Alois Essigmann
Sagen und Märchen Altindiens. 2. Band
Alois Essigmann

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Vipaschit, der Gute

Der gute König Vipastschit von Wideha schloß die Augen zum letzten Schlaf.

Da trat ein Häscher des Todesgottes an sein Lager. Finsteren Antlitzes stand er vor der Leiche, in blutrotes Gewand gehüllt, Hammer und Strick in der Rechten. Ein Geruch wie von Aas ging von dem Schrecklichen aus.

Schweigend fesselte er die Seele des Verstorbenen, ließ den Leichnam auf seinem Prunkbette liegen und führte Vipastschits Unvergängliches aus dem Palaste seiner Väter gegen Süden.

Zwölf Tage schritt Yamas Bote stumm dahin. Der gefesselte Vipastschit an seiner Seite litt unter des Weges Länge und Rauheit und unter der endlosen Glut der Sonne. So oft er aber das Haupt wendete, sah er in der Ferne die Berge der Heimat grünen und das Dach seines Palastes glänzen. Was die zurückgebliebenen Lieben im Totenopfer spendeten, war Nahrung und Trunk des Müden auf diesem Wege des Leidens.

Am Abend des zwölften Tages standen sie endlich vor Yamas Burg, und einer aus der Schar der Diener – Wunden und Krankheit sind des Todes Diener – ließ den Häscher mit seinem Gefangenen ein.

»Du sollst die sieben Höllen mit mir durchwandern!« sprach der Todesbote, als sie einen finsteren Gang durchschritten.

»Hab' ich so sehr gefrevelt in meinem Erdendasein? – und glaubte doch immer, den Weg des Rechtes und der Pflicht zu gehen!« sprach Vipastschit ernst.

»Unsträflich war dein Wandel, König, und allen Gerechten ein Vorbild!« erwiderte Yamas Diener. »Nur einmal hast du gefehlt und mußt nun zur Sühne die Qualen der Hölle erschauen, doch nicht erleiden. Dies Urteil sprach dir Yama, der die Toten richtet und die Lebendigen!«

Schweigend schritten sie weiter. Endlich sprach Vipastschit:

»Ich sinne vergeblich nach meiner Sünde! – Den Letzten meines Volkes hab' ich mit demselben Eifer beschützt wie den Ersten; nie hab' ich mehr als den Sechsten genommen und habe im Opfer den Göttern und Priestern mit offener Hand gespendet! – Ehrfürchtig neigte ich mich vor allem Guten und habe das Schlechte gebeugt und vernichtet, wo ich es fand. – Willst du meinen Fehler mir nennen?«

»Pivari, dein Weib, wollt' einst in Liebe dir nahen, doch du, von Sorgen deines Amtes umdrängt, hast ihrer Herzensnot nicht geachtet. Eine Stunde der Seligkeit hast du ihr geraubt, denn der Mann ist des Weibes Himmel auf Erden! Nun mußt du die Stunde in der Hölle verbüßen, auf daß du fleckenlos zum ewigen Licht aufsteigest!«

»Der Tod ist ein gerechter Richter!« sprach der Verurteilte ehrfürchtig, die gefalteten Hände zur Stirne erhebend.

Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, sah Vipastschit eine weite Grotte vor sich. Kreuz und quer liefen Gräben über ihren Grund, und darin lagen glimmende Kohlen aufgeschichtet. Durch ihre Glut hetzten, dumpf jammernd, arme Sünder dahin und versanken oft bis an die Knie in dem rauchenden Weg. Schwelendes Fleisch stank durch den ganzen Raum.

»Es ist die erste Hölle, die Hölle des Stöhnens!« sprach der Begleiter zu Vipastschit. »Viele, die du hier siehst, haben die Ehrfurcht vor Eltern und Lehrern, vor Weisheit und Sitte mit Füßen getreten; nun müssen sie tausend Meilen über das Feuer laufen, ehe sie in Tiergestalt ihr Erdenwallen wieder beginnen!«

Mitleidig sah Vipastschit nach den stöhnend Dahinhastenden und schritt hinter seinem Führer nach dem nächsten Raum.

Hier deckten glühende Erzplatten den Boden. Yamas Diener schleppten fortwährend Gefesselte herbei und wälzten sie über die rote Glut. Das Brüllen der Gemarterten klang schauerlich in das Zischen und Sengen ihrer verbrennenden Haut.

»Es ist die Hölle des Brüllens!« erklärte der Häscher dem König. »Dreitausendfünfhundert Meilen weit müssen die Gefesselten über die Glut rollen, ehe sie durch das Tier wieder zum Menschen aufsteigen dürfen!«

»Schrecklich!« sprach Vipastschit. »Manche der Armen zeigen auch tiefe Bißwunden, und dort sehe ich einen, dem Wölfe oder Hyänen die Schultern zerfleischt haben!«

»Er war ein Verleumder, der hinter dem Rücken seiner Nächsten ihre Ehre fraß!« sprach düster der Führer. »Und jene beiden dort, mit lodernden Zweigen in den Ohren, haben seine Lästerreden mit Freuden gehört und weitergetragen!«

Das große Herz voll innigsten Mitleides, folgte der König seinem unerbittlichen Führer in die dritte Hölle.

Hoffnungsloses Dunkel herrschte hier, und ein eisiger Hauch ließ das Blut in den Adern erstarren.

Der Häscher entzündete eine Fackel.

»Es ist die Hölle der Finsternis!« sprach er und wies seinem Gefangenen im flackernden Lichte ein Bild des Grauens: zähneklappernd schleppten sich Müde über Eis und Schnee dahin; Hagelstürme prasselten hernieder und rissen den vom Hunger Verzehrten die Haut von den Knochen. Wo zwei einander begegneten, da leckte der eine dem anderen gierig das Blut aus den Wunden.

In der vierten, der Hölle der Zwietracht, sah Vipastschit eine riesige Töpferscheibe. Verurteilte lagen darauf, und ein Diener Yamas trieb das Gewerke langsam im Kreise herum. Kam einer der Armen in seine Nähe, so schnitt ein glühender Draht ihn mitten entzwei.

»Sie haben auf Erden den Frieden gestört und überall Zwietracht gesät!« sprach der Häscher zu Vipastschit und zog ihn zur Hölle der grausigen Tiefe.

Wie ein riesenhafter Brunnen ging dort ein kreisrunder, bodenloser Abgrund in die Erde. Unablässig warfen die Diener Yamas Sünder hinein und zogen die Blutenden mit zerschmetterten Gliedern empor, um sie vom neuen hinunterzustürzen.

Schaudernd wandte Vipastschit sich von dem strengen Gericht.

Da sah er neben dem Abgrund einen herrlichen Wald sich breiten.

»Wir müssen ihn durchschreiten!« sagte sein Führer, »es ist der Schwertblätterwald!«

Kaum hatten die beiden den lockenden Wald betreten, so bot sich dem mitleidigen Herzen Vipastschits ein schrecklicher Anblick dar: Weithin brannte der Wald lichterloh, und in den Flammen hetzten Unglückliche umher. Die Blätter an den Bäumen waren haarscharfe Schwerter, und ein heulender Sturmwind wirbelte Tausende von ihnen durch die Luft, so daß sie die Leiber der Gemarterten schrecklich zerfleischten. Bäche von Jauche und Schweiß durchschnitten den glühenden Boden, Hyänen und wilde Hunde jagten die Erschöpften durch stachlichte Büsche und wühlten in den Eingeweiden der Gefallenen. Hier hackte ein Geier mit demantenem Schnabel die Augen eines lüsternen Neiders aus, dort fraßen Krähen die Zunge eines anderen, der gegen die Weisheit gestritten hatte.

Kalten Herzens erklärte der Führer dem guten Vipastschit alles, doch dieser wandte sich mit einer Träne im Auge von ihm.

»Zur letzten Hölle!« sprach der Häscher. »Zur Hölle der kochenden Glut!«

Und er führte Vipastschit zu einigen riesigen Kesseln, die mit siedendem Öl und mit glühenden Eisenspänen gefüllt waren. Tausend und abertausend Sünder hingen an scharfen Ketten kopfabwärts in dem kochenden Brei, und Scharen von Geiern rissen den Unglücklichen das verkohlte Fleisch von den Knochen.

Vipastschit trat, vom Schmerz überwältigt, an die Pforte, um all diesem Grauen zu entfliehen.

Da ging ein Jammern und Schreien durch die sieben Höllen, und »Bleibe, bleibe, du Guter!« klang es flehend an sein Ohr. »Himmelshauch geht von dir aus und lindert die schrecklichsten Schmerzen! – Wir werden verzweifeln, wenn du gehst!« seufzte es aller Orte.

Verwundert stand Vipastschit still und fragte seinen Führer, was dies bedeute.

Und der strenge Diener des Todes sprach:

»Wahre Güte, o Herr, ist der einzige Quell der Erquickung. Und du bist ein Strom der Güte! Jede deiner Guttaten auf Erden haucht Verzeihung in diesen Ort der Strafe: und gabst du nur einem darbenden Vöglein ein Reiskorn, so sättigt dies heute hier einen Hungernden. Doch deiner guten Taten und Worte sind mehr als Sterne am Himmel! Dein Anblick läßt die Gequälten ihre Martern vergessen, und deine Nähe heilt ihre Wunden!«

»Dann will ich hier bleiben!« rief Vipastschit, »denn nichts erhebt so sehr das Herz als trösten und helfen!«

»Komm, o König!« sprach der Yamabote, »deine Stunde ist um, und des Himmels Seligkeit wartet auf dich! – Laß jene erleiden, was sie verdient haben!«

»Nie noch habe ich Trostheischende verlassen!« sprach Vipastschit ernst. »Ich verachte den Mann, der nicht alles wagt, um Flehende zu helfen! Hart heiß' ich ihn vor Kindern und Greisen, schwach vor dem Mann und vor dem Weibe herzlos! – Wenn meine Nähe auch nur eine Träne trocknet, einen Schrei erstickt und eine Wunde heilt, so bleib' ich bis ans Ende aller Zeiten hier!«

»Sieh, o Herr!« rief der Todesbote, »deine Buße ist zu Ende, dort naht sich Yama, der Herr der Hölle, und Indra, der Herr des Himmels, um dich nach den Gefilden der Seligen zu geleiten!«

Die beiden Götter traten vor den guten König Vipastschit und luden ihn ein, ihnen in den lichten Himmel zu folgen.

Vipastschit verehrte die Unsterblichen in demütigem Gruße, dann hob er flehend die Hände und bat:

»Laßt mich hier, ihr Hüter der Welt, wo Tausende und Abertausende leiden und von mir Linderung ihrer maßlosen Pein erflehen!«

»Sie haben die Strafen der Hölle verdient, wie du den Lohn des Himmels!« sprach Indra düster.

»Sind meine Taten so hohen Lohnes wert?« fragte Vipastschit.

»Sie waren es, eh' du hierher kamst, doch um dein Erbarmen mit diesen, bleibt selbst alle Herrlichkeit des Himmels noch tief in deiner Schuld, du Guter!« erwiderte Yama, der Totenrichter, bewegt. »Weit ist deine weise Güte, wie das Meer und höher als der Himawat. Ihrer Früchte sind mehr als Sandkörner in der Ganga breitem Bett, und sie speisen Götter und Menschen bis ans Ende der Zeit!«

Da neigte sich der Gepriesene vor Yama und sprach:

»Hab' ich solche Gnadenschätze aufgehäuft in meinem Erdenwallen, so nimm sie hin, Richter der Lebendigen und der Toten! teile sie unter den Ärmsten der Armen, den Sündern, und laß die Gnadeheischenden ihrer Höllenpein ledig sein!«

»Sie sind es auf deine Bitte hin!« sprach Yama winkend.

Krachend sprangen die Pforten der Hölle auf, und laut jubelnd, den König der Gnade preisend, strömten die armen Sünder ins Freie.

Ein Blütenregen fiel vom Himmel, ein Wolkenwagen nahm Vipastschit und die Götter auf, und Indra rief jauchzend:

»Du Hort des Erbarmens sollst den besten Sitz in meinem Himmel haben!«

Dann ging die Fahrt aufwärts ins endlose Blau.


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