit konnte sich noch viel ereignen. Und ihr war heute noch wie am Tage ihrer Ankunft in Fiume zumute, als lauerten in ihrer nächsten Nähe Gefahren, als wäre sie von Blitzen umzuckt, deren jeder sie treffen konnte.

Langsam faltete sie die Depesche und schob sie in ihre weiße Spitzenbluse.

Sie, die vielbeneidete, die vielgefeierte Fürstin Orlowski, der ein ungeheurer Reichtum die Erfüllung jedes Wunsches, jeder Laune ermöglichte – elender als eine Bettlerin, beständig unter einem Beile lebend, das jeden Augenblick niedersausen konnte! –

Ein Schauder überrieselte Lisaweta, eine trostlose, niederwerfende Todesmattigkeit kroch wieder einmal durch ihre Seele. –

Ob Scheragin überhaupt helfen konnte?

Einige Tage nach ihrer Ankunft in Fiume hatte sie von Prossl eine Nachricht erhalten, die sie in dauernder Unruhe erhielt. Michael Lenowostowoi war, nur mit einigem Handgepäck versehen, von Wien nach München abgereist, ohne das Ziel seiner Reise oder die Dauer seiner Abwesenheit bekannt zu geben. Ein Prosslscher Agent, derselbe, der ihn in Wien überwacht, hatte die Fahrt nach München im selben Abteil mit ihm zurückgelegt, doch ohne ihn in eine Unterhaltung verwickeln zu können. Indessen war er nicht der einzige Verfolger. Auch der Kriminalkommissar Dr. Jelbermayer, den ein Agent vom Sicherheitsbureau begleitete, saß ihm auf den Fersen.

Seither war ihr nur noch eine Mitteilung von Prossl zugegangen, zu Ende der vorigen Woche, die besagte, daß Lenowostowoi und seine geheimen Begleiter in Antwerpen eingetroffen wären, und daß er noch immer völlig ahnungslos scheine. – Ob sie sich noch in der belgischen Hafenstadt befanden, ob irgend etwas besonderes vorgefallen, ob die Verfolger irgendwelche Wahrnehmungen von Belang gemacht, wußte sie nicht, und das war es, was ihr die Empfindung gab, als lebte sie unter einem lose über ihr schwebenden Beil. Auf die am frühen Morgen an Prossl aufgegebene Anfragedepesche, zu der ihre innerliche Unrast sie veranlaßt, war bis zur Stunde noch keine Antwort eingelaufen.

Dazu kam, daß Woche um Woche verging, ohne daß die Aschkin oder Karamanoff selbst etwas von sich hören ließ.

Hatte Helene Markowno nichts getan, um ihren Bruder zum Verkaufe der gestohlenen Papiere an sie zu bewegen, oder war ihr Bemühen erfolglos geblieben?

Diese Frage bereitete ihr keine geringere Sorge als Lenowostowois Reise. Die Zeit ging hin, sie kam keinen Schritt vorwärts und hatte der Polizeidirektor den von Meidler verhängten Hausarrest auch am selben Abend noch wieder aufgehoben, das Verhalten der Geheimagenten beim Fort Gorazda und der bedingungsweise gegen sie erlassene Haftbefehl bewiesen doch hinlänglich das Gewicht, das man darauf legte, sich zu jeder Stunde ihrer Person versichern zu können. Brachte sie die Botschaftspapiere nicht bei, so blieb der Tag nicht aus, an dem die Polizei mit allen zulässigen Mitteln vorgehen würde, um sie zum Reden zu zwingen.

Und was hierauf folgen würde –!

Sie seufzte aus einem Herzen heraus, das überfloß von bitterer Sorge, von wildem Weh. –

Und als wäre es an dieser Sorge nicht genug gewesen, gesellte sich noch die um die Ihrigen dazu, die sich ihretwegen in Jammer verzehrten! Das Bitten und Drängen der Mutter und der stille Gram des guten Onkel Felix, der schwer gealtert hatte seit der unglücklichen Vergnügungspartie nach der Bocche di Cattaro, schnitten ihr tief ins Herz. Sie ertrug diesen Anblick nicht mehr und war doch außerstande, sich ihm zu entziehen, denn von einer Rückkehr nach Wien wollten die Ihrigen durchaus nichts wissen, obgleich die gewöhnliche Dauer ihres Besuches in der Villa Marina bereits überschritten war.

Der Feldzeugmeister hatte neulich sogar erklärt: »Bestehst du auf der Abreise, so begleite ich dich. Wo ich bin, wird niemand dir was Ernstes anhaben, denn nötigenfalls würde ich dich nachdrücklichst zu schützen wissen!« – Seine Begleitung bedeutete für sie aber vor allen Dingen eine doppelte Ueberwachung.

Sich hinlegen und sterben können! –

Und den aschblonden Kopf tief gesenkt, ging Lisaweta langsam weiter, getrieben von dem sehnlichen Verlangen nach Einsamkeit.

Sie war aber noch nicht weit gekommen, als von der Villa her raschen Schrittes Nadascha kam.

»Durchlaucht! – Durchlaucht!« rief sie aufgeregt.

Sie mußte den Ruf jedoch wiederholen, ehe Lisaweta ihn vollbewußt hörte.

Sie schaute zurück und ihre Kammerfrau erkennend, kehrte sie um und ging ihr entgegen.

Ohne einen wichtigen Anlaß störte diese sie nicht.

»Was hast du?« fragte sie, als sie Nadascha nahe genug war.

Diese reichte ihr eine Besuchskarte, die sie in der Hand trug. Darauf stand: »Dr. J. Jelbermayer, Polizeikommissar.«

»Es ist derselbe, der bei uns die Aufnahme gemacht hat wegen dem Saphirschmuck,« erläuterte Nadascha.

Lisawetas Finger zitterten so stark, daß ihnen das Kärtchen entglitt und zu Boden fiel. Ihr Gesicht war geisterbleich.

»Um Gotteswillen, Mütterchen!« schrie Nadascha mit tödlichem Schrecken und wollte die Arme um ihre Dame schlingen.

Sie hatte sich aber schon wieder einigermaßen gefaßt und wehrte die Unterstützung ab.

»Laß nur, so schlimm ist's nicht!« sagte sie, mit der Hand über die Stirn streichend, die sich kalt-feucht anfühlte.

»Er kommt wegen Lenowostowoi,« setzte sie einen Augenblick danach hinzu. »Sie haben jedenfalls irgendeine für uns sehr unangenehme Entdeckung gemacht, die dieser Jelbermayer gegen mich auszubeuten gedenkt.«

»Nur fest bleiben, Mütterchen Maria Lisaweta,« stotterte die alte Frau, verzehrt von einer quälenden Angst. »Vielleicht will er dich in eine Falle locken.«

Dis Fürstin nickte. Dann sagte sie: »Schon möglich. Dieser Kommissar ist schlauer und rücksichtsloser als der Polizeirat – ich werde auf meiner Hut sein. – Mama und Onkel sind noch nicht zurück aus der Stadt?«

»Nein.«

»Sollten sie nach Hause kommen, ehe der Kommissar gegangen ist, so sagst du, es wäre ein dir unbekannter Herr bei mir und ich hätte jede Störung verbeten.«

Diese Weisung sollte womöglich ein Zusammentreffen des Jelbermayer mit den Ihrigen verhüten.

Auf dem ziemlich weiten Wege vom äußersten Ende der Anlagen bis zur Villa hatte Lisaweta sich von ihrem ersten Schreck wenigstens wieder soweit erholt, daß sie vor dem Beamten erscheinen konnte, ohne daß ihr Aussehen zum Verräter an ihr wurde. Sie war auch nicht mehr bleich, die Röte der angstvollen Erregung brannte in ihren Wangen.

Dr. Jelbermayer, der einen eleganten Reiseanzug trug und einem Sportsmann ähnlicher sah als einem Beamten der Kriminalpolizei, trug eine sehr selbstzufriedene Miene zur Schau.

»Eure Durchlaucht,« begrüßte er die Eintretende, »ich habe die Freude, mitteilen zu können, daß sich ein Teil der Ihnen gestohlenen Juwelen, leider der kleinere, wiedergefunden hat.«

»Ah! – Wirklich –?«

Diese Ausrufungen klangen aber weit mehr nach Schrecken als nach freudiger Ueberraschung. Der Kommissar konstatierte sogar mit lebhafter Genugtuung, da? sich die Fürstin verfärbt hatte. Auch ihr rascher Griff nach einer Stuhllehne war ihm ein bedeutungsvolles Zeichen.

»Fünf Saphire und vier Perlen, die aus dem Diadem ausgebrochen sein dürften, befinden sich in unseren Händen und der noch fehlenden werden wir auch noch habhaft werden. Wenigstens bestehen die besten Aussichten.«

Lisaweta, die bisher stumm und starr gestanden, raffte sich jetzt zusammen und sagte mit einer einladenden Handbewegung nach einem Armstuhl: »Und wie ist das zugegangen, Herr Kommissar? Wenn es kein Amtsgeheimnis ist, würde es mich sehr interessieren.«

Während des Sprechens war sie um den Tisch herumgegangen und hatte sich Jelbermayer gegenüber gesetzt, doch so, daß sie dem mit Spitzen- und breiten Damastvorhängen behangenen Fenster den Rücken kehrte.

Der Kommissar bemerkte es und lächelte noch freundlicher.

»Im Hause Nummer 89 der Alserstraße,« begann er, »wohnt ein Russe namens Michael Lenowostowoi, der, soviel ich weiß, mehrmals die Ehre hatte, von Eurer Durchlaucht empfangen zu werden.«

Er machte eine Pause und sah die Fürstin fragend an.

»Das kann wohl sein,« antwortete die Fürstin langsam, doch ohne Zögern. »Es kommen viele in Wien lebende Russen ab und zu. Uebrigens ist mir der Name Lenowostowoi nicht ganz unbekannt.«

Jelbermayer verneigte sich und fuhr fort: »Verschiedene Umstände, über die ich mich nicht aussprechen kann, haben unsere Aufmerksamkeit auf diesen Mann gelenkt, der sich Literat nennt, auffallend still und zurückgezogen, auch in anscheinend sehr ärmlichen Verhältnissen lebt, dennoch aber häufige Reisen unternimmt, von denen er zuweilen schon nach wenigen Tagen, mitunter aber auch erst nach Wochen wiederkommt. Näheres wird nie bekannt.

Sonntag vor acht Tagen trat er, begleitet von mir und von einem unserer Agenten und von einem Mann des Prosslschen Detektivinstitutes eine Reise an, deren Ziel Antwerpen war.

Der Mann machte es nicht wie andere Reisende, die sich nach Verlassen des Zuges beeilen, einen Gasthof aufzusuchen. Vom Bahnhof weg trat er eine Wanderung durch die Straßen an, in denen er übrigens Bescheid wußte, besuchte hintereinander drei elegante Friseurläden, in deren letzterem er genau zweiunddreißig Minuten zubrachte, um sich hierauf in ein großes Restaurant zu begeben. Nach einer frugalen Mahlzeit verließ er das Lokal durch einen Seitenausgang, trat in die Toilette im Torweg und kam – mit einem kurzen, schwarzen Vollbart nach etwa zehn Minuten wieder heraus.«

Jelbermayer machte eine Pause und lächelte. Durch die Züge der Fürstin war eine Bewegung gegangen. Nur ganz schwach, flüchtig wie ein Gedanke. Der Polizeikommissar hatte sie dennoch beobachtet und – freute sich.

Dann ein leises Räuspern und er fuhr fort: »Diese Metamorphose sagte uns, daß wir die weite Reise nicht umsonst gemacht hatten.

Unverdrossen in dieser angenehmen Ueberzeugung trabten wir in seinem Schatten zum Bahnhof zurück. Als der nächste Zug eingelaufen war, mischte Lenowostowoi sich unter die Ankommenden, verließ mit ihnen den Bahnhof und fuhr nach dem »Cygel d'or«, wo auch wir beide sowie der Prosslsche Agent abstiegen.

Erst am anderen Morgen verließ der Mann den Gasthof wieder und zwar, um die Büros der Red Star-Line aufzusuchen. Wie ich später erfuhr, hatte er auf dem »L'Aigle«, der Mittwoch mittags die Fahrt über den Atlantischen Ozean antrat, Passage nach Newyork genommen, erster Kajüte natürlich, ein Luxus, den der falsche Vollbart unerbittlich forderte.

Damit war der Spaziergang indessen nicht beendet. Von der Red Star-Linie ging es tief in die Altstadt hinein, bis zu einem schäbigen kleinen Antiquitätenladen, Über dem in Riesenlettern der Name Jan Vandermeer angeschrieben stand.

Der belgische Polizeikommissar, der uns auf meine Bitte begleitete, sagte mir: »Der Bursche, der diesen Laden betreibt, ist einer der größten und geriebensten Schufte der Stadt. Die Antiquitäten und Raritäten, die er um sich herum angehäuft hat, sind nur der Deckmantel, unter dem er sein eigentliches Geschäft handhabt – den Handel mit größtenteils gestohlenen Juwelen. Er vertreibt sie hauptsächlich übers Wasser. Seit vielen Jahren sitzen wir ihm auf den Rippen, ohne ihm etwas anhaben zu können; er vereinigt in sich die Schlauheit von zehn Füchsen.« –

»Eine Weile ließen wir vergehen, dann traten auch wir, mein belgischer Kollege und ich, bei Vandermeer ein. Auf dem Ladentisch lagen fünf Saphire und vier Perlen, die der Ladenbesitzer soeben prüfte. Das genügte, ich durfte den Kommissar bitten, zur vorläufigen Festnahme des Lenowostowoi zu schreiten.

Nach Erledigung aller Formalitäten reiste ich sechsunddreißig Stunden später mit dem Russen, mit meinem Agenten und mit dem Prosslschen Mann, den wir leider ebenfalls in vorläufige Obhut nehmen mußten, um ein verfrühtes Bekanntwerden von Lenowostowois Sistierung zu verhindern. –

Vandermeer behauptet, den Lenowostowoi nie zuvor gesehen, noch von ihm gehört zu haben. Er will nur um den Wert der Juwelen befragt worden sein; zum Kauf hätte sie der Fremde nicht angeboten. Tatsache ist auch, daß sich bei der sofort vorgenommenen Durchsuchung des Vandermeer selbst und seines Ladens so wenig etwas fand wie bei Lenowostowoi und bei der vorgestern in seiner Wiener Wohnung stattgehabten Haussuchung. Ich bezweifle aber trotzdem nicht, daß es uns gelingen wird, auch die noch fehlenden Stücke aufzutreiben.«

Und ein graues Zugbeutelchen von Waschleder aus der Tasche ziehend, ließ Jelbermayer fünf Saphire und vier tropfenförmige Perlen auf den persischen Tischteppich rollen.

»Wollen Eure Durchlaucht die Güte haben, die Juwelen zu besichtigen,« bat er. »Wie Sie sich überzeugen werden, entsprechen sie aufs Haar der in unseren Aufnahmeakten niedergelegten Beschreibung.«

Lisaweta neigte leise den Kopf.

Die bösen Ahnungen der letzten Zeit hatten sich zwar schneller verwirklicht als sie gedacht, das gefürchtete Unheil war da, sie stand bereits unter seinem Schatten, die Gewohnheit strengster Selbstzucht und das Bewußtsein, von dem ihr ohnehin mißtrauenden Beamten scharf beobachtet zu werden, ließen den Widerschein ihres verzweifelten Seelenzustandes nicht bis an die Oberfläche treten. Nur zu sprechen war sie unfähig. Ihre Stimme wäre zur Verräterin des in ihr tobenden Sturmes geworden.

Sie neigte sich weiter gegen den Tisch, nahm die ihr vorgelegten Steine und Perlen auf die flache Hand und betrachtete sie lange mit der schärfsten Aufmerksamkeit.

Erst als sie sich wieder soweit gefaßt hatte, um ein lautes Wort wagen zu dürfen, erklärte sie, die Juwelen an den Kommissar zurückgebend: »Ich bedauere, sagen zu müssen, daß weder die Steine noch die Perlen mein sind, in Wirklichkeit sind aber wesentliche Unterschiede vorhanden.«

Dr. Jelbermayer zeigte keinen Schimmer von Ueberraschung. Er sah noch vergnüglicher aus als zuvor.

»Das ist ja sehr schade!« sagte er. »Sind Durchlaucht aber auch vollkommen sicher, daß es nicht die Ihrigen sind?«

»Vollkommen sicher, mein Herr Kommissar,« antwortete sie mit einem kalten, hochmütigen Blick.

Er nahm keine Notiz davon.

Geschmeidig sagte er: »Gnädigste Fürstin wollen verzeihen, Farbe und Feuer der Edelsteine werden durch die Fassung, die jetzt fehlt, stark beeinflußt und –«

»Ich weiß das. Hier handelt es sich aber nicht um diese, sondern um die Größe der Stücke, um ihre Form,« unterbrach sie in einem Tone, der klar besagte: »Für mich ist diese Frage erledigt.«

Für den Beamten war sie es aber noch nicht.

»Ich muß mir dennoch von Eurer Durchlaucht die Erlaubnis erbitten, die Juwelen auch Ihrer Kammerfrau vorzulegen. Darf ich sie rufen?«

Er hatte es mit der verbindlichsten Liebenswürdigkeit gesagt, und dennoch hörte Lisaweta deutlich heraus, daß die Bitte in Wahrheit die Anordnung einer Amtsperson war, der sie sich fügen mußte, wollte sie das Uebel nicht noch verschärfen.

Und Nadascha war nicht vorbereitet!

Schweigend stand sie auf, um auf den elektrischen Knopf neben der Tür zu drücken, worauf sie ein gleichgültiges Geplauder anzuknüpfen versuchte. Ihr Herz schlug aber hart und überschnell, daß sie meinte, der andere müßte sein Pochen so deutlich hören wie sie selbst.

Nadascha kam, und ihr erster Blick galt Lisaweta, deren Gemütsverfassung sie mit dem feinen Spürsinn treuer Anhänglichkeit erkannte.

Jelbermayer streckte ihr die Hand mit den verleugneten Kostbarkeiten entgegen und fragte rasch, ohne den Blick von ihrem Gesichte zu wenden: »Sind das Steine aus dem gestohlenen Schmuck Ihrer Durchlaucht?«

Sie waren es. Die Kammerfrau hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Weniger die Saphire, als die Perlen, deren charakteristische Form sie unter hundert anderen kenntlich gemacht hätte.

Sie stand und betrachtete sie und betrachtete sie wieder, von allen Seiten, und dabei stöhnte sie in heißer Angst: »Heilige Muttergottes von Kasan und ihr lieben Heiligen alle bewahrt mich nur dieses Mal vor dem falschen Wort!«

Die Fürstin anzusehen, wagte sie nicht, denn sie fühlte des Kommissärs Blicke unverwandt auf sich brennen. Ebensowenig wagte sie ein entschiedenes: »Sie sind es!« oder ein entschiedenes: »Sie sind es nicht!«

Geduldig wartete Jelbermayer, geduldig fuhr er fort, die beiden Frauen im Banne seiner Augen zu halten, bis Nadascha endlich mit kummertrüber Miene sagte: »Ach Gott, Herr Kommissar – ich weiß es nicht. Die Steine und die Perlen sehen wohl so aus, wie die Ihrer Durchlaucht aussahen, aber sie sehen doch auch wieder anders aus, besonders die Perlen.«

»Sie können aber doch nicht so und gleichzeitig auch anders aussehen, das ist ja Unsinn, Frau!« versetzte der Beamte scharf mit einem bohrenden Blick.

Nadascha hatte jetzt aber das Fahrwasser gefunden, in dem sie sich verhältnismäßig sicher fühlte, und auch zehn Polizeikommissare hätten sie nicht wieder daraus vertrieben.

»Kann schon sein, Herr Kommissar, daß es unmöglich ist, mir aber kommt's so vor, denke ich jetzt: »Es könnten doch die Juwelen der Frau Fürstin sein,« so denke ich im nächstem Augenblick: »Nein, sie sind's doch nicht – sie sind doch anders!«

»Auf diese Weise könnte es aber leicht sein, daß Ihre Durchlaucht überhaupt nicht mehr in den Wiederbesitz ihres Schmuckes gelangte,« bemerkte Jelbermayer.

Und Nadascha stöhnte aus ihrem innersten Empfinden heraus: »Das wäre aber doch zu schrecklich, Herr Kommissar!«

»Dann sehen Sie sich die Pretiosen noch einmal und recht genau an!« ermunterte der Kommissar, Steine und Perlen Stück für Stück auf den Tisch legend, daß die Alte sie bequem sehen und prüfen konnte.

Das tat sie auch – lange und andächtig. Das Ergebnis aber war ein erneutes Kopfschütteln und ein erneutes: »Ich weiß es nicht, Herr Kommissar.«

»Und was würden Sie sagen, wenn Sie Ihr Urteil unter Eid abgeben sollten, liebe Frau?« forschte Jelbermayer weiter.

Er war voll Freundlichkeit.

Durch Nadaschas Kopf fuhr es trotz der sie erfüllenden Herzensangst: »Fuchs! Ein altes Steppenhuhn ist nicht so leicht zu fangen!«

»Ich würde sagen: Ich weiß es nicht, Herr Kommissar, denn ich kann nicht anders sagen,« antwortete sie.

Jelbermayer verzog noch immer keine Miene.

»So danke ich Ihnen. Sie können gehen.«

Die alte Frau knixte und ging, ohne die Fürstin anzusehen. Erst von der Schwelle aus, als sie schon die Türklinke in der Hand hielt, streifte ein scheu-verstohlener Blick zu ihr hin.

War Mütterchen Maria Lisaweta zufrieden mit ihr?

Die Fürstin lehnte nachlässig in ihrem Armstuhl, und ihre langen Finger spielten mit einer von der Lehne niederhängenden Quaste.

»Die Juwelenfrage wäre nun ja wohl erledigt, Herr Kommissar?« fragte sie, als hinter Nadascha die Tür klappte.

Es lag die Aufforderung darin, sich zu verabschieden.

Jelbermayer verstand es auch so und erwiderte, sich gegen sie verneigend: »Vorläufig wenigstens, Durchlaucht. Leider muß ich trotzdem noch einen Augenblick stören.«

Dabei zog er seine Brieftasche und holte eine Photographie heraus. Das Brustbild eines Mannes von sechs- bis achtunddreißig Jahren mit kurzem Vollbart und von ausgesprochen slavischem Typus.

Er legte es vor Lisaweta hin, auf die es noch erschütternder wirkte, als die Nachricht von der teilweisen Auffindung ihrer gestohlenen Juwelen. Sie verfärbte sich bis in die Lippen, und ein Schreck durchzuckte sie, den sie als ein körperliches Unbehagen empfand.

Michael Lenowostowoi mit einem Vollbart, wie er ihn auf der verhängnisvollen Nachtfahrt von Berlin nach Wien getragen hatte! – War er wahnsinnig, daß er sich in dieser Maske photographieren ließ?

Jedenfalls war es die schlimmste der heutigen Ueberraschungen – sogar die bei weitem schlimmste! Das ganze Kartenhaus von Lug und Trug, in das sie sich verkrochen wie eine Schildkröte in ihre Schale, lag jetzt in sich zusammengesunken, verweht!

In Lisawetas Kopf begann ein fieberhaftes Arbeiten an der so schwer zu lösenden Frage: »Was nun?«

Ein Ausweg mußte gefunden werden – aber wo war einer – wo?

Bis jetzt sah sie nur ein unheimliches Chaos vor sich, aus dem sich zwei scharf umrissene Bilder heraushoben: Alexander Alexandrowitsch, getroffen von Karamanoffs und seiner Hintermänner Rache, und den Staatsanwalt, der sie der Mitschuld an dem Aktendiebstahl zieh!

Dr. Jelbermayer hatte die Fürstin nicht aus den Augen gelassen und in seinem Gesichte stand triumphierende Freude.

Dieses Mal war ihm ein voller Erfolg sicher.

»Michael Lenowostowoi im falschen Vollbart. Zugleich der Verkäufer der Eurer Durchlaucht gestohlenen Juwelen und der Aktendieb aus dem Berlin-Wiener Nachtschnellzug vom 9. auf den 10. März,« sagte er in schwerem Amtstons.

Der Gedanke an die ihrem Manne drohenden Gefahren half ihr die niederschmetternden Eindrücke der letzten Minuten überwinden, half ihr alle ihre Kräfte zusammenzuraffen, um den Anforderungen gewachsen zu sein, die der Augenblick an sie stellte.

War die Bedeutung des Kommissars ein Schlag ins Blaue, durch den er sie zu fangen hoffte – hatte er Beweise? Hierüber Klarheit zu gewinnen, war das Wichtigste, das Dringendste.

Lisaweta beugte sich über die ihr vorgelegte Photographie, eine halbe Minute später fragte sie gleichgültig: »Glauben Sie, Herr Kommissar?«

»Ich weiß es.«

Hals und Lippen wurden ihr immer trockener.

»So? – Hat der Mann gestanden?«

Die Fürstin sprach es fast flüsternd. Sie wollte die Tonlosigkeit der Stimme verdecken.

»Er gesteht nicht, er leugnet nicht. Seine Verteidigungsmethode ist eine ganz drollige. »Wozu soll ich mich anstrengen? An Ihnen ist es, mir die behauptete Schuld nachzuweisen.« Das ist alles, was er sagt. Wir werden ihm zu Willen sein, werden ihn des Aktendiebstahls, werden ihn der Beihilfe bei dem Schmuckdiebstahl überführen,« erzählte Dr. Jelbermayer im vergnüglichen Plauderton.

»Glauben Sie das zu können, Herr Kommissar?«

»Gewiß können wir's. Seit dem Diebstahl bei Eurer Durchlaucht haben wir uns auch mit dem Lenowostowoi sehr eingehend befaßt, und infolgedessen war es nach einer Wiederankunft in Wien unser erstes, ihn im falschen Vollbart zu photographieren und das Bild allen jenen Personen vorzulegen, die mit dem Aktendieb von der Zeit seiner Abfahrt von Berlin bis zu seinem Eintreffen in Salzburg am folgenden Abend in Berührung gekommen sind. Diese Personen sind Herr Graf Hartens, der Kondukteur Schubert von der Nordwestbahn, der Chauffeur Ristner, der den Dieb von dem einen Bahnhof zum anderen gefahren hat, und der Kondukteur Holze an der Kaiser Elisabeth-Westbahn. Jeder von ihnen hat in Lenowostowoi auf den ersten Blick den Schriftendieb erkannt. Eure Durchlaucht sind die erste und die einzige von der ich nicht das entschiedene: Er ist's! hörte,« schloß der Kriminalist sarkastisch.

Lisaweta blieb unbewegt. Sie erschrak nicht mehr.

Zusammenbrechen mußte der von ihr aufgerichtete Lügenbau, es konnte aber der Zusammensturz vielleicht noch eine kleine Weile hinausgezögert werden.

Daher erwiderte sie mit einem leisen Lächeln: »Ich konnte diese Erklärung nicht geben, Herr Kommissar, denn das Bild des Herrn, der sich mit uns in das Wagenabteil teilte, ist mir nur noch undeutlich in Erinnerung. Ich habe kein Personen-Gedächtnis.«

Dr. Jelbermayer verneigte sich und erwiderte mit der äußersten Liebenswürdigkeit: »Glücklicherweise bat es nichts zu besagen und wollen Durchlaucht sich nicht weiter mehr anstrengen. Das Zeugnis der Genannten genügt vollauf. Ungleich wichtiger ist eine genaue Darstellung aller von Eurer Durchlaucht gemachten Beobachtungen während des Aufenthaltes an der Station Bodenbach. Herr Polizeirat Meidler beauftragte mich, die diesbezüglichen Depositionen zu erbitten.«

Lisaweta zögerte keine Sekunde.

»Ich habe dem, was ich bei meinem Besuch bei dem Herrn Polizeirat sagte, bis auf weiteres nichts beizufügen,« erwiderte sie.

In des Kommissars Züge trat Ueberlegenheit.

»Uns ist das Gegenteil bekannt, Durchlaucht,« sagte er schärfer.

»Wieso?« Es kam wie Eis heraus.

»Der Grenzaufseher, dem bei dem betreffenden Zug die Gepäckrevision in dem Wagen der ersten Klasse oblag, erinnert sich sowohl Eurer Durchlaucht, als auch des vollbärtigen Reisenden genau und ist bereit, seine Aussage eidlich zu erhärten. Sie besteht darin, daß der Reisende seinen Ecksitz in der Zeit, die er in dem betreffenden Abteil revidierte, nicht verlassen hat. Damit aber fallen die Depositionen, die Durchlaucht seiner Zeit dem Herrn Polizeirat machten, in sich selbst zusammen,« sagte Jelbermayer mit einer artigen Verbeugung und mit einer Miene, als machte er Lisaweta die erfreulichste Mitteilung.

Sie hatte sich hochgerichtet und fragte eisig, stolz: »Inwiefern, Herr Kommissar? Habe ich gesagt, jener Herr wäre während der Revision aufgestanden? Ich sagte, daß ich es nicht wüßte, daß ich seiner nicht achtete.«

»Sehr richtig. Durchlaucht sprachen aber die Vermutung aus, daß der Austausch der Aktensäcke während der Gepäckrevision erfolgt wäre,« antwortete Jelbermayer mit seinem verbindlichsten Lächeln, »und das setzt voraus, daß der fragliche Herr aufgestanden ist, denn von seiner Ecke aus dürfte ihm der Pelz des Grafen Hartens kaum erreichbar gewesen sein.«

»Nein, das war er nicht,« gab Lisaweta zu.

»Durchlaucht werden ferner zugeben müssen, daß der Umtausch nur während Ihres Alleinseins mit dem Fremden, von ihm konnte ausgeführt werden?«

»Ich gebe auch das zu.«

Sekundenlang sah hoffnungslose Angst aus ihren Augen. Sie sah sich zu immer neuen Zugeständnissen gedrängt, die sich gegen sie kehrten.

Dr. Jelbermayer lächelte noch immer, als er fortfuhr: »Und endlich werden gnädigste Fürstin auch nicht leugnen können, daß die mit dem Umtausch der Schriftensäcke notwendig verbundenen Manipulationen Ihrer Aufmerksamkeit gar nicht entgangen sein können. Durchlaucht haben –«

Hatte die Fürstin Aehnliches auch zu hören erwartet, hinnehmen durfte sie es nicht.

Sie riß sich zusammen und unterbrach den Kommissar mit den ernst und stolz gesprochenen Worten: »Mein Herr, ich würde größere Vorsicht in Ihren Aeußerungen für dringend geboten halten. Sie haben mich soeben, allerdings in umschriebener Form der Teilnahme an dem Aktendiebstahl im Berliner Schnellzug beschuldigt!«

»Leider zwingen uns die Umstände zu dieser Beschuldigung,« bekannte er Farbe. »Durchlaucht haben sich bei einem Ihrer Besuche bei dem angeblichen Privatgelehrten und Schriftsteller Iwan Karamanoff selbst darüber geäußert.«

Er hatte das mit der kurzen, klaren Bestimmtheit eines Mannes gesagt, der seiner Sache sicher ist und der seine Behauptungen beweisen kann. Dabei sah er der Fürstin unverwandt in die Augen.

Zu seiner ärgerlichen Ueberraschung hatte sie jedoch nur ein mitleidiges Lächeln für ihn.

»Der große Trumpf!« sagte sie achselzuckend. »Auch der Herr Polizeirat Meidler hat ihn anläßlich meines Besuches ausgespielt, und ich erwiderte ihm darauf, was ich auch heute sage: Daß erhorchte Brocken einer Unterhaltung zu keinem Schluß auf ihren Inhalt und ihre Bedeutung berechtigen.«

»Meine Behauptungen stützen sich nicht auf den großen Trumpf, wie Durchlaucht sich auszudrücken belieben. Auf unsere Veranlassung »erkrankte« Karamanoffs Magd und empfahl, ehe sie das Haus verließ, ihre angebliche Freundin und Landsmännin, die Sicherheitsagentin Anna Grübl zur Aushilfe. Karamanoffs nahmen das Mädchen an, und es hatte die Stelle bereits angetreten, als Durchlaucht zwei Tage vor Ihrer Abreise den Karamanoff letztmals besuchten.

Die Unterredung war keine sonderlich freundliche, und Durchlaucht äußerten in französischer Sprache sehr laut: »Sie haben mich durch eine gefälschte Depesche nach Berlin locken lassen. Sie haben mich durch zwei weitere Falsifikate dort festgehalten, bis die Dinge zur Verwirklichung Ihres erbärmlichen Planes reif waren. Sie haben uns in Berlin durch Lug und Trug zusammengeführt, Sie haben mich durch Drohungen für die Rückreise an den Grafen gefesselt und das alles nur, damit Lenowostowoi seine schändliche Arbeit in möglichster Sicherheit tun konnte.«

»Was Durchlaucht sonst noch sagten, vermochte die Agentin nicht zu verstehen, denn Frau Aschkin kam aus dem Zimmer heraus, das der Schauplatz dieser Unterhaltung war, nahm ihr den Kehrbesen ab und schickte sie in die Küche. – Dennoch werden gnädigste Fürstin einsehen, daß unser Material vollauf ausreicht, um auch das energischste Vorgehen zu rechtfertigen, selbst gegen Ihre Person, so unerwünscht es uns wäre.«

Lisaweta war kreidebleich, eine wahnsinnige Aufregung tobte in ihr.

Obgleich es wie Blei auf ihr lag, richtete sie sich doch wieder hoch und fragte mit der dumpfen Klangfärbung des Ohnmachts-Bewußtseins: »Soll das eine Drohung sein, Herr Kommissar?«

»Nein, aber eine Warnung.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Daß es in Durchlauchts wohlverstandenem Interesse liegt, uns eine streng wahrheitsgetreue Darstellung aller Vorgänge zu geben, die Ihre Reise nach Berlin veranlaßten, aller Vorgänge, die sich dort abspielten und auch aller jener, deren Schauplatz Ihr Abteil im Berlin–Wiener Nachtschnellzug vom 9. bis 10. März war. Daß Lenowostowoi der Aktendieb ist, unterliegt keiner Frage mehr, und wenn, was ja sein kann, die Anklage wegen Spionage noch nicht gegen ihn erhoben ist, so wird sie doch in den nächsten Tagen erhoben werden.«

Lisawetas neues heftiges Erschrecken bei dieser Mitteilung entging Dr. Jelbermayer nicht. Er ließ eine Pause eintreten, um hierauf mit erhöhtem Nachdruck weiterzufahren: »Ich bin beauftragt, Durchlaucht auch im Namen des Herrn Polizeidirektors die diskreteste Behandlung Ihrer Aussagen zuzusichern, gleichzeitig habe ich aber auch aufmerksam zu machen, daß ein längeres Beharren bei der bisherigen Taktik höchst Unangenehme Weiterungen nach sich ziehen würde, doppelt unangenehm für eine Dame in so bevorzugter Stellung.«

Während des Sprechens hatte Jelbermayer sie fest im Auge behalten, und auch jetzt wendete sich sein Blick nicht. So sah er das wunde, todesmüde Lächeln, das für eines Gedankens Länge in ihrem Gesicht erschien, so sah er auch ihr Zögern und Ueberlegen.

Eine starke Spannung faßte ihn. – Hielt er sie endlich?

Als die Antwort kam, kam sie jedoch nur, um ihm zu sagen, daß er sie noch immer nicht hielt.

Während einer Minute war in der Fürstin eine mächtige Versuchung gewesen, zu reden, ihre Lasten abzuwerfen. Dann war aber wieder der alte Opfermut aufgestanden und hatte gesagt: »Nein, es wäre eine Feigheit, eine Schändlichkeit gegen Alexander!«

Und ruhig erwiderte sie: »Herr Kommissar, was ich zu sagen hatte, habe ich dem Herrn Polizeirat bereits gesagt, Zusätze zu machen bin ich nicht in der Lage.«

Dr. Jelbermayer sah sie durchdringend an, dann sagte er so ernst, wie er noch nicht gesprochen hatte: »Ich bitte Durchlaucht dringend, Ihren Bescheid nochmals zu überlegen.«

»Ich habe nichts mehr zu überlegen, Herr Kommissar.«

Ihre Stimme hatte einen harten, schneidenden Klang.

Es war jener Groll in ihr, jene Gallenbitterkeit, die den erfaßt, der mit nicht erlahmender Zähigkeit und Selbstentäußerung, der bis zur äußersten Erschöpfung mit seinem Schicksal ringt und ihm doch nicht die kleinste Gunst abringt.

Ob der Kriminalist erriet, was in ihr kochte, stürmte.

Er schüttelte leise den Kopf, als er sagte: »Das bedauere ich sehr! Zumal dadurch die Freiheit Eurer Durchlaucht einigermaßen beschränkt wird. –«

In Lisawetas Augen ging eine dunkle Glut auf, Blitze umschossen den Beamten.

»Ich bitte um eine Erklärung.«

»Mein Auftrag geht dahin, unmittelbar nach meinem Besuch bei Eurer Durchlaucht zur Berichterstattung nach Wien zurückzukehren, worauf der Herr Polizeidirektor das Weitere beschließen wird. Bis dahin bleiben Durchlaucht Herrin Ihrer Person und Ihrer Handlungen –«

»Bis dahin? – Ausgezeichnet!«

Dr. Jelbermayer zuckte die Schultern, als wollte er sagen: »Es liegt an Ihnen, nicht an uns!«

Ueber seine Lippen traten aber andere Worte, die Schlußworte seiner unterbrochenen Erklärung: »Nur die Ueberschreitung der Grenze wollen Durchlaucht unterlassen. Sollte sie versucht werden, so wären die zur Ueberwachung bestellten Sicherheitsagenten gezwungen. Einsprache zu erheben und Durchlauchts sofortige Rückkehr nach Wien zu veranlassen.«

»Das ist stark – sehr stark, mein Herr!« sagte sie mit hochmütig in die Höhe gezogenen Brauen.

Dr. Jelbermayer zuckte wieder höflich bedauernd die Achseln.

»Durchlaucht mögen versichert sein, daß dem Herrn Polizeidirektor diese Verfügung sehr gegen seine Sinne ist. Der Aktendiebstahl ist jedoch eins Angelegenheit von der größten Tragweite, und wir wissen bestimmt, daß gnädigste Fürstin in der Lage sind, ihn aufzuklären oder doch wenigstens wichtige Anhaltspunkte zu geben. Daß eine geborene Freiin von Reichlingen sich dessen weigert, daß sie durch Schweigen die Schädiger ihres Vaterlandes zu schützen sucht, muß sehr befremdend wirken. – Wie wir bisher jede Rücksicht geübt haben, die mit der Amtspflicht vereinbar war, so werden wir es fernerhin tun. Wollen also Durchlaucht uns nicht zu einem Vorgehen zwingen, das uns selbst überaus peinlich wäre.«

Und ohne eine weitere Bemerkung verließ der Beamte nach einer korrekten Verbeugung den Salon.

Die Fürstin warf sich auf den Stuhl, der bisher ihm zum Sitz gedient hatte.

Den hochwogenden Gärungen war die ruhigere, die objektivere Betrachtung, war die Ernüchterung gefolgt.

Was wollte sie eigentlich? – Der Kommissar hatte ja vollkommen recht und sie keinen Grund, sich zu entrüsten.

Verhielt es sich etwa nicht, wie er sagte? Bot sie nicht tatsächlich alles auf zum Schutze derer, die aus Habgier oder aus Fanatismus Oesterreich zu schädigen suchten – sie, eine Tochter aus einer streng kaiserlich gesinnten Familie?

»Pfui! – Pfui – Pfui!«

Es war kläglich, zum Weinen.

Die Tür ging auf, und Nadaschas, von einer gestickten turbanähnlichen Haube gerahmter Kopf schob sich herein.

»Mütterchen Maria Lisaweta, die Frau Baronin und der Exzellenzherr sind außer sich, weil Mütterchen noch immer nicht kommt – es wird bald drei Uhr sein. – War's was Schlimmes, was der Kommissar brachte?« setzte sie ängstlich hinzu, denn sie verstand wie niemand sonst, in der Fürstin Mienen zu lesen.

»Was er gebracht, hat früher oder später kommen müssen. Wir reden heute abend darüber. – Hat außer dir noch jemand die Karte des Kommissars gesehen?«

»Nein, Mütterchen Maria Lisaweta.«

»So weiß niemand im Hause, wer er ist?«

»Keine Seele.«

»Ganz sicher?«

»So wahr ich lebe!«

»Gut! – Wirst du nach ihm gefragt, von wem es auch sei, so merke dir: er ist von der Wiener Anglobank zu mir geschickt. Es wäre auch sehr wahrscheinlich, daß ich in diesen Tagen für kurze Zeit vereiste. – Oder nein, das noch nicht.«

»Ist es wahr, verreist Mütterchen Maria Lisaweta wirklich?« fragte Nadascha erschreckt.

»Wahrscheinlich.«

»Oh!«

»Ja, meine gute Nadascha, jetzt geht es auf Tod und Leben!«

»Oh! – Oh!«

Es waren keine Ausrufe, es war ein Stöhnen tiefer Herzensangst.

»Die Polizei weiß mehr – viel mehr als ich dachte, als mir lieb sein kann, die gegenwärtige Situation ist unhaltbar geworden, und bei Karamanoff heißt es jetzt: ›Biegen oder brechen!‹ mag daraus entstehen was will.«

Die Augen der Kammerfrau konnten nicht weiter werden, als sie in diesem Augenblick waren, und die Hände, die sie in ihrer Bedrängnis andächtig gefaltet hatte, zitterten.

»Heilige Muttergottes von Kasan und ihr lieben Heiligen steht uns bei, verlaßt uns nicht in unserer Not!« murmelte sie fromm.

Und dann gelobte sie still für sich zehn weitere sechspfündige Wachskerzen für das berühmte Gnadenbild in der Kathedrale von Kasan, wenn dieser Sturm glücklich vorüberrauschte.


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