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Botschafter Graf Nigra

Als ich 1894 meinen Posten in Wien antrat, fand ich als ältesten Kollegen – sowohl an Jahren als an Dauer der Vertretung seines italienischen Vaterlandes in Wien – den Grafen Constantin Nigra. Er war 1827 in Villa Castelnova bei Turin geboren und Botschafter in Wien seit dem Jahr 1885.

Wir waren uns von unserem ersten Begegnen an gegenseitig sympathisch, und ich meine, daß es der künstlerische Zug unseres Wesens war, der darin anklang.

Politisch war Nigra eine viel zu markante, erfahrungsreiche, ja, berühmte Persönlichkeit, um mich, der dem Alter nach sein Sohn hätte sein können, für vollwertig ansehen zu können. Wenn er dieses nach einer gewissen Zeit tat, so wird es wohl das Intuitive in meiner Natur gewesen sein, das ihn dazu bewog, mich »ernst« zu nehmen. Denn wie sollte ich mich jemals in bezug auf Erfahrung mit ihm messen können? Alles war glänzend, was er äußerte und arbeitete. Klug, abgeklärt, präzis – und doch der künstlerischen Freiheit nicht entbehrend.

Sein politisches Schicksal war allerdings reich genug, um mit Erfahrung, Geist und Charakter einen »ganzen Mann« gestalten zu können.

Schon 1848, als Student, hatte Nigra – einer Savoyer Familie entsprossen, und eng mit dem Königshause (damals sich »Sardinien« nennend) verbunden – gegen Österreich gefochten.

Infolge der durch König Carlo Alberto seinem Lande gegebenen Verfassung (ein Beispiel, das der Kirchenstaat und Toskana nachahmten), war in den österreichischen Kronländern Norditaliens eine Revolution ausgebrochen, die 1849 die österreichische Armee unter Feldmarschall Radetzky in der Schlacht bei Custozza niederwarf.

König Carlo Alberto, der das gesamte Italien »befreien« wollte, wurde gezwungen, abzudanken, und sein Sohn Victor Emanuel trat an seine Stelle.

Unmittelbar nach Beendigung dieser Krisen, d. h. seit Beginn der fünfziger Jahre, war bereits Nigra in Beziehungen zu seinem berühmten Landsmann aus Savoyen, dem Grafen Cavour, getreten.

Zunächst hatte sich Nigra als junger Mann journalistisch und auch belletristisch betätigt, und es waren besonders die Volkslieder seines engeren Vaterlandes, die ihn anzogen. Damals schon begann er sie zu sammeln und zu erklären, bis sie in seinem Alter, und während der Ruhe seines Wiener Aufenthaltes in jenem, für sein Vaterland bedeutsamen Werk »Canti popolari del Piemonte« ihre Kodifizierung erhielten. Es rührte mich, wie er mir mit jener Wärme, die der Künstler nach Vollendung eines großen Werkes für dieses Kind empfindet, diese Lebensarbeit überreichte. Ich fühlte mich bewegt, denn ich bemerkte, daß er mein tiefes Verständnis für die Tatsache empfand, daß er dieses Werk höher einschätzte, als alles, was er politisch geleistet hatte. Und das war wahrlich viel!

Hatte er wohl unrecht? – Das werden spätere Generationen zu beurteilen haben, denn wenn auch Nigras Name in der Zeitgeschichte der Aufrichtung des Königreichs Italien stets genannt werden wird, so dürfte er doch immer erdrückt durch die Namen Victor Emanuel und Cavour erscheinen, und vielleicht gar durch den Namen des Abenteurers Garibaldi. Ich meine darum, daß seine »Canti popolari del Piemonte« seinen Namen fester halten werden in der Kulturgeschichte seines Vaterlandes, als seine politischen Berichte aus der Zeit seiner politischen Tätigkeit es vermögen.

Cavour aber hatte bald die außergewöhnlichen Fähigkeiten Nigras erkannt, die sich bei den Verhandlungen, die zu dem Friedensschluß in Paris 1856 (nach der Liquidierung des Krimkrieges) führten, besonders glänzend bewährten. Seitdem blieb er Cavours »rechte Hand«, und nahm an der Einigung Italiens, die infolge des Krieges Napoleons und Victor Emanuels gegen Österreich 1859 nach der Schlacht bei Solferino und dem Frieden von Zürich erfolgte, politisch tätigsten Anteil. Österreich verlor damals die Lombardei, die mit den Monarchien von Neapel, Toskana, Parma und Modena in dem geeinigten italienischen Königreiche aufging.

Ich wiederholte hier allbekannte Dinge, doch nur, um meines verehrten Freundes Nigra Wirksamkeit zu beleuchten, die mit dem gewaltigen Erfolge der Politik Cavours untrennbar verschmolzen war. Daß aber Cavour nach dem Friedensschlusse 1860 seinen begabtesten Mitarbeiter als Gesandten nach Paris schickte, wo von dem großen »Helfer« Italiens, Napoleon III., die europäische Politik gemacht wurde, ist begreiflich. Es war auch natürlich, daß Napoleon nach seinen Erfolgen in Italien Nigra in sehr bemerkenswerter Weise auszeichnete, wie es auch nicht wieder verwunderlich war, daß Kaiserin Eugenie an der geistvollen Unterhaltung des interessanten Italieners ganz besonderen Gefallen fand, der, groß, schlank und blond, mit seinen brennenden Augen den Menschen in die Seele sah. Langobardenblut von den Savoyer Bergen, das in Italien für die schönste Rasse gilt.

Die Jahre 1860 – 1876, die Nigra in Paris verlebte, zählen zu den interessantesten seines reichen Lebens, und so führte uns oft unsere Unterhaltung an den Seinestrand.

Eines Tages erzählte ich Nigra ein Abenteuer aus Paris während des Krieges 1870: Ich war während der Kämpfe der Versailler Truppen mit der Kommune im Frühling 1871 – sehr leichtsinniger Weise! – in Zivilkleidung von unsern Vorposten aus in die brennende Stadt während der Bürgerkämpfe geschlichen. Diese Erzählung veranlaßte Nigra, mir seine Erlebnisse bei dem Zusammenbruch des Kaiserreiches nach der Kapitulation von Sedan mitzuteilen.

In der fürchterlichen Kopflosigkeit, die nach dieser Katastrophe in Paris eintrat erfolgte die Proklamation der Republik. Merkwürdigerweise aber hatte dabei niemand an die Kaiserin Eugenie gedacht, die sich in den Tuilerien befand. Dort nun hatte man völlig den Kopf verloren – alles war auf und davon in der Angst, von dem erregten Volke massakriert zu werden. Nigra erzählte: »Mir kam plötzlich der Gedanke: was wird aus der Kaiserin? Die unglückliche Frau wird nicht wissen, was sie nach dem Verlust des Thrones, der Gefangenschaft des Kaisers und bei der drohenden Gefahr seitens der aufgebrachten Bevölkerung für ihre Sicherheit tun soll. Ich nahm einen Fiaker, fuhr sofort nach den Tuilerien, und zwar zu einem Seiteneingang, durch den man zu den Gemächern der Kaiserin gelangen konnte. In dem Korridor angelangt, war alles wie ausgestorben. Dann sah ich ein weibliches Wesen, dem ich mich bemerkbar machte. Es war eine Kammerjungfer der Kaiserin, die mich erkannte. Ich sagte ihr, sie solle mich der Kaiserin melden, die mich auch sofort allein empfing. Sie trug ein einfaches Promenadenkleid und suchte kleine Sachen zusammen, die sie einpacken wollte. Ich sagte ihr, sie müsse sofort die Tuilerien verlassen, man könne nicht wissen, was sich von einem Augenblick zum andern ereignen werde. Die Kaiserin antwortete ziemlich ruhig und gefaßt. Ich sagte ihr, daß mein Fiaker unten bereit sei und sie nur zu befehlen habe, wohin sie fahren wolle. Ich gab ihr den Arm, als wir die Treppe hinabschritten. Der Kutscher erkannte sie nicht, da sie nicht nur sehr einfach gekleidet war, sondern auch einen dichten Schleier trug. Ihr war bei dem Gedanken an eine Flucht nach England nur ihr Zahnarzt Mr. Evans eingefallen. Ein ruhiger, anständiger Mann, der sie seit Jahren behandelte und ihr, wie sie meinte, sehr ergeben sei. In seiner Wohnung könne sie sich vorläufig verbergen. Wohl ging es in der Stadt unruhig her, aber niemand wendete den Kopf nach dem Fiaker. Wir stiegen unerkannt aus, ich zahlte den Kutscher und begleitete die Kaiserin hinauf zu Evans, der gottlob zu Hause war und einigermaßen erschreckt, die Kaiserin zu sehen, die er in seinen Salon geleitete. Ich hatte meine Mission erfüllt – eine Menschenpflicht wie eine andere, und bat die Kaiserin, mich zu entlassen.«

Das war die Erzählung Nigras. Es ist bekannt, daß Evans die Kaiserin an die Küste brachte und sie in einer englischen Schaluppe über den Kanal nach einem kleinen Küstenplatz Südenglands geleitete.

Meine letzte Erinnerung an die Tuilerien war eine andere: Als ich jenen abenteuerlichen Besuch während der Kommune in Paris machte, stand das herrliche Gebäude als eine rauchende Ruine vor mir. Die hohen grauen Dächer eingestürzt, die geschwärzten Essen ragten empor, und durch die starrenden Fensteröffnungen qualmte Rauch. Der Eindruck war sehr ergreifend, denn, als ich mich im Herbst 1869 auf dem Wege nach Biarritz in Paris aufhielt, stand ich auch vor den Tuilerien auf demselben Platz. Vor dem hohen Gittertor, das die Tuilerien von dem öffentlichen Jardin des Tuileries trennte, hielten zwei Posten zu Pferde Wache – in der prächtigen Uniform der Gardes à Cheval, und auf der dahinter liegenden Gartenterrasse, die sich an das Schloß lehnte, ging der Kaiser in eifrigem Gespräch mit einem Begleiter, beide in Zivil, auf und nieder.

Doch noch eine andere Episode wurde zwischen Nigra und mir erörtert. Eine viel besprochene, kommentierte, schließlich sagenhaft umwobene Episode: Der Auftakt zu dem Kriege 1870. Nigra erzählte mir, er habe aus dem Munde des alten Kaisers eine ganz genaue Darstellung des Vorganges mit Benedetti in Ems erhalten, als er, 1876 zum Botschafter in Petersburg ernannt, Kaiser Alexander II. in Ems aufsuchte, und bei dieser Gelegenheit äußerst liebenswürdig auch von Kaiser Wilhelm aufgenommen worden sei. Er hatte sich unmittelbar nach der genauen Darstellung des Vorganges an Ort und Stelle durch den Kaiser, eine Aufzeichnung gemacht, und war nun gern bereit, mir eine Kopie davon zu geben.

Ich ließ diese Aufzeichnung (die von Nigra m. p. gezeichnet ist,) in dem Liebenberger Archiv deponieren. Sie wird auch jetzt noch ihren historischen Wert behaupten Dies historische Dokument gehört wegen seines hochpolitischen Inhalts nicht in den Rahmen dieser Veröffentlichungen. Im übrigen ist eine fast gleichlautende schriftliche Aufzeichnung Kaiser Wilhelms I. von seinem Urenkel Kronprinz Wilhelm, in dessen Buch »Ich suche die Wahrheit« der Öffentlichkeit zugängig gemacht worden.
Die Herausgeberin.
. Eine Kopie, die ich meinerseits außerdem anfertigen ließ, sandte ich am 1. März 1895 an den Kaiser.

Waren die Anknüpfungspunkte auf politischem Gebiete schon reichhaltig genug, wenn Nigra und ich uns sahen, so waren sie kaum minder zahlreich auf literarischer Basis. Meist suchte ich ihn in seiner Botschaft auf, weil ich bei mir zu leicht Störungen erlitt. Der Betrieb in meiner Botschaft war ein sehr wesentlich stärkerer als bei meinem Freunde Nigra. Abgesehen von dem größeren gesellschaftlichen Kreise, in dem ich lebte, und den Anforderungen, die meine Familie mit Frau und sechs sehr lebhaften Kindern an mich stellten, jagten sich Depeschen und Eingänge aller Art vom Morgen bis zum Abend. Der einsame Nigra aber, der getrennt von seiner Gattin lebte, hatte damals wohl Grenzreibereien zwischen Tirol und Italien und einige andere Kalamitäten auszugleichen, sich sonst jedoch in den neunziger Jahren leidlich ruhiger politischer Stimmung bezüglich Österreichs zu erfreuen. Ich fand ihn daher meist in dem Palais Lobkowitz am Josephsplatz (das Italien als Botschaftspalais gemietet hatte), behaglich in seinem Arbeitszimmer arbeitend, doch zufrieden, wenn ich ihn stören kam, um mit ihm über tausend und abertausend Dinge zu sprechen, die oft sehr fern von unseren dienstlichen Aufgaben lagen.

Zu den vielen Studien, denen sich Nigra hingab, gehörte auch die Genealogie der regierenden Häuser. Er verfolgte durch Generationen die Allianzen der herrschenden Familien, sie nach ihren geistigen Fähigkeiten und ihrer körperlichen Beschaffenheit auf die Wirkung von »Inzucht« prüfend. Es ist Tatsache, daß Nigra auf die Töchter des »Königs« von Montenegro hinwies, um jegliche Inzuchtfragen im Hause Savoyen auszuschalten und frisches Blut einer jungen Bergrasse herbeizuführen. Ob er damit Glück haben wird? Die Zukunft soll es uns lehren.

Eines Tages fand ich Nigra vertieft in alte Stammtafeln. »Regardez bien, cher ami«, rief er mir zu, »voilà la filiation de l'Empereur François Joseph du Pape Alexandre Borgia constatée!« »Durch das Haus Ferrara, via Lucrezia Borgia, wie ich annehme«, erwiderte ich.

»Ja, auch noch auf anderem Wege kann ich es nachweisen«, fuhr er fort. »Glauben Sie, daß der Kaiser es weiß?«

»Vielleicht, aber wir können ihn danach fragen. Meinerseits finde ich den Titel ›Apostolischer König‹ fast darauf hinweisend«, sagte ich scherzend.

Nigra lächelte in seiner feinen Art. »Auf diesen Einfall kann tatsächlich nur ein Protestant kommen! Aber sagen Sie mir: würde es den Kaiser interessieren?«

»Dem Kaiser dürften nur Sie davon sprechen. Und zwar als Katholik. Würde ich als Protestant ein solches Thema berühren, so würde man es als grimmen Spott betrachten und meine Abberufung wegen »Unverschämtheit« verlangen. Sie aber können als Katholik und akademischer Forscher die Sache ernst behandeln und bei einem langweiligen Hoffest den armen Kaiser dadurch auf ›bessere‹ Gedanken bringen.«

Ich erinnere mich, daß bei einer solchen genealogischen Erörterung der Leibjäger Nigras den Fürsten Lobkowitz meldete, den Besitzer des Palais.

Der gutmütige Fürst trat ein, und ich konnte es mir nicht versagen, im Laufe unserer Unterhaltung die Frage an ihn zu richten, ob ihn der Gedanke verletzen könnte, daß ein Monarch unter seinen Ahnen einen Papst habe? Der sehr päpstliche Fürst sah mich mit grenzenlosem Erstaunen an und sagte, etwas verletzt: »Das könnte doch höchstens Garibaldi sein!« Auf diese wunderliche Rechtfertigung – (oder was sonst ihm in seinem Kopf herumgespukt haben mochte) – war keine Erwiderung zu finden. Ich erklärte nur bescheiden, daß ich mich soeben mit Papst Alexander VI. Borgia beschäftigt habe, der, bevor er Papst wurde, »weltlich« und auch verheiratet gewesen sei.

Nigra unterbrach die Unterhaltung, um sich nach dem »Biliner Wasser« – einer Quelle mit ganz leichter Karlsbader Wirkung – (und einer großen Einnahmequelle für Lobkowitz als Herren der Herrschaft Bilin) zu erkundigen. Nigra trank seit Jahren jeden Morgen sein Glas Biliner und hatte zu seinem Verdruß gehört, daß die Quelle plötzlich versiegt sei. »Wie sieht es damit aus?« fragte er den Fürsten, »ist es Tatsache, daß die Quelle verloren ist?«

»Nein, nicht ganz«, sagte der gute Mann, »wir haben das Glück gehabt, unmittelbar daneben eine andere Quelle zu finden, so daß der Betrieb keine Störung erleidet.«

»Mit denselben Bestandteilen wie die alte Quelle?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er, »aber sehr ein gutes Trinkwasser.«

Dieses Bekenntnis einer reinen Seele rührte mich tief, und Nigra sagte, als Lobkowitz ging: »Ce bon prince est d'une simplicité céleste; – mais je crois pourtant faire mieux de renoncer dorénavant à mon bon verre de Bilin le matin. La proximité de cette nouvelle source excellente pourrait avoir des effets surprenants – ou bien aucun effet.«


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