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9. [8]

Dr. Jelbermayer hatte nicht übertrieben. In der Wiener vornehmen Gesellschaft beschäftigte man sich tatsächlich überaus lebhaft und in keiner schmeichelhaften Weise mit Lisaweta Orlowski, deren getrenntes Eheleben ohnehin schon seit langem den Anlaß zu allerlei Vermutungen geboten hatte. Der Schriftendiebstahl in der Nacht vom 9. auf den 10. März, der so, wie die Dinge lagen, kaum anderswo konnte ausgeführt worden sein als während der Fahrt im Abteil selbst, also im Beisein der Fürstin, warf einen langen, tiefen Schatten über sie. Und daß jene, denen ihr Reichtum Neidgefühle erregte oder die so bevorzugte Rolle, die sie am Kaiserlichen Hof spielte, nicht versäumten, diesen Schatten noch zu verlängern und zu vertiefen, ist selbstverständlich.

Es war auch schon so weit, daß dieser und jener bei Aufstellung der Einladungslisten zu einem Diner oder einer Abendgesellschaft, ihren Namen darauf zu setzen »vergaß«, daß manche ihr mit einer ungewohnten Kälte begegneten oder gar sie übersahen. Die alte Fürstin Westernheim, eine der führenden Damen der Hofgesellschaft, hatte erst kürzlich geäußert: »Die geheimnisvolle Geschichte mit der Orlowski ist mir entsetzlich peinlich, denn es ist fast unmöglich, sie noch einzuladen. Mein Mann will aber keinen schroffen Abbruch unserer Beziehungen. Die Rücksicht auf den Feldzeugmeister Reichlingen bestimmt ihn, mit dem er so eng liiert ist,«

Und die Herrschaften, an die sich diese Bemerkung gerichtet, hatten das volle Verständnis dafür gehabt. Ihnen erging es ja um kein Haar besser. Und wie sie sich über diesen Punkt einig waren, so auch darüber, daß Fürstin Lisawetas gesellschaftliche Stellung unhaltbar wäre, wenn sich der Schriftendiebstahl nicht in einer für sie ehrenrettenden Weise aufklärte.

»Warum sagt ihr es ihr nicht ehrlich,« fragte die alte Gräfin Sturmach, die wegen ihrer männlichen Erscheinung und wegen ihrer derben, direkt aufs Ziel lossteuernden Art den Spitznamen »Der alte Grenadier« trug.

Sie war unbemerkt an die Damengruppe herangekommen und hatte eine und die andere Aeußerung gehört.

»Das geht doch nicht –«

»Sehe ich nicht ein. Was man denkt, kann man auch sagen. Wenn euch die Courage fehlt, rede ich mit ihr –«

»Aber ich bitte dich, Leontine, das ist ja unmöglich!« wehrte die erschreckte Fürstin Westernheim.

Die übrigen so heimtückisch Ueberfallenen schlossen sich dieser Ansicht bedingungslos an.

»Du bist schrecklich, Leontine!« sagte eine zweite, ältere Dame.

Die Sturmach lachte kurz und kräftig.

»Ehrlich bin ich, Mali, ehrlich, und das ist kein Verbrechen. Es gibt selbst Leute, die es als einen Vorzug betrachten,« antwortete sie.

»Bedenk doch –«

»Und ich glaube,« fuhr die Gräfin unbeirrt fort, daß auch die Lisaweta Orlowski zu jenen zählt. Sie wird nicht beleidigt sein, weil sie zu gescheit ist, um nicht einzusehen, in einem wie schiefen Lichte sie steht, wohl aber wird sie jeden möglichen Aufschluß geben.«

»Können wir doch gar nicht verlangen!« sagte die Westernheim.

»Warum denn nicht?«

»Weil es eine Beleidigung – nein, weil es eine Unmöglichkeit ist, jemanden zu sagen: Wir halten dich für die Mitschuldige eines Diebes!« eiferte die Fürstin.

»Ihr tut es aber doch und ihr unterhaltet euch auch darüber.«

»Unter uns, Leontine, unter uns! Das ist ein gewaltiger Unterschied!«

»Nur kein schöner. Besser gefiel es mir, ihr tätet die Orlowski zu einer Rechtfertigung einladen. Es ist dünn ihre Sache, ob sie sie geben kann und will. Wenn nicht, ist's euch unbenommen sie laufen zu lassen.«

Gräfin Sturmach gewann aber keine Anhängerinnen.

»Wäre die Lisaweta so feinfühlend, wie man es von einer Dame in ihrer Stellung erwarten sollte, so würde sie sich freiwillig zurückziehen bis sie gerechtfertigt ist,« entschied die Westernheim.

Lisaweta Orlowski sollte zwar nichts wissen von den Urteilssprüchen, die in ihren Gesellschaftskreisen über sie abgegeben wurden, niemand hatte sie auf das Gezischel aufmerksam gemacht, dessen Kosten sie trug, denn »das konnte man nicht«, und dennoch wußte sie alles. Sie lebte zu lange in der Gesellschaft, um ihre Gepflogenheiten nicht zu kennen. Auch sah sie die gezwungenen Mienen, wenn sie in einen Salon trat, die bleiche Liebenswürdigkeit, mit der man sie empfing, und die schlecht verhehlte Verlegenheit vieler, die ihr sonst auf Tod und Leben den Hof gemacht hatten und jetzt, seit dem »großen Eklat« nicht mehr den Mut dazu besaßen. Sie sah, wie sie sich ängstlich zu jener Tür hinausdrückten, wenn sie durch diese hereintrat oder sich hastig in eine Unterredung mit anderen vertieften, war Flucht aus irgendeinem Grunde unmöglich.

Nur Hartens blieb stets unverändert und wo sie sich trafen, fand er sich sogleich an ihre Seite, um nicht mehr zu weichen bis zum Augenblick ihres Rückzuges aus dem betreffenden Salon.

Diese standhafte Treue, dieser unverbrüchliche Glaube an sie hatten etwas Rührendes, das Lisaweta tief empfand, das ihr zugleich aber auch tief schmerzlich war. Lieber wäre es ihr gewesen, er hätte gleich den anderen allen das Kainszeichen auf ihre Stirn brennen gesehen, und mehr als einmal schon war sie nahe daran gewesen, ihm ihre Mitschuld an der Schriftenaffäre zu bekennen.

Es wäre eine solche Wohltat gewesen, eine so unendliche Wohltat! Und doch versagte sie sich die Entlastung ihres Gewissens, denn eins stand ihr noch höher: ihr Mann!

Und wie sie um seinetwillen, zum Schutz seiner Sicherheit, hierauf verzichtete, so besuchte sie unentwegt die Salons ihrer Bekannten, die öffentlichen Sammelplätze der eleganten Welt. Hätte sie sich zurückgezogen, so würde es allgemein geheißen haben: »Schuldbewußtsein!« Besser noch man sagte »Unverfrorenheit!« So lange sie aufrechten Hauptes frei und unbefangen jedem gegenübertrat, wagte sich der Geifer der Bosheit wenigstens nicht in solchem Maße an ihren Namen, der auch der ihres Mannes war, den möglichst zu wahren ihre Pflicht war. Und so hob sie zerrissenen Herzens den Kopf höher denn je, wappnete ihre Stirn gegen die Anspielungen in Wort und Miene, die ihr bald hier, bald dort entgegentraten und übersah kalten, stolzen Blickes die Veränderungen in der Haltung ihrer Bekannten.

Nadascha merkt nur zu gut, wie sehr ihrer Dame Stellung erschüttert war, denn der Einladungen kamen immer weniger und ihr Five o'clock-Salon füllte sich nicht mehr. Nur wenige Getreue stellten sich noch ein. Und alles das hatte der elende Karamanoff verschuldet!

Ihre Erbitterung war eine maßlose.

»Wann gehen wir endlich nach Fiume, Mütterchen Lisaweta?« erkundigte sie sich fast Tag für Tag.

Die Fürstin aber hatte nur ein Achselzucken als Antwort, ab und zu auch ein: »Sobald wir können.«

Dann war die Kammerfrau wieder still. Sie brauchte nicht zu fragen, warum sie noch immer nicht reisen konnten – einfach darum nicht, weil es Karamanoff noch nicht gefiel, der Fürstin Urlaub zu geben. Er trieb es allemal so, wenn sie verreisen wollte und wahrscheinlich ohne einen reellen Grund, nur um sie zu quälen, nur um sie seine Macht fühlen zu lassen!

Dieser schlechte, schlechte Mensch!

Und er hatte doch gar keine wirkliche Macht über Mütterchen Maria Lisaweta, seine ganze Herrlichkeit baute sich auf ihrer Angst um den Fürsten auf, die der gottvergessene Spitzbube eifrig nährte und pflegte! So machte er es mit ihr, so machte er es mit Väterchen Alexander Alexandrowitsch!

Wenn er um dieses schändliche Doppelspiel wüßte! – Nein, wenn er nur eine Ahnung davon hätte – wie würde er dreinfahren und mit einem einzigen wuchtigen Hieb das scheußliche Netz zerhauen, das ihn, das Mütterchen umspann!

Und wie schon oft in diesen Jahren, wenn sie ihre Dame so gequält und so unglücklich gesehen, spielte sie mit dem Gedanken, heimlich an den Fürsten zu schreiben und ihm »reinen Wein« einzuschenken. Im entscheidenden Augenblicke verließ sie aber doch immer der Mut zu diesem Schritte. Sie glaubte zwar nicht an die Macht, mit der Karamanoff sich brüstete, sie bezweifelte sogar, daß es ihm mit seinen Drohungen Ernst war – aber man konnte immerhin nicht wissen. Führte ihre unbefugte Einmischung schlimme Folgen herbei, widerführe dem Fürsten oder der Fürstin ein Unglück, so hätte sie es auf dem Gewissen.

Dieser Gedanke schlug auch Nadascha in Fesseln.

Und Graf Nikolaus Nikolajewitsch saß nun schon seit Tagen in Abazzia und wartete vergeblich auf Mütterchen Maria Lisaweta. Das war schlimm, sehr schlimm!

Daß die Fürstin gestern einen Brief von ihrem Verwandten erhalten hatte, in dem es hieß: »Mich hier fest- und lahmzulegen, hat keinen Sinn. Wenn du nicht hierher kommen kannst, komme ich zu dir nach Wien,« wußte Nadascha nicht. Maria Lisaweta hatte ihr nichts davon gesagt, um sich ihrem Drängen zu entziehen.

Ihre Antwort auf diese Erklärung hatte gelautet: »Nur noch wenige Tage Geduld, ich komme!«

Und Maria Lisaweta war tatsächlich entschlossen, nunmehr unter allen Umständen zu reisen, mit wie ohne Karamanoffs Genehmigung. Es war unstatthaft, Scheragin noch länger hinzuhalten, zum Dank für den ihr bewiesenen Hilfseifer, es war unstatthaft, Mutter und Onkel immer wieder mit leeren Ausflüchten zu vertrösten. Auch war es unmoralisch und darum unerträglich, noch länger die Rolle durchzuführen, die sie jetzt in der Gesellschaft spielte. Die Rolle der Reinen, Unberührten, sie, die Schuldige, wenn auch durch fremde Schuld Schuldige.

Noch einen Besuch bei Karamanoff zur Wiederholung des auf Aushändigung der Botschaftspapiere gesetzten Gebotes und dann fort – fort! Für Alexanders Sicherheit war ja so gut gesorgt, wie sich nur sorgen ließ. Und zwar sollte dieser Besuch sogleich ausgeführt werden.

Eine jähe Energiewelle hatte Lisaweta erfaßt, sie sollte nicht ungenützt verebben!

Nach einem Blick auf die Uhr, die neun Minuten vor elf angab, ging sie in ihr Ankleidezimmer und rief durch ein Glockenzeichen Nadascha herbei, die in ihrer Altfrauen-Stube weiches, weißes Seidenzeug zu einer Bluse verarbeitete.

»Meine Herrin befiehlt?« fragte die Kammerfrau im Eintreten.

»Ich will mich umkleiden zu einem Besuch bei Karamanoff, will ihn noch einmal fragen, ob er mir die gestohlenen Papiere verkauft,« erwiderte sie.

»Mütterchen Maria Lisaweta sollte sich diese Mühe sparen, er tut's nicht – jetzt noch nicht.« –

»Warum jetzt weniger als später?«

»Weil er alles aufbieten wird, um noch mehr Kapital daraus zu schlagen.«

»So werde ich noch um einige Tausend höher gehen.«

Die Alte schlug die Hände zusammen.

»Sind fünfzigtausend Kronen nicht schon ein ganzes Vermögen? Und sagt Mütterchen nicht selbst, daß die Papiere nicht die Bedeutung haben, die er vermutet hat?«

»Alles recht, meine gute Nadascha, aber mir liegt sehr – unendlich daran, daß Graf Hartens die Schriftstücke wiedererhält. Das Möglichste aufzubieten bin ich ihm schuldig. Auch wird es mich vor mir selbst entlasten. – Ende der Woche reisen wir, vielleicht schon übermorgen.«

»Gott sei Lob und Dank!« sagte Nadascha.

Das Umkleiden ging schnell. Zu ihren Besuchen bei Karamanoff wählte die Fürstin stets eine bürgerlich einfache, unscheinbare Kleidung, und sie war bereits im Begriff, den Hut festzustecken, als es bescheiden an die Tür klopfte.

»Durchlaucht!«

Es war der Bediente Anton.

»Was gibt's?«

»Der Herr Stegmeyer läßt untertänigst anfragen, ob er die Ehre haben kann, Durchlaucht einen Augenblick zu sprechen,« berichtete der Diener durch die Tür.

»In mein Schreibzimmer, Anton, ich komme gleich,« antwortete Lisaweta, während sie mit der Kammerfrau einen Blick tauschte.

Es war der Detektiv Prossl, der unter dem Namen Stegmeyer in ihr Haus kam.

»Es muß etwas Besonderes vorliegen, denn heute ist nicht sein Tag,« flüsterte sie Nadascha zu, ehe sie hinausging.

»Der Himmel gebe, daß es etwas Gutes ist!« entgegnete diese.

»Ich sage es dir noch, ehe ich gehe.«

Der Detektiv, ein behäbig aussehender Mann in mittleren Jahren, verneigte sich ehrfurchtsvoll, als Lisaweta das Schreibzimmer betrat, und ein zweites Mal, als sie auf ihn zugehend, fragte: »Haben Sie etwas Neues?«

»Allerlei, Eure Durchlaucht.«

Sie bat ihn, sich zu setzen und zu sprechen.

»Das erste wäre, daß ich vorgestern mittag zu Herrn Polizeirat Meidler aufs Sicherheitsbureau zitiert wurde. Er blätterte zunächst in einem Aktenbündel, dann wendete er sich jählings zu mir und fragte: »In wessen Auftrag überwachen Sie den Schriftsteller Iwan Feodorowitsch Karamanoff, den Ingenieur Sergej Tschatschitsch, den Chemiker Leo Woritzky und den angeblichen Literaten Michael Lenowostowoi? Ich erwarte, die volle Wahrheit zu hören. Andernfalls wäre ich genötigt, sie unter Eid zu erzwingen. Sie wissen, daß mir hierzu Mittel und Wege zu Gebote stehen.«

»Und Sie haben mich genannt?« rief die Fürstin erschreckt.

»O, was denken Durchlaucht! – »Herr Polizeirat,« habe ich ihm entgegnet, »werden gütigst erlauben, daß ich mit dem gewünschten Aufschluß warte, bis es so weit ist. Was mir anvertraut wird, halte ich heilig.« – Wie er gesehen hat, daß es mit dem Ueberrumpeln nicht geht, hat er andere Saiten aufgezogen, denn er weiß natürlich noch viel besser als ich, daß es um das Erzwingen einer Aussage keine so einfache Sache ist.

»Mit dem Heilighalten, mein Lieber, ist nicht mehr viel zu wollen, denn Ihr Auftraggeber oder vielmehr Ihre Auftraggeberin ist uns bereits bekannt, es ist die Frau Fürstin Orlowski. – Der Hügel und der Rauhmüller« – das sind zwei alte Geheimagenten – »haben Sie im Laufe der Woche schon zweimal in das Haus der Fürstin hineingehen sehen und sich auch überzeugt, daß Sie im ersten Stock anläuteten. Sie waren sorgfältig verkleidet, immerhin aber nicht sorgfältig genug, um Ihre langjährigen alten Kameraden zu täuschen. Sie sehen also selbst, daß ein Leugnen gar keinen Zweck hat, ebensowenig ein Verweigern der gewünschten Auskunft. Sagen Sie uns denn getrost, was die Fürstin über den Karamanoff und seine Freunde in Erfahrung bringen will, oder welche Zwecke sie mit der Ueberwachung verfolgt, mit der Sie betraut sind. Es liegt selbst im Interesse der Durchlaucht, denn der in ihrem Beisein an Graf Hartens verübte Aktendiebstahl kann für sie recht unangenehme Wirkungen haben.«

Prossl räusperte sich und Lisaweta benützte die dadurch eingetretene Pause zu der erregten Zwischenbemerkung: »Das ist ja unerhört! – Wie hat man nur herausgebracht, daß Sie vorige Woche zweimal bei mir waren?«

Sie war sehr nervös, ihre Finger spielten rastlos mit dem spitzenbesetzten Taschentuch.

»Der Polizei stehen zu Erkundungszwecken allerlei Mittel zu Gebote, Eure Durchlaucht. Es könnte sein, daß man mich durch einen Agenten beobachten ließ –«

»Oder mich!« fiel Lisaweta mit einem bleichen Lächeln ein.

Prossl sah plötzlich etwas verlegen und zweifelvoll aus.

»Unmöglich wäre auch das nicht –«

»Sagen Sie lieber: »Es ist so!« forderte die Fürstin und sah ihn mit gespannter Miene an.

»Das darf ich nicht, Durchlaucht, denn mir ist nichts gesagt worden, und meine eigenen Beobachtungen haben noch kein Ergebnis gehabt, das mich zu einer solchen Behauptung berechtigte. – Aber ich sage: Es könnte sein, daß gnädigste Frau Fürstin überwacht werden – ich möchte es sogar als wahrscheinlich bezeichnen.«

»Aus bestimmten Gründen?« erkundigte Lisaweta sich.

»Ja. Seit meinem Besuch auf dem Sicherheitsbureau habe ich mindestens dreißigmal meinen Weg über den Parkring genommen, zu den verschiedensten Tag- und Nachtstunden, in langen und in ganz kurzen Zwischenräumen, und fast jedesmal habe ich einen Geheimagenten in der Nähe des Hauses angetroffen –«

»Auch jetzt?« fragte sie.

»Nein, jetzt nicht, aber jenseits der Reitallee steht ein Fiaker mit heruntergelassenen Vorhängen, der schon vor länger als einer Stunde an der gleichen Stelle gestanden hat.«

»Einen solchen Fiaker habe ich schon öfter bemerkt, er steht oft stundenlang und ist mir eben durch die heruntergelassenen Vorhänge aufgefallen. Glauben Sie, daß er Leute von der Polizei beherbergt?« unterbrach die Fürstin lebhaft.

Wieder ein Achselzucken Prossls.

»Ich kann nicht sagen, daß ich es glaube, indessen gibt alles was ich in diesen Tagen wahrgenommen habe, zu denken. – Um aber wieder auf meine Unterredung mit dem Herrn Polizeirat Meidler zurückzukommen – nach einem weitschweifigen Hin und Her beauftragte er mich, wegen des Schriftendiebstahls und auch wegen Karamanoffs bei Eurer Durchlaucht vorstellig zu werden –«

»Inwiefern?« fragte sie.

Prossl sprach für ihre Ungeduld viel zu langsam und zu umständlich. Ihr fehlte die innere Ruhe, seinen Bericht abzuwarten. Ihr Gesicht spannte sich mehr und mehr, und um Mund und Nase spielte wieder das nervöse Zucken, das sich seit ihrer Erkrankung weit häufiger einstellte als vorher.

Der Detektiv fuhr in seiner überlegten, die Worte wägenden Weise fort: »Ich soll Eure Durchlaucht aufmerksam machen, daß der Polizei alles bekannt ist, was Ihre Beziehungen zu Karamanoff betrifft –«

»Unmöglich – unmöglich!« schrie Lisaweta leise heraus.

Ihr war, als hätte sie einen vernichtenden Schlag empfangen. Das nervöse Zucken verbreitete sich von Mund und Nase über das ganze erblasste Gesicht.

»Nie, nie ist ein Wort über meine Lippen gekommen – nie! Für meine russischen Diener stehe ich wie für mich selbst –!«

Sie verstummte unter einem blitzartig aufschießenden Gedanken – sollte Scheragin –

»Was weiß man?« fragte sie hastig.

»Darüber hat sich der Herr Polizeirat nicht geäußert. Nach meiner Meinung jedoch nicht genug, um Ihrer persönlichen Aufschlüsse gern zu entbehren, denn der Herr Polizeirat beauftragte mich, Durchlaucht vorzustellen, daß es in Ihrem persönlichsten Interesse liegt, ihm das vollste Vertrauen zu schenken. Behördlicherseits würde die weitgehendste Diskretion und die umfassendsten Schutzmaßregeln zugesichert.«

»Und Sie haben diesen Auftrag übernommen, Herr Prossl?« fragte die Fürstin stotternd in Erregung.

»Durchaus nicht, denn ich hätte andernfalls eingestanden, daß ich zurzeit die Ehre habe, mit Eurer Durchlaucht in Verbindung zu stehen. Das hindert indessen nicht, meiner hohen Auftraggeberin davon Mitteilung zu machen für den Fall, daß sie geneigt wäre, den Rat des Herrn Meidler zu befolgen.«

»Unter keiner Bedingung!« erklärte Lisaweta, ohne sich zu besinnen. »Sie wissen, was auf dem Spiele steht.«

»Unter diesen Umständen nichts oder doch ganz wenig, denn der Herr Polizeirat wie der Herr Polizeidirektor wünschen Eure Durchlaucht aus den Händen des Karamanoff zu befreien und den Verdacht zu beseitigen, den Ihr notgedrungenes Schweigen über gnädigste Fürstin gebracht hat. Man würde die Angelegenheit in aller Stille ordnen.«

»Und der Fürst? Sie vergessen das Wichtigste!«

»Seine Durchlaucht der Fürst Orlowski wird so scharf bewacht und ist selbst so vorsichtig, daß ihm von seiten des Karamanoff und seiner etwaigen Genossen so gut wie keine Gefahr droht. Es ist für niemand möglich, unbemerkt an ihn heranzukommen. Herr Bernand, unser Pariser Kollege, befindet sich Tag und Nacht in seiner unmittelbaren Nähe. Endlich bezweifle ich, daß Karamanoff überhaupt in der Lage ist, seine übrigens recht unbestimmten Drohungen wahr zu machen, die ich für blinde Schreckschüsse zur Unterstützung seiner Erpressungen halte. Er hat keinen anderen Verkehr, als mit den Russen Tschatschitsch, Lenowostowoi und Woritzky. Er hat Wien seit zwei Jahren nicht einmal für einen einzigen Tag verlassen, wie ich von den Hausmeisterleuten erfahren habe, seine Korrespondenz ist eine für einen Schriftsteller sehr mäßige, um nicht zu sagen beschränkte, lauter Umstände, die nicht den Mann verraten, der irgendwo und irgendwie eine bedeutendere Rolle spielt.«

Lisaweta schüttelte den Kopf.

»Das alles kann der Vorsicht entspringende Zurückhaltung sein!« sagte sie.

»Möglich. Ich aber habe den Eindruck, als wäre Karamanoff sehr vereinsamt.«

»Kommen Sie wieder zu Polizeirat Meidler?« fragte die Fürstin.

»Vorläufig nicht. Sollte sich bei ihm Sehnsucht nach mir einstellen, so wird er mich schon rufen lassen. Ich bezweifle aber, daß sie ihm kommen wird, denn er hat sich neulich überzeugt, daß ich ein Brunnen bin, an dem die zum Heraufholen des Wassers erforderliche Pumpe fehlt. So wird er keine Lust haben, mit mir seine Zeit zu verlieren. Zudem will er sich mit dem Fürsten ins Benehmen setzen, damit er seinen Einfluß bei Eurer Durchlaucht geltend macht.« –

Lisaweta fuhr entsetzt in die Höhe.

»Das darf unter keinen Umständen geschehen!« rief sie außer sich. »Wenn mein Mann alles wüßte, nur das, was Meidler ihm sagen kann, gebe es das größte Unglück!«

»Ich sehe nur nicht ein, wie Eure Durchlaucht ihn daran verhindern wollen,« versetzte der Detektiv.

»Ueber das »Wie« bin auch ich mir noch nicht klar – aber ich werde – ich muß es finden!« – Dann zornig: »Warum sagen Sie mir das alles erst heute, Herr Prossl – warum sind Sie nicht gleich gekommen?«

»Weil es zu gefährlich war. Eure Durchlaucht. Ich bin überzeugt, daß Meidler auch mich beobachten läßt und wäre ich gleich oder schon am anderen Tage hierher gegangen, so hätte er triumphiert und den Schluß daraus gezogen, daß ich es sehr eilig habe, über meine Ladung zu berichten und mich meines Auftrages an Eure Durchlaucht zu entledigen.«

»Das hätte nichts geschadet, da er ja doch schon weiß, daß Sie zu mir kommen!«

»Verzeihung, Durchlaucht, das beweist noch lange nicht, daß ich wegen Karamanoff komme, und darum wollte ich alles vermeiden, was ihn in dieser Ueberzeugung bestärken mußte.«

»Und wenn es darüber zu spät geworden ist, wenn er sich inzwischen mit dem Fürsten in Verbindung gesetzt hat?«

»Das tut er nicht, Durchlaucht; er wartet die Wirkung meiner Mitteilung ab, denn ungeachtet meiner Weigerung, seinen Auftrag zu übernehmen, ist er doch überzeugt, daß ich gnädigste Frau über alle Vorgänge aus dem laufenden erhalte,« antwortete Prossl entschieden.

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es. Der Herr Polizeirat und ich haben zu lange zusammen gearbeitet, als daß wir uns nicht gründlich kennen sollten. Er ist der Mann der Vorsicht und Bedenken, der nur im äußersten Notfall grob zugreift, und darum ist er auch derjenige Beamte, dem alle Angelegenheiten zugewiesen werden, die eine besonders diskrete Behandlung erfordern oder für die sie gewünscht wird.«

»Ich gehe noch heute zu ihm. Wann ist er auf seinem Bureau zu treffen?« fragte Lisaweta.

»Durchlaucht wollen –«

»Keine vertraulichen Mitteilungen machen – nein. Das erscheint mir trotz allem zu gefährlich, jedenfalls verfrüht. Ich will ihn bitten, sich eine kurze Zeit zu gedulden, da ich damit in der Lage sein dürfte, ihm das eine oder das anders aufzuklären.«

Der Detektiv zeigte eine zweifelhafte Miene.

»Das wäre nicht ohne, Durchlaucht,« versetzte er nach einigem Nachdenken, »doch hat es auch seine bedenklichen Seiten. Erstens geben Sie dadurch die Inanspruchnahme meiner Dienste zu –«

»Nachdem der Polizeirat doch schon darum weiß, wie Sie sagen, werde ich kein Hehl daraus machen. – Oder ist es Ihnen unangenehm?«

»Durchaus nicht, denn ich habe nur meine Pflicht getan. – Zwischen 3 und 6 Uhr nachmittags ist der Herr Polizeirat stets auf seinem Bureau, wenn nicht zufällig etwas außergewöhnliches ihn in Anspruch nimmt,« antwortete Prossl.

»Ueber den Verbleib der gestohlenen Schriften ist Ihnen nichts bekannt geworden. Sie haben auch noch keine Wahrnehmung gemacht, die auf schwebende Verkaufsverhandlungen hinweist?«

»Ueber den Schriftendiebstahl sind wir leider noch völlig im Dunkeln, Durchlaucht. Soviel wir über die Lebensführung der russischen Herren bisher erkundet haben, ist sie die denkbarst zurückgezogene und selbst philiströse. Sie genießen bei den Hausleuten auch des besten Rufes. Es hat sich noch kein einziger Verdachtsmoment ergeben, und man fragt sich, wozu Karamanoff solche Geschichten macht, wozu er die von Durchlaucht erpreßten Summen verwendet.«

Lisaweta nickte.

»Ich war im Begriff ihn aufzusuchen, als Sie mir gemeldet wurden, Herr Prossl, und werde jetzt zu ihm gehen, um ihn rund heraus nach den Schriften zu fragen und mein Kaufangebot zu wiederholen. Ich werde ihm auch vorstellen, daß es für ihn weit gefahrloser ist, sie mir zu verkaufen als einer fremden Regierung. Kommen Sie morgen wieder, es könnte sein, daß ich Ihnen noch etwas zu sagen hätte, ehe ich zu meiner Mutter nach Fiume gehe.«


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